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Peter A. Rinck: Klimatische Kurorte • Abschnitt 5

Lugano

Lugano war und ist auch heute noch der herausragende und bekannteste Kur­ort in der ita­li­e­ni­schen Schweiz. Er liegt an der Westseite, an der brei­tes­ten Stelle des Luganer Sees.

Im neunzehnten Jahrhundert stand Lugano lange im Schatten der Kurorte am Genfer See. Der große Aufschwung für Lugano und die anderen Kurorte in der Süd­schweiz und in Ober­ita­lien kam mit dem deutsch-französischen Krieg 1870/71, als sich die deutschen Kurgäste plötz­lich gezwungen sahen, die Orte an der französischen Riviera und in den Basses Pyrénées zu meiden und sich nach neuen Möglichkeiten zur Erholung umzusehen.

Die Deutschen zogen daraufhin in erster Linie nach Italien und zu den an der Adriaküste ge­le­ge­nen Kli­ma­sta­ti­o­nen Österreich-Ungarns, kamen aber auch in größerem Maße als zuvor in die Schweiz.

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Abbildung 13a:
Lugano mit Monte Bré. Aquarellierte Zeichnung von Emanuel Labhardt, 1849.

Figure13b

Abbildung 13b:
Blick auf Lugano vom See.

So war Lugano 1874 zwar als klimatischer Kurort schon anerkannt, aber der deutsche Arzt Dr. Lin­de­mann, der Lugano in den siebziger Jahren mehr­mals besucht hatte, schrieb noch in diesem Jahr über den Ort:

»… jedoch ist … wenig auf Kranke Rücksicht genommen, so dass … wir allen Kranken … an­ra­then müssen, Montreux-Vevey anstatt Lugano zu wählen, weil dort den Be­dürf­nis­sen mehr Rechnung getragen wird.«

Auch Klencke war dieser Meinung. Für ihn war Lugano im Oktober durch die Anwesenheit von Touristen, die nicht zu Kurzwecken gekommen waren, noch zu geräuschvoll für Kranke. Er schlug ihnen vor, sich während dieser Zeit zu ei­nem vorübergehenden Aufenthalt in die stil­le­ren Gasthöfe von Ca­de­nab­bia am Comer See zu begeben.

Die Kurzeiten waren in diesen Jahren noch sehr beschränkt. Lindemann um­riss die Jah­res­zei­ten, zu denen er eine Kur in Lugano für gerechtfertigt und durch­führbar hielt, fol­gen­der­ma­ßen:

»Lugano eignet sich besonders zum Herbstaufenthalt und man ist ziem­lich sicher bis An­fang (seltener Mitte) November gutes Wetter an­zu­tref­fen; von No­vember bis Ende April hält der Verfasser jedoch den Aufenthalt daselbst für Brustkranke nicht für zweck­mäs­sig, um so weniger als von Lugano aus andere südlichere Curorte schnell und bequem zu erreichen sind; der April, namentlich die letzte Aprilhälf­te kann sehr schön sein, ferner empfiehlt sich Lugano als Über­gangs­sta­tion für aus Italien zurückkehrende Curgäste, je­doch (mit einiger Bestimmtheit) erst für den Monat Mai.«

Im Jahre 1880 ging Peters einen Schritt weiter. Nach seiner Auffassung sei ein klimatischer Au­fent­halt in Lugano nicht nur zu gewissen Monaten, son­dern das ganze Jahr über möglich. Der Kranke könne sich allerdings nicht immer im Freien aufhalten; die hierzu geeigneten Monate seien lediglich April, Mai und Juni und die Zeit zwischen Mitte August und Ende Oktober.

Klimatabelle Lugano

Monat I II III
September 17,0 17,4 17,9
Oktober 11,5 12,5 13,2
November 6,2 6,9 8,4
Dezember 2,5 3,1 4,6
Januar 1,4 1,9 3,8
Februar 3,4 3,6 5,0
März 6,9 7,5 8,9
April 11,3 11,7 12,3
Mai 15,2 15,4 16,3

Klimatabelle 1:
Angaben der mittleren Temperaturwerte in Grad Celsius: I. Kornmann 1924 (neunundvierzigjähriges Mittel 1864-1913); II. Ambrosetti 1971 (neunundvierzigjähriges Mittel 1931-1960); III. Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie MeteoSchweiz. Klimanormwerte für Lugano. Normperiode 1991–2020. Hinweis: »Mittlere Temperaturwerte« und »Klimanormwerte« sind nicht notwendigerweise direkt vergleichbar (mehr im letzten Kapitel »Schlussbemerkungen«).


Figure14

Abbildung 14:
Anzeigen aus Kornmanns Buch über Lugano als heilklimatischer Kurort („Das Klima Lu­ga­nos“). 1924.

Zu den Fragen, welche Faktoren des Luganeser Klimas genau sich positiv auf die Gesundheit eines Patienten auswirkten und warum diese Faktoren auf die­se Weise zum Tragen kamen, gab kaum ein Autor ein ausreichend de­tail­lie­rte Auskunft. Alle verwiesen auf unscharf de­fi­nier­te Fak­to­ren wie Luftwärme, Luft­feuchtigkeit, Niederschläge, Bewölkung, Sonnenschein und ähnliches, aber einen direkten Zusammenhang zwischen diesen Kom­po­nen­ten und dem Woh­lbe­fin­den eines Patienten zeigte keiner der Verfasser auf.

August Feierabend verwies auf die »herrliche und grossartige Natur«, die Brust­kranken, die eines milden Klimas bedürften, besonders gut bekäme.

Lippert führte die positiven Auswirkungen einer Kur in Lugano darauf zu­rück, dass der Ozon­ge­halt der Luft niedrig sei. Dies erkläre den be­ru­hi­gen­den Einfluß des dortigen Auf­ent­hal­tes auf den überreizten Organismus. Heute hat Lugano in den Sommermonaten oftmals die höchsten Ozonwerte der gesamten Schweiz, weit oberhalb des oberen Grenzwertes.

Als spezielle Indikationen für Lugano beschrieb Peters unter Berufung auf eine Broschüre von Cornils über den Ort und den Luganer See folgende Leiden:

»Für chron. Catarrhe der Respirationsorgane im Frühjahr, Sommer und Herbst. — Für allgemeine Ernährungsstörungen und Reconvalescenz nach acuten Krankheiten das gan­ze Jahr hindurch. — Für chron. Au­gen­ent­zün­dun­gen, da in Lugano (in Folge der Ort auch nach den südlichen Richtungen im unmittelbarer Nähe um­gebende Berge) niemals blen­den­des Licht vorhanden ist.«

Reimer zitierte ein Jahr darauf Cornils direkt, ohne dessen Heilanzeigen weite­re aus eigener Anschauung hinzuzufügen:

»Cornils hält den Aufenthalt in Lugano angezeigt, als Übergangsstation für Pati­enten mit Katarrhen und chronischen Entzündungsprocessen der Athmungsor­gane und als Vor­beu­gungs­mit­tel für Brustschwache, ferner wegendes calmirenden Einflusses des Klimas für Nervenkranke, und er empfiehlt Lugano ganz besonders Augenkranken, da das Auge über­all auf grüne Flächen treffe und die Oberfläche des Sees nicht Blen­dendes habe.«

Cornils Idee von Lugano als Erholungsort für Augenkranke fand sich noch eine Weile in der Li­te­ra­tur. Reimer umging geschickt die Begründung, warum sich der Luganer See für die Be­hand­lung von Augenentzündungen eignen solle und besonders durch die Berge geschützt sei, der Comer See und der Lago Mag­giore jedoch nicht, indem er Cornils zitierte.

Später fehlte diese Heilanzeige in der Indikationsliste, obwohl sie auch heute noch nach der ophtalmologischen Lehrmeinung denkbar ist. 1910 las man in den offiziellen In­di­ka­tio­nen, die im Bäder-Almanach verzeichnet waren:

»Es [i.e. Lugano] eignet sich besonders zur Kräftigung zarter Kon­sti­tu­tio­nen im ju­gend­li­chen Alter, für Rekonvaleszenten und Er­ho­lungs­be­dürf­tige, wirkt ausseror­dentlich günstig bei Krankheiten der Re­spi­ra­tions­or­ga­ne (Bronchitis, chroni­sche Pneumonie, Asthma, Emphysem, Pleuritis exsud., chron. Hämoptoe), Ra­chenund Kehlkopfkatarrh, bei Herz, chronischen Nieren-, Nerven(Neurasthe­nie), Verdauungs- und Kon­sti­tu­tions­krank­hei­ten (Chlorose und Anämie), bei Frauen­krank­hei­ten usw.«

Hier war die Lungentuberkulose unter den Indikationen bereits weit zu­rück­ge­­drängt. Für Lu­ga­no wird sie zwar nicht als Kontraindikation auf­ge­führt wie für andere Orte im Ober­ita­li­e­ni­schen Seengebiet, aber zumindest an offener Lun­gentuberkulose Erkrankte wurden auch hier rasch aus dem Ort verbannt; eben­so war die geschlossene Form der Tuberkulose nicht gern gesehen.

Die Behandlung der Lungentuberkulose beschränkte sich im Laufe der Jahre auf die ober­halb Luganos gelegenen Sanatorien Agra und Ambri-Piotta.


Figure15

Abbildung 15:
Plakate für die Gotthardeisenbahn, 1925 und 1935.

Die interessantesten Ausführungen zur Frage der Indikationen und Kon­tra­in­di­­ka­tionen für Lu­ga­no veröffentlichte 1924 Kornmann in seinem Buch über das Klima Luganos.

Er diskutierte darin alle das Klima und die medizinische Klimatologie be­tref­fen­­den Punkte und behandelte im ersten Abschnitt alle Fragen des Klimas von Lu­gano, während er im zweiten Abschnitt die ärzt­li­chen In­di­ka­tio­nen und Kon­­tra­in­di­ka­tio­nen des Ortes genau un­ter­such­te. Hierzu konnte er auf 860 rein kli­matische behandelte Fälle zurückgreifen, die er im Laufe von dreieinhalb Jah­ren behandelt hatte. Abschließend faßte er folgende ärztlichen klimatischen In­dikationen und Kontraindikationen zusammen:

1. allgemein; der Herbst-Winter ist gegenüber dem Nervensystem im ganzen reizmild, bietet mehr Schonungscharakter, das Frühjahr reiz­kräf­ti­ger, weist mehr Übungs­cha­rak­ter auf. Gegenüber der Zirkulation und Wärmeregulation ist aber auch der Winter an­spruchs­voll und er­re­gend, stimulierend, reizkräftig. Allen schweren, nervösen psycho­neu­ro­ti­schen Störungen und allen schwe­ren nervösen Erregungszuständen ist in erster Linie der Winter, dann der Herbst, nicht aber das Frühjahr zu verordnen. Allen schwe­ren nervösen Erschlaffungs­zuständen ist in erster Linie der Herbst, dann der Win­ter zu­träg­lich. Leicht ner­vöse Er­schlaf­fungs­zu­stände haben auch von dem Übungs­cha­rak­ter des Früh­jahrs Vorteil, schweren ist das Frühjahr zu widerra­ten.

Für die Zirkulationskrankheiten im allgemeinen sind in mittelschweren Fällen Herbst und Winter sehr angezeigt, in schweren Fällen, mit schlech­tem Puls und stark ge­sun­ke­nem Blutdruck, mehr nur der Herbst. Für die leichteren und mittleren Fälle, mit guter Re­ak­tions­fähig­keit der Zirkulation, kann auch aus dem Übungscharakter des Frühjahrs bis Ende April ein therapeutisch wirksamer Faktor gemacht werden.

Für die leichten und mittelschweren Anämien, die einem gesteigerten Wärmeanspruch ent­spre­chen können, sind Herbst, Winter und Frühjahr angezeigt. Für schwere Anämien mit alternierter Zirkulati­on ist wegen seiner ‚Abkühlungsgröße‘ der Winter nur mit Vor­sicht indiziert, das Früh­jahr wegen seiner Reizstärke kontraindiziert.

Für Menschen ausgesprochen zyklothymen Charakters ist der Winter mit sei­ner Milde, Himmelsheiterkeit und Wetterkonstanz ein Jung­brun­nen, das Frühjahr nur mit Vorsicht zu verordnen, das Spätfrühjahr kon­tra­in­di­ziert …

Im zweiten, speziellen Teil der Zu­sammenfassung seiner In­di­ka­ti­onen und Kontraindikationen legte Kornmann rund drei Dutzend Krankheiten und Krankheitsbilder vor, die in der Praxis am Ort behandelt worden waren, und für die somit empirisch festgestellt war, ob sie sich in Lu­ga­no behandeln ließen oder ob dies nicht möglich war. Diese Heil­an­zei­gen haben sich bis heute nur noch wenig verändert, die meisten sind gleich geblieben. So lauteten die In­di­ka­tio­nen für Lugano nach dem Kleinen Klimabuch der Schweiz der Schweizerischen Vereinigung der Klimakurorte aus dem Jahre 1961:

»Schlecht kompensierte Herzschäden, erschwerte Wär­me­re­gu­la­tion. Chronische Bron­chi­tis; Emphysem. Chronische Nierenerkrankungen. Nervöse Störungen. Re­kon­va­les­zen­ten, insbesondere äl­tere Personen.«

Mit der Festlegung der spezifische Indikationen für Lugano wandelte sich der Ort von dem bei Lindemann beschriebenen Übergangsort in einen Kur­ort, der das ganze Jahr über besucht wurde, mit Ausnahme der Hoch­som­mer­mo­na­te Juli und August, während derer sich die Kur­gäs­te, sofern sie in der Nähe Luga­nos bleiben wollte, auf die Höhen das Monte Generoso zu­rück­zie­hen konnten.

Der Monte Generoso ist einer der höchsten Berge in der Umgebung und über­­schaut den Lu­ga­ner See bis weit über Lugano hinaus. Er bietet eine der groß­artigsten Aussichten auf die Süd­seite der Alpen. Hier ist auf einer Höhe zwi­schen 1000 und 1700 Metern ein angenehmer Sommeraufenthalt auch dann noch möglich, wenn die Temperaturen in Lugano längst über die Dreißig­grad­­marke geklettert sind.


Figure16

Abbildung 16:
Poster mit Fahrplänen der Zahnradbahn zum Monte Generoso.

Für den Monte Generoso war Mendrisio mit seiner Eisenbahnstation der Aus­­gangs- und Ak­kli­ma­ti­sa­tions­punkt. Wie so häufig auf klimatologischem Neuland waren auch hier die Eng­län­der die ersten gewesen, die die heißen Sommermonate auf der Höhe über Lu­ga­no ver­brach­ten. Später folgten dann die Deutschen. Von Mendrisio aus stieg ein gepflasterter Reitweg bis auf die Hälfte des Ber­ges hinauf. Auf einer freien Bergstraße mit Aussicht auf die lom­bar­di­sche Ebene lag in 1200 Meter Höhe das Hôtel de Generoso, das Dr. Pasta aus Mendrisio 1867 hatte errichten lassen. Lippert bemerkte zu diesem Hotel:

»Die innere Einrichtung des Hôtel Generoso ist zwar einfach, aber doch den Be­dürf­nis­sen längeren Aufenthalts entsprechend und die Pensionspreise mässig.«

Mit der 1890 eröffneten Zahnradbahn von Capalago am See auf den Monte Generoso hinauf be­kam das Hotel einen An­schluß an die Gott­hard-Eisen­bahn­linie und war von der Zahn­rad­bahn­sta­tion Bel­la­vis­ta aus viel schneller und bequemer als vorher zu erreichen.

Die Anziehungskraft Luganos lag nicht nur in seinem Klima, sondern auch dar­in, dass es — obgleich politisch zur Schweiz gehörig — einen durchaus italienischen Charakter im Stadtbild und im Verhalten und Wesen seiner Bewohner zur Schau stellte; dies prägt die Stadt auch heute noch weit mehr, als das eher an deutsch oder welschschwei­zer Städte erinnernde Lo­car­no.

»Land und Leute, Vegetation, Sprache, Sitte und Gewohnheit, Alles lässt uns keinen Au­gen­blick darüber im Zweifel, dass wir uns schon jenseits der Alpen befinden. Dass sich mit diesen südlichen, den Nord­länder oft angenehm berührenden Eindrücken der Vor­zug eines mit deutscher Reinlichkeit und Solidität gehaltenen Gasthauses verbindet, macht die enorme Zahl der Touristen erklärlich, die Lugano im Herbste berühren.«

Von diesen Kurgäste begannen recht bald einige, ihren Aufenthalt in Lugano bis in den Winter hin­ein zu verlängern, und legten damit den Grundstock für die Winterstation Lugano. Der Aus­bau der Ortes paßte sich diesem Auf­schwung an. Deutsche und Deutschschweizer in­ves­tier­ten in den Bau und die Re­no­vie­rung von Hotels und Pensionen und die damit verbundene Er­wei­te­rung von städtischen Einrichtun­gen.

Während es im Jahre 1880 in der Broschüre von Peters noch hieß:

»Die Fahrstrassen sind gut angelegt und fast ganz staubfrei,«

und lediglich die Hotels Beau Séjour und du Parc mit frischem Quellwasser ver­sorgt waren, konnte man in Bäder-Almanach 1910 bereits lesen:

»Die Stadt hat kürzlich eine grossartige elektrische Kraftanlage er­stel­len las­sen, die aus dem Verzascatal kommt und die am Abend die Stadt von Casta­gnola bis Paradiso er­leuch­tet. Seit Jahren schon er­frischt rei­nes und reichli­ches Trinkwasser die Stadt.«

Für die Kurgäste und Touristen, aber auch für die Badeärzte im In-und Ausland machte sich der Aufschwung am meisten bei der Errichtung und dem Ausbau der großen Hotels be­merk­bar, denn dies wurde mit Anzeigen und Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften in alle Welt hinaus getragen.

Berühmte Besucher stellten sich nun in Lugano ein. In einem der kleinen Ho­tels, dem Hôtel Suisse, stiegen bereits 1815 das französische Enfant terrible Madame de Stael und im April 1838 der Komponist und Pianist Franz Liszt und die Komtesse Marie d’Angoult ab; diese bei­den hielten sich allerdings nur kurze Zeit hier auf und zogen dann in eine Villa in Castag­nola um.

Den Grundstock und frühen Hauptanziehungspunkt bildete für die Reisenden das direkt am See gelegene Hotel Palace. Die Basis für das spätere Hotel be­­stand aus einem ehemaligen Franziskanerkloster, das 1848 in eine Unter­kunft für italienische Verbannte und drei Jahre später in ein Hotel um­ge­wan­delt wur­de. Nach einem weiteren Umbau für eine Million Franken taten sich 1855 die Tore des Hotels unter dem Namen Hôtel de Parc als größtes und luxuriöses­tes Hotel am Platz auf.

Es besaß drei Dependancen, Belvedere (Bellevue), Villa Ceresio und Villa Beau Séjour; die Villa Beau Séjour war auch auf Wintergäste vorbereitet, wäh­rend die übrigen Häuser im Win­ter noch geschlossen blieben. Sie hatte hölzer­ne Fußböden — im Gegensatz zu den Stein­plat­ten­fuß­bö­den, die meist in dieser Gegend anzutreffen waren —, Öfen und Kamine, auf den Korridoren Lufthei­zung, und wie Reimer schrieb,

»gutes Quell­wasser bis in die oberen Stockwerke, im Lesezimmer Kölnische und Kreuz-Zei­tung.«

Nach der Vergrößerung des Hotels auf ein Fas­sungsvermögen von 250 Gästen wurde sein Name zuerst auf Grand Hôtel, später auf Hôtel Palace umgeändert. Unter diesem Namen wurde es bis zu seiner Schließung wegen Unwirtschaftlichkeit im Jahre 1969 geführt.

Eine literarische Beschreibung des Hotels lieferte nach dem Ersten Welt­krieg Hermann Hes­se in seinem Winterbrief aus dem Süden:

»Also ich kam in das große Hotel. Es war herrlich … Ich sah gut aus und wurde tat­säch­lich vom Portier ohne Schwie­rig­kei­ten eingelassen. Durch gläserne lautlose Flügeltüren floß man sanft in eine riesige Halle wie in eine lu­xu­ri­öses Aquarium. Da standen tiefe, ern­ste Sessel aus Leder und Samt, und der ganze rie­si­ge Raum war ge­heizt, wohlig warm geheizt, man trat in eine Atmosphäre wie einst im Galle Face auf Ceylon. In den Ses­seln da und dort saßen gut­ge­klei­dete Schieber mit ih­ren Gattinnen. Was taten sie? Sie erhiel­ten die eu­ro­pä­ische Kultur aufrecht. In der Tat, hier war sie noch vorhanden, die­se zer­störte, vielbeweinte Kultur mit Klubsesseln, Im­port­zi­gar­ren, un­te­rwür­fi­­gen Kell­nern, überheizten Räumen, Palmen, gebügelten Ho­sen­fal­ten, Nackenschei­teln, so­gar Monokeln …«

Zu seinen berühmten Gästen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die sich in diesem Hotel bald ein Stelldichein gaben, zählten die Schriftstellerin Dora d’Istria (1856), die Kaiserin Eu­ge­nie von Frankreich, die Königin Au­gu­sta von Preußen, die Kaiserin Elisabeth von Öster­reich und viele an­de­re aus Politik und Kultur. Noch als Hôtel du Parc bot das Haus 1875 eine voll­stän­di­ge Pensi­on von fünfeinhalb Franken aufwärts an, 1881 betrugen die Preise nach den Angaben von Reimer bereits achteinhalb bis neun Franken, für die größten Räume sogar bis zu zehn Franken; in der Zeit zwischen dem 1. No­vem­ber und dem 31. März lagen die Prei­se niedriger, je nach der Größe des Zimmers zwi­schen sechs und siebeneinhalb Franken. 1891 waren die Preise um etwa zehn Prozent gestiegen, und 1905 war eine Pension erst von zwölf Franken aufwärts zu erhalten.

Als weitere Hotels standen den Kurgästen in Lugano das Hotel Washington und das Hotel Lugano zur Verfügung. Das Hotel Washington beschrieb Klen­cke als ein viereckiges, unruhiges Haus, das gleichzeitig als Hotel, Regie­rungsgebäude, Post und Telegraphenstation Dienst leis­te­te. Das Hotel Lugano besaß einen eigenen Garten und ein Restaurant, das neben den Res­tau­rants Biaggi und Trattoria Americana eine Zeitlang die einzige frei zugängliche Gaststätte am Ort bildete. Wichtig für die deutschen Besucher Luganos scheinen die Bierhäuser gewe­sen zu sein, die Baedeker in seinen Handbüchern für Reisende ausführlich er­wähnte. 1905 wurden in Lugano neben dem einheimischen Bier in drei »Bier­restaurants« Basler und Münch­ner Bier aus­ge­schenkt.

1886 wurde ein weiteres Nobelhotel in Lugano eröffnet. Es war das Hotel Splendide Royal an der Straße nach Paradiso mit 120 Betten, das der ehe­malige Leiter des Hotel Bellevue in Cadennabia am Comer See, Antonio Fede­le, hatte errichten lassen. Auch dieses Hotel beherbergte viele illustre Gäste, so den belgischen König Al­bert I., die rumänische Königin Maria, Aga Khan, den italienischen König Vitto­rio Emmanuele und den preußischen Prinzen Leopold.

Um 1910 wurden in Lugano 70 Hotels und Pensionen gezählt, und 1938 wies das Schwei­ze­ri­sche Medizinische Jahrbuch 55 Hotels mit insgesamt 3373 Bet­ten auf, dies ohne die an­gren­zen­den Ortsteile Castagnola und Paradiso.

Manche Kurgäste zogen es vor, nach Privatquartieren für ihre Un­ter­brin­gung zu suchen. Hier­von stand in Lugano nur eine geringe Anzahl zur Ver­fü­gung. Diese Privatwohnungen waren nach der Ansicht von Peters »nicht be­son­ders eingerichtet«, weswegen die meisten Touristen und Kurgäste ihnen die Hotels vorzogen. In der unmittelbaren Umgebung der Stadt waren ei­ni­ge Landhäuser ganz oder teilweise zu einem niedrigen Zins zu mieten. Ein Zimmer kostete hier ungefähr 50 Franken pro Monat. Etwa eine Wegstunde außerhalb der Stadt in Sa­rag­no lag die deutsch­schwei­­ze­ri­sche Pension Plattner; des Ehepaar Plattner vermietete Zimmer bei Voll­pension für vier bis fünf Franken am Tag.

Die Zahl der Hotels nahm in den neunziger Jahren und nach der Jahr­hun­dert­­wende sprung­haft zu. Während Karl Baedeker in seinem Reise­hand­buch von 1891 den Hotels und Pensionen in Lugano nur einen einzigen Absatz widmete, mußte er 1905 bereits eine ganze Buchseite in Dünndruck den Übernachtungs­möglichkeiten von Lugano einräumen.

Die ärztliche Versorgung in Lugano entsprach in den sechziger und siebziger Jahren des neun­zehn­ten Jahrhunderts nicht dem Niveau, das Lugano als Kur­ort anstrebte. Zu einem Kur­ort — sei es ein Badekurort oder ein kli­ma­ti­scher — gehören unabdingbar Kur- und Badeärzte. Zumeist wurden sie in der großen Zeit der Grand Hôtels von den Hotels als selbst­ver­ständ­li­che Dienst­leistung für ihre Gäste unterhalten, oder sie waren besonders nach der Jahr­hun­dert­wende als frei praktizierende Ärzte während der Saison oder das ganze Jahr über am Ort tätig.

In Lugano fehlte lange Zeit ein Kurarzt, was Lippert zum Beispiel 1876 noch bedauernd fest­stel­len mußte. Nicht einmal das Hôtel du Parc, das in seiner Einrichtung und Ausrichtung zum Kurhotel vorbildlich war und als »zwei­fels­ohne der reizendste Aufenthaltsort der südlichen Schweiz« galt, bot seinen Gästen einen eigenen Kurarzt. Erst 1878 begann der deutsche Arzt Dr. Cornils in Lugano zu praktizieren, und 1880 verzeichnete Peters neben ihm zehn italienische Ärzte am Ort, von denen einer auch der französischen Sprache mächtig war.

1891 konnte Baedeker bereits auf zwei deutsche Ärzte, Dr. Cornils und Dr. Zbinden und außerdem auf drei deutschsprechende Ärzte und einen ame­ri­ka­­ni­schen Zahnarzt verweisen, vierzehn Jahre später auf vier deutsche Ärzte, so dass zumindest für die Kurgäste und Frem­den die medizinische Versorgung gewährleistet war.

Der Stand der Kurärzte gegenüber den Kurdirektoren und den Ho­tel­lei­tun­gen war oftmals nicht sehr gut, denn ihr Ansehen war, verglichen mit den übrigen Ärzten, schlecht. Neer­gaard zitierte in seiner im Zweiten Welt­krieg geschriebe­nen Abhandlung »Der me­di­zi­ni­sche Ausbau der schwei­ze­ri­schen Kurorte« Mory aus dem Jahre 1913, der damals sagte:

»Was sagen Sie z.B. dazu, wenn verdiente Kurärzte, einfach wie eine Concierge oder ein Ober­kell­ner den Laufpaß erhalten? … Es gibt An­stal­ten, die Ärzte verbrauchen, wie der deut­sche Reichskanzler Mini­ster.«

Wenn es der Gesundheitszustand der Kranken zuließ, konnten sie — meist in den späten Nach­mit­tags­stun­den oder am Abend — am Ufer des Luganer Sees entlang spazierengehen. Hier erstreckte sich ein breiter, baumbepflanzter Quai. Als Kurmittel standen den Er­ho­lungs­su­chen­den in Lugano neben den ob­ligaten Spazierwegen und Promenaden am Seeufer einige Zellen für war­me Bäder im Hôtel du Parc zu Verfügung. In den Sommermonaten exi­stier­te auch »ein Etablissement für warme Bäder« in der Nähe des Hotel Bellevue am Ende der Seepromenade und ein Badehaus für Bäder im See.

Außerdem konnten zwei Eisenquellen, die allerdings nicht gut eingefaßt waren, zu Kur­zwe­cken genutzt werden. Sportmöglichkeiten scheinen in diesen Jahren noch keine bestanden zu haben, zumal das Sporttreiben noch nicht zum guten Ton gehörte und als medizinisches Mit­tel noch nicht weit verbreitet war. Dreißig Jahre später war auch hier der große Sprung vor­wärts gelungen. Die Kurgäste hatten nun die Gelegenheit, Golf, Tennis und Fußball zu spie­len oder auf dem See zu rudern.

Zerstreuung und Unterhaltung fanden die Fremden im Stadttheater Teatro Apollo, wo im Som­mer Konzerte und Varieté-Programme, im Winter zeit­wei­lig Opern und Schauspiele auf­ge­führt wurden. An Sonn­tag­nach­mit­tagen wurden Konzerte in der Villa von Dervis gegeben. 1910 stand in dem inzwischen errichteten Kurhaus hierfür ein eigener Konzert­saal zur Ver­fü­gung, in dem täglich »Vokal-und In­stru­men­tal­kon­zerte« Ope­ret­ten- und Varieté­ver­an­stal­tungen abliefen. Außerdem besaßen mehrere Hotels ihre eigenen Kurorchester. So gab es, wie Baedeker lapidar feststellte, im Hôtel de Parc »3mal täglich Musik«.

Als be­sondere Kurform bestand in Lugano im Herbst die Möglichkeit zu Traubenku­ren. Hier­bei war lediglich eine Übereinkunft mit den Wein­berg­be­sitz­ern in der Umgebung zu treffen, die die Trauben liefern sollten.

Diese Traubenkuren bestanden darin, daß der Patient bis zu zehn Pfund Trau­ben pro Tag als einzige Nahrung zu sich nahm. Da diese großen Mengen er­hebliche Nebenwirkungen außer der beabsichtigten abführenden und »reini­genden« Wirkung zeitigten, ging man später auf etwa drei Pfund pro Tag neben anderen Nahrungs­mitteln zurück. In den ersten zehn Tagen der Kur wurden die Einzelportionen langsam gesteigert, bis die vor­ge­schrie­bene Menge er­reicht war, dann hielt der Patient diese Quantität vierzehn Tage bis drei Wochen bei und ver­rin­ger­te an­schließend langsam die Por­ti­onen wieder. Zur Unterstützung der Verdauung wäh­rend der Kur sollten längere Spaziergänge unternommen werden.


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