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Alexander von Wyttenbach:
Die Vernunft als Untertan des Unbewussten

Aphorismen
zur Einführung in das Thema


   Der Mensch gehört in der Tierwelt zur Art der Säugetiere. Wie alle Tiere hat er zwangsläufig biologische Bedürfnisse und ist im kol­lek­tiven Unbewußten mit angeborenen natürlichen In­stinkten, Ver­hal­tens­muster und Antrieben ausgestattet, die stam­mesgeschichtlich dem hohen Zweck der Arterhaltung dienen.

   Der Mensch unterscheidet sich von den Tieren aufgrund seiner Vernunft und seinen kognitiven Fähigkeiten und verfügt über das Bewußtsein. Er lebt im Spannungsfeld zwischen kollektivem Un­terbewußtsein und Vernunft, er ist ein bipolares Wesen. Das Be­wußtsein des Todes ist die Ursache seiner Urangst.

   Die verschiedenen arterhaltenden Instinkte wie Sexualinstinkt, Ag­gres­sions­trieb, Xenophobie und Tötungsinstinkt leiten mensch­liches Verhalten. In der Gemeinschaft spielt das angeborene Grup­penverhalten mit einem Leittier und dem Anpassungsdruck auf die Mitglieder der Gruppe als natürliche Über­lebens­stra­tegie eine wichtige Rolle zur Linderung der Urangst.

   Das kollektive Unbewußte ist der Vernunft nicht direkt zugäng­lich und nur empirisch durch seine Wirkung zu beobachten. Die natürlichen Instinkte sind ethisch neutral, sie können beherrscht, je­doch nicht gezähmt werden.

   Der Mensch ist in seinem Unbewußten lernfähig; die Evolution der Mensch­heit ist das Resultat eines Lernprozesses, der zwischen Instinkt und Vernunft stattfindet; die Vernunft ist das Werkzeug, das diesen Lernprozeß ermöglicht. Die Bildung von ethischen Nor­men ist das Resultat dieses von der Vernunft geleiteten evolution­ären Lernprozesses.

   Der Lernprozeß ist von den äußeren Anreizen abhängig, die le­benslang die anatomische Entwicklung des Gehirnes prägen — die sogenannte Plastizität des Gehirnes – und beginnt früh nach der Ge­burt.

   Die enge Beziehung zur Mutter und die Erfahrung der Liebe in einer na­tür­li­chen Familie in den ersten Lebensjahren sind entschei­dend für die Ent­wick­lung des Selbstwertgefühls des Menschen. Die Jugendgewalt und Drogen sind das Resultat eines fehlenden Urerlebnisses der Liebe und Zuwendung im ersten Lebensab­schnitt.

   Das angeborene Gruppenverhalten (der Herdentrieb) kann zu so­zial po­si­ti­vem Verhalten in der Gesellschaft verhelfen (Konfuzi­us), kann aber auch zu Fehlentwicklungen führen. Revolutionsfüh­rer und Diktatoren bauen ihren Er­folg mit ihren Mitläufern auf die­ses Verhalten auf und können, wie Kom­mu­nis­mus, Nationalsozialis­mus und andere Ideologien zeigen, erlernte ethische Nor­men ge­gen die Vernunft außer Kraft setzen — eine Regression ins Tieri­sche ist im­mer möglich.

   Im Namen der christlichen Religion der Liebe wurden in der Ge­schichte die schlimmsten Verbrechen gerechtfertigt. Nur Men­schen mit gesundem Selbst­wert­gefühl — die „Individuation“ von C.G. Jung — können gegen die Re­gres­sion der Gesellschaft ins Tie­rische kämpfen und dagegen resistent sein. Po­li­tische Dissidenten geben ein Zeugnis davon.

   Die Ideologien sind der erfolglose Versuch der Vernunft, das un­bewußte Verhalten mit dem Verstand zu ändern. Eine Verbesse­rung des menschlichen Schicksals kann nicht von der Vernunft oder der Politik erzwungen werden, sondern ist nur dank des lang­wierigen Lernprozesses im Wissen der mensch­li­chen Bipolarität möglich.

   Menschliches Verhalten wird entscheidend von den von C.G. Jung de­fi­nier­ten unbewußten Archetypen des kollektiven Unbe­wußten beeinflußt. So ist die Bewegung der Grünen die Artikulie­rung des Mythos des verlorenen Pa­ra­die­ses, die Antinuklearbewe­gung die des Prometheischen Bestrafungsmythos. Der Heldenmy­thos ist die Projektion und Identifikation des Menschen mit sei­nen Idealen. Diese Archetypen sind in allen Religionen zu erken­nen.

   Die Religion und die Schöpfungen der Kunst sind ein Mittel des bewußten Menschen, sich mit seinem Unbewußten und von der Vernunft nicht faßbaren Transzendenten auseinanderzusetzen und es darzustellen, um das Span­nungs­feld zwischen Vernunft und Un­terbewußtsein zu überbrücken; sie lindern die Urangst. Religi­on und Kunst sind ein Urbedürfnis des Menschen.

   Das Studium der Geschichte und der Kulturen der Vergangen­heit — die hu­ma­nis­tische Bildung im weiteren Sinn — dient dem menschlichen Unbewußten als unersetzliche kulturelle Orientie­rung. Die heutige berufsorientierte, uti­li­ta­ris­tische Schulbildung, die sich schwerpunktmäßig am Rationalen und Nütz­lichen orien­tiert, vergißt den „Nutzen des Unnützen“ und ist ein Grund für die Orientierungslosigkeit in der zeitgenössischen Gesellschaft.

   Entscheidend für das Verhalten der Menschen ist das Naturge­setz des an­ge­bo­renen, spontanen Energiezyklus. Beim Menschen wie bei den Tieren, bauen sich spontane Energiepotentiale auf, die der Arterhaltung dienen: Ein Nah­rungs­bedarf ist mit Unlustgefühl ver­bunden, es folgt die natürliche An­stren­gung der Nahrungssu­che; das Erreichen des Ziels (zum Beispiel die Nahrung) ist mit Lust ver­bunden. Die Endhandlung (die Nahrungsaufnahme) löst das Po­tential auf, es folgt eine Entspannung. Dieser Zyklus wiederholt sich immer wieder.

   Die Möglichkeit des Menschen, den spontanen Energiezyklus frei ausleben zu können und im weiten Sinne kreativ zu sein, ist der Schlüssel zu einem ver­hal­tens­biologisch ausgeglichenem, glückli­chen Leben.

   Der angeborene spontane Energiezyklus erklärt den im My­thos des Odysseus dargestellten unbewußten Drang des Menschen nach immer neuen Ufern. Da er dem Verstand nicht zugänglich ist, kann er ins Maßlose führen.

   Die Möglichkeit das Lustgefühl des Erfolgserlebnisses im Ener­giezyklus mit immer geringerer Anstrengung zur erreichen, führt zur verhaltensbiologischen Verwöhnung, die als „Sucht“ unweiger­lich in persönliche, aber auch in soziale und wirtschaftliche Krisen der Gesellschaft mündet. Krisen und Kriege sind im Menschen vorprogrammiert.

   Energiezyklus und Verwöhnung erklären den unaufhaltsamen Ausbau des Ver­sor­gungs­staates und steigende Staatsausgaben ge­nauso wie die Maßlosigkeit in der Wirtschaft und der Finanzwelt. Die Notwendigkeit des Wirt­schafts­wachs­tums zur Sicherung des Wohl­standes ist zum Dogma geworden. Ver­nünf­ti­ges Maßhalten kolli­diert mit dem Trieb des unbewußten Energiezyklus.

   Die demokratische, offene Gesellschaft ist der größte Schritt in der Evo­lu­tion der Menschheit, sie bietet für den unbewußten Lern­prozeß ein günstiges Umfeld und ermöglicht natürliche Konflikte mit den von der Vernunft ge­schaf­fenen Regeln unblutig zu lösen und erlaubt dem Menschen seine unbewußten Triebe friedlich in einer Zivilgesellschaft zu auszuleben.

   Das Tierische und das Menschliche, Licht und Schatten, Sein und Schein bilden ein Spannungsfeld, das nicht aufgelöst werden kann. Eine Welt in Frie­den ohne Kriege, Kriminalität, Folter und Unge­rechtigkeit wird es nie geben. Weltverbesserer, die das Para­dies auf Erden bringen wollen, bringen die Hölle. Realistisch anzu­streben und erreichbar ist nur ein der Vernunft gehorchendes Gleichge­wicht im Spannungsfeld zwischen Vernunft und Unbe­wußtem des Menschen.


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Alexander von Wytten­bach: Die Ver­nunft als Unter­tan des Un­bewuss­ten. Be­trach­tungen, her­aus­gegeben und mit einem Ge­leit­wort ver­sehen von Peter A. Rinck.
135 Seiten; €14,90 [DE]
BoD Norderstedt.
ISBN 978-3-7357-4122-6


Inhalt

Vorstellung

Geleitwort
Vorwort

Aphorismen

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14

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