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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Literatur • Kapitel 5

Holmes’ Nachfolger

Things were easier for the old novelists who saw people all of a piece.
Speaking generally, their heroes were good through and through, their villains wholly bad.

Für die alten Romanciers, die die Menschen in einem Stück sahen, war es einfacher.
Üblicherweise waren ihre Helden durch und durch gut, ihre Schurken vollkommen böse.

W. Somerset Maugham. A Writer's Notebook. 1949.


n der Zeit um die Jahrhundertwende blieb der Detek­tivroman fast ausschließ­lich auf den englischen Raum be­schränkt. Im deutschsprachigen Gebiet Mittel­europas fin­det sich bis heute kaum ein Romanschriftsteller, dessen De­tektiv mehr als nur mit­tel­mäßig zu nennen oder über die Grenzen des Landes bekannt geworden ist.

In Frankreich ist die Lage nur wenig anders. Nach Gaboriaus Mon­sieur Lecoq ver­zeichnet der Gentleman-Einbre­cher und spä­tere Detektiv Arsène Lupin zwar gewisse Er­fol­ge, doch bis zum Kommissar Maigret von Georges Simenon folgt hier kein über­ra­gen­der Detek­tiv mehr, während es im England des Viktorianischen Zeitalters und der darauf folgenden Epoche geradezu eine Schwemme von Detek­tiven in der Belletristik gibt.

London wird zu ihrem Mekka. Leider sind sie oft nur bil­lige Imitationen von Sherlock Holmes, mit mehr oder we­niger herausgestellten Eigenheiten. Man entdeckt hier einen blinden Detektiv, Max Carrados, den Polizeiarzt Eric Van­deleur, den Kri­mi­na­listen­berater Martin Hewitt, den namen­losen Logiker, der als der alte Mann in der Ecke (The Old Man in the Corner) bekannt wurde, und viele andere mehr. Als einzige sei an dieser Stelle eine Gestalt herausgegrif­fen, die die weitere Entwicklung ver­ständlich macht.

1907 publizierte der nach einem schweren Schwarzfieberanf­all (Leishmaniose) aus den Koloni­en zurückgekehrte Arzt Richard Austin Freeman (1862-1943) sein Buch The Red Thumb Mark — Der rote Daumenabdruck. Gleich auf der ersten Seite er­scheint sein Detektiv: Dr. John Thorndyke. Dieser und sein als Erzähler fungie­render Freund Dr. Jervis sind eng mit Holmes und Dr. Watson verwandt. Doyle gestal­tete Sher­lock Holmes nach seinem alten Lehrer, Freeman tat es eben­so. Doch während Holmes‘ Beruf als Pri­vat­de­tek­tiv meis­tens nicht wirklichkeitsnah ist — er lebt an­scheinend in einer zeit­lo­sen Märchenwelt — so ist Thorn­dyke als Facharzt und fachärztlicher Berater der Londo­ner Polizei realer, obwohl man ihn immer noch als fiktive Gestalt erkennen kann.

Noch ein weiterer Unterschied besteht: S­herlock Holmes war er­mittelnder und agie­ren­der Detektiv zugleich. Er hatte ein — wenn auch ober­­flächliches — Studiu­m der Medi­zin und der Naturwissenschaften hinter sich ge­bracht und besaß gewisse ana­ly­ti­sche Fähigkeiten, mit de­nen er den Hergang eines Verbrechens aufdecken konnte. Dazu kam bei ihm aber noch der eigene körperli­che Einsatz bei der Überfüh­rung eines Tä­ters. In vielen Fällen stellt er ihn selbst und übergibt ihn dann der Polizei.

Diese Zweiteilung der Aufgaben des Detektivs ändert sich innerhalb kurzer Zeit zu­guns­ten der Wissenschaft­lichkeit. Dies ist verständlich, denn die Naturwissens­chaften brachten am Ende des neunzehnten und Beginn des zwan­zigsten Jahrhunderts laufend neue Erkenntnisse; man glaub­te, mit ihrer Hilfe alles ohne Ausnahme erklä­ren zu können. So kommt es, daß Thorndyke als ausge­bildeter Arzt und Chemiker meist ein klei­nes Taschen­laboratorium mit sich her­umträgt. Im Bezug auf die Wissenschaftlichkeit sticht er positiv von der Pseudow­issenschaftlichkeit vieler seiner Kollegen ab.

Richard Austin Freemen legte großen Wert auf die Nach­prüfbarkeit und Rich­tigkeit der Versuche seines Detek­tivs. Er ging so weit, daß er alle Experimente, die Thorn­dyke im Laufe seiner Ermittlungen durchführte, zu Hause selbst prob­te und sie erst dann niederschrieb, wenn er ihre Durch­führbarkeit nachgewiesen hatte. Dann aber werden Thorn­dykes Versuche sehr ausführlich und genau geschild­ert. Die Faszination, die sie auf einen Alltagsmenschen ausüben, ist ver­ständlich. Wenn es bei chemischen Übun­gen brodelt und zischt, wenn sich die Farben von Flüssig­keiten im Reagenz­glas verändern, so erinnert dies immer an Hexerei und schwarze Magie.

spaceholder red  Als nächstes verdünnte er den Brei mit destilliertem Wasser, so daß er schön flüs­sig wurde, und goß etwas davon in den Trichter. Der verdünnte Brei lief langsam durch die Röhre in den Kolben und mischte sich schnell mit dem bro­delnden Inhalt. Fast sofort begann sich das Aussehen der Flamme zu verändern: Das Blaßviolett ver­wandelte sich in ein mattes Blau, über dem sich ein wei­ßes Rauchwölkchen bildete.

 Wieder hielt Thorndyke die Kachel vor die Düse, doch kaum hatte die Flamme die kal­te Porzellanoberfläche be­rührt, als sich schon ein glitzern­der, schwarzer Fleck da­r­auf bildete.

 „Das ist schon recht aufschlußreich,“ meinte Thorndy­ke und nahm den Stöpsel aus einer Flasche mit der Auf­schrift Kalziumhypochlorid, „aber vorsichtshalber wol­len wir auch noch den letzten Test machen.“ Er goß ein paar Tropfen der Hypochloridlösung auf die Kachel, und so­fort ver­schwand der schwarze Fleck. „Jetzt können wir ihre Frage beantwor­ten, Mr. Barton,“ sagte er zu unse­rem Klienten und korkte die Flasche wieder zu. „Die Pro­be, die Sie uns gebracht ha­ben, enthält eindeutig Arse­nik, und zwar in beträchtlicher Menge.“

Thorndyke ist Herrscher über die Natur. Nach wenigen Handgriffen an seinen Appa­ra­tu­ren weiß er, was für ande­re ein Rätsel war und wahrscheinlich immer ein Rätsel ge­­blie­ben wäre, gäbe es nicht allwissende Wissenschaft­ler wie ihn. Er kennt im Zweifelsfall be­reits den Mörder, wenn die Polizei noch im Dunkeln tappt.

Mit der Wandlung in Wissenschaft und Technik haben sich natürlich auch die Arten der Verbrechen geändert. Die Autoren der Detektivgeschichten müssen zusehends spitz­findiger werden, um ihre Leser zu halten und zu fes­seln. Neben den berühmten Schlag mit dem blunt instrument (stumpfen Gegenstand) und die allbekannten Arsenik- und Strychninvergiftungen, die durch Zugabe des Giftes zum Essen hervorgerufen werden, treten jetzt vergiftete Zahnfül­lungen und vergiftete Matratzen auf; man findet in der Unmen­ge der Kurzgeschichten sogar einen Mörder, der mit einem Bogen einen Dolch aus Eis durch das Fenster eines sonst ab­solut unzugänglichen Raumes schießt — die Mord­waffe ist später unauffindbar; es gibt den elektrischen Schlag durch die Telefonlei­tung, das Er­frieren in flüssiger Luft, aus einem Luftgewehr abge­schossene In­jektionen.

Männern wie Thorndyke fällt die Rekonstruktion solcher Tatbestände nicht schwer. So werden die Erfolge des De­tektivs allgemein bekannt:

spaceholder red  Die Polizei hat sich in diesem schwierigen und wichtigen Fall klugerweise der Mit­hilfe Dr. John Thorndykes ver­sichert, der mit seinem scharfen Ver­stand und seiner viel­­sei­ti­gen Er­fahrung zweifellos das Geheimnis bald enthül­len wird.

Jedermann liest die Zeitung, in der diese Lobeshymne steht, und kennt somit Thorn­dyke und dessen Wert. Die staatliche Polizei schneidet wieder schlecht ab. Sie hat nur die Aufgabe, nach der Lösung eines Falles den Ver­brecher dingfest zu machen — nach­dem Thorndyke ihn bereits über­führt hat. Bei Free­mans Detektiv überschnei­den sich diese beiden Aufgabenbereiche noch, Thorndyke hilft auch bei der Festnahme; bei der Denkmaschine van Dusen ste­hen sie schon parallel nebeneinander — van Du­sen liefert der Polizei den Ver­brecher — die Aufklärung, macht also nur die Denkar­beit, während das übrige der Polizei überlassen bleibt.

Nach unserem heutigen Geschmack sind solche Detekti­ve unmöglich. Wir wünschen uns Menschen aus Fleisch und Blut und nicht „wissenschaftliche“ Rechenmaschinen im Stile eines van Dusen, denen man die Daten eines Verbrechens eingeben kann und die daraufhin nach einiger Zeit den Namen des Täters aus­spucken, ohne daß der Leser vorher wissen kann, wer der Verbrecher sein könnte. Wesen wie Thorndyke und van Dusen besaßen eine gewisse Zeitlang eini­ge Anziehungskraft. Aber sie ver­schwanden schnell von der Bildfläche, da dem Leser recht bald alle möglichen Spielarten der Verbrechen und ihrer Aufklärung bekannt waren.

Der US-Amerikaner S.S. van Dine (Pseudonym von Willard Huntington Wright), dessen Detektiv Philo Vance ebenfalls zu den allwissenden, subtilen und pedantischen Be­rufs­ge­nos­sen seiner Art zählte, schrän­kte im Jahre 1928 in seinen Twenty rules for writing de­tec­tive stories — Zwanzig Regeln des Detektivromans die Auf­klä­rungs­mög­lich­kei­­ten für einen Detektiv im Roman drastisch ein.

Er riet von meh­reren Kniffen ab, die schon zu häufig an­gewandt worden waren und deswegen dem Leser allzu bekannt seien. Kein Autor solle etwa auf einen Zwillings­bruder oder auf einen Verwandten des Verdächtigen zu­rückgreifen, der diesem ähnlich sähe. Fernerhin sei zum Beispiel falsche Fingerab­drücke oder die Identifizierung eines Verdächtigen durch den Vergleich einer am Tatort gefundenen Kippe mit der Zi­ga­ret­ten­marke, die der Verdächti­ge raucht, ab­zulehnen.

Auch der britische Father Ronald A. Knox wies auf die dauernden Wiederho­lungen der In­di­zien­be­weise bei der Aufklärung von Verbrechen durch Detektive hin. Er schrieb:

spaceholder red  Wie die klassische Tragödie wird der Detektivroman ei­nes Tages zugrun­de gehen, wenn alle Themen und Permutatio­nen abgehandelt worden sind und wenn der Leser bei dem geringsten Rückgriff, den der Autor ins Spiel zu bringen versucht, blasiert ausruft: Bekannt!

Bevor in den Vereinigten Staaten die Analytiker Ellery Queen des Autorenge­spannes Fre­de­ric Dannay (1905-1982) und Manfred B. Lee (1905-1971), die ihre Romane unter dem Pseudonym Ellery Queen verfassten, und Dr. Gideon Fell von John Dickson Carr (1906-1977) dem Höhepunkt ihrer Popularität in den zwanziger und dreißi­ger Jahren zu­strebten, erkannte bereits vor dem er­sten Weltkrieg der Eng­länder Edmund Clerihew Bentley (1875-1956):

spaceholder red  Es sollte doch möglich sein, dachte ich, eine Detektivge­schichte zu schreiben, in der der Detektiv als menschli­ches Wesen zu erkennen ist.

Gesagt — getan. Nach zwei vergeblichen Versuchen erschi­en im Jahre 1913 sein Buch Trent’s Last Case — Trents letz­ter Fall. Dieser Roman machte Bentley be­rühmt, denn er lei­tete eine neue Periode im Stil des De­tektivromans ein.

Der Journalist Philip Trent besitzt viele der Eigenschaften Sherlock Holmes’ oder des Chevalier Dupin nicht mehr. Er ist bei der Londoner Zeitung Sun be­schäftigt — übri­gens war sein geistiger Vater Bentley einer der bekann­testen Li­teraturkritiker der Zeit und kannte Trents Metier.

Ob seiner Einfälle und der Güte seiner journalistischen Leistungen ist der Frei­­zeit­maler Trent in London und in der Umgebung der britischen Hauptstadt recht gut be­kannt. So be­auf­tragt ihn sein Chef, sich um den Mordfall Manderson zu bemühen. Dabei zeigt Trent kein aus­ge­­spro­chenes Talent zum Meister­detektiv, denn seine Lö­sung des Mordfalles er­weist sich am Ende des Buches als falsch, und der Leser lernt den wahren Mörder nur da­durch kennen, daß er sich schließlich selbst zu erkennen gibt. Zum Schluß muß Trent zugestehen:

spaceholder red  „Ich bin kuriert, Cupples; ich glaube, ich werde mich nicht mehr mit Kri­mi­­nal­fäl­len abgeben. Die Manderson-Affäre war Philip Trents letzter Fall. Der Stolz auf seine her­vor­ra­g­en­den Leistungen ist dahin."

Einen solchen Zug kann man bei den Analytikern nicht finden, denn sie kennen eine derartige Unzulänglichkeit nicht. Als erster legt Trent auch menschliche Regungen an den Tag. Er beschließt, die Frau des Ermordeten zu heiraten.

Ihm fehlt auch die Arroganz und Selbstgefälligkeit sei­ner Vorgänger. Er be­wegt sich nie­mals auf einer hö­heren Ebene als auf der, auf der auch seine Umgebung steht, und ist zu keinem Zeit­punkt so herablassend wie Sherlock Hol­mes. Bei seinen Initiativen spürt man seine Intelligenz und kei­ne scheinbar unan­greifbare Pseudologik. Hellseherei und Wölckens Primat der Vernunft verlie­ren allmählich ih­ren Einfluß, während in allem die Realitätsbezogenheit zu­nimmt. Dies sieht man auch im Verhältnis zur Polizei. Mr. Murch, der den Fall von Scotland Yard aus bearbeitet, ist nicht mehr der Clown Doyles; er steht mit Trent auf einer Stufe, so daß beide zusammenarbeiten und sich er­gän­zen, wo­bei Trent Murch gegenüber natürlich immer etwas voraus haben muß, denn er ist erstens Journalist und zweitens soll er der Held der Geschichte sein. Trotz all die­ser positiven Punkte bleibt Trent lange Zeit ohne Nachfolger; die analytische Rich­tung be­herrscht bis in die zwanziger Jahre die Szene.

Vollkommen aus der Reihe fällt einer der bekanntesten und beliebtesten Detek­tive die­ser Zeit: Father Brown. Er läßt sich in keine der De­tek­tiv­ka­te­go­rien ein­­ordnen. Ob­wohl sein Schöpfer, der Engländer Gilbert Keith Chester­ton (1874-1936), sehr gut mit E. C. Bent­ley bekannt war — beide waren lange Zeit Freun­de, und Bentley trat nach Ches­ter­tons Tode den Vorsitz über den Detection Club an, in dem sich die besten De­tek­tiv­ge­schi­chten­schrei­ber der Zeit zu­sammen­fanden — besitzt Father Brown dennoch kaum die Charakteristika, die Philip Trent so menschlich machen.

Der kleine, dickliche Priester in seiner schwarzen Souta­ne hat in den Schilde­rungen Ches­ter­tons immer etwas Rühren­des und Unschuldiges an sich; außer­dem wirken die Be­­schrei­bun­gen des Paters meistens komisch, aber nicht etwa in abwertender Weise. Be­vor Chesterton sich der Schriftstel­lerei zuwandte, hatte er sich als Illustrator und Karikaturist seinen Lebensunterhalt verdient. So ist ein Ein­schlag von Humor bei der Be­schrei­­bung der Gestalt des Paters nicht zu übersehen:

spaceholder red  Langsam vergrößerte sich der schwarze Punkt in der Fer­ne, ohne aller­dings sein Aussehen merklich zu verändern; er blieb weiterhin rund und schwarz. Das schwarze Habit der Geistlichen war in dieser Gegend [in Spanien] durch­aus nichts Un­ge­wöhn­li­ches; die lange, schwarze Soutane des Besuchers hatte jedoch eine ge­wis­se bür­ger­li­che Un­auf­fäl­l­ig­keit und zugleich doch etwas Flottes an sich, so daß ihr Träger auf den ersten Blick als ein Bewohner der Britischen Inseln zu erkennen war, so deutlich, als trüge er ein Plakat mit dem Namen seiner Heimat mit sich her­um. In der Hand hatte er einen unförmigen Regenschirm mit eulenartigem Griff.

Was brachte Chesterton dazu, einen katholischen Geistli­chen zur Hauptperson seiner Stories zu machen?

Nachdem er sich lange Jahre mit den Lehren der christli­chen Kirchen beschäf­tigt hatte, trat Chesterton 1922 von der anglikanischen zur katholischen Kir­che über. Schon lange vorher hatte er Father John O’Connor kennenge­lernt, der in einem von Arbeitern bewohnten Stadtviertel Londons als Seelsorger und Beichtvater wirkte und so einen Ein­blick in die Seelen dieser Menschen gewonnen hatte: ihm wurden nicht nur die Sün­den oder gar Verbre­chen ge­beichtet, die die Leute in diesem Viertel begangen hatten, son­dern auch de­ren Beweggründe. Chesterton, der sich bereits mit anderen Ver­öffent­li­chun­gen einen Namen gemacht hatte, wurde durch ihn angeregt, sowohl die ka­­tho­li­sche Heils­lehre, als auch die Hintergründe zu einem Verbrechen in einer allge­mein ver­ständ­li­chen und anspre­chenden Art niederzulegen.

Dementsprechend stützt sich der Pater bei seinen Deduk­tionen nicht auf Indizi­en oder auf eine Vernunft, mit der Tä­ter eingekreist werden soll, sondern er geht nach sei­ner eige­nen Methode vor:

spaceholder red  „Das Geheimnis besteht darin … nun sehen Sie, ich selbst habe all diese Leute um­ge­bracht!“

 „Nun ja, ich habe jedes Verbrechen genau überlegt und geplant,“ fuhr Father Brown fort. „Ich habe mir genau ausged­acht, wie so etwas wohl an­gepackt werden müßte, in wel­cher Verfassung ein Mensch sein müßte, der wirklich zu solch einer Tat fä­hig ist. Und wenn ich ganz sicher war, daß ich mich völlig in den Mörder hin­ein­ge­fühlt hat­te, dann wußte ich na­türlich auch, wer der Mörder gewe­sen war!“

 „Ich habe diese Menschen natürlich nicht in Wirklichkeit ermordet … Letz­lich war es ein Backstein oder irgendein Werkzeug, das ihnen den Tod gebracht hat. Nein, was ich sagen wollte, ist: Ich dachte unablässig nach, wodurch wohl ein Mensch zum Mör­der werden könne, bis ich schließlich selbst in einer solchen Verfassung war, daß nur noch der letzte Schritt fehlte. Diese Methode ist mir einst von einem Freunde als eine Art religi­öser Übung an­empfohlen worden. Meines Wissens hat sie dieser Freund von Papst Leo XIII., der schon immer mein Vorbild gewesen ist.“

 „ … und dann warte ich, bis ich weiß, daß ich in einem Mörder stecke. Ich denke sei­ne Gedanken, kämpfe mit sei­nen Leidenschaften, bis ich mich ganz in seinen ge­duckt nach dem Opfer ausspähenden Haß hineinversetzt habe, bis ich die Welt mit seinen blutunterlaufenen, schielenden Augen sehe, dieselben Scheuklappen seines ver­wirr­ten Geistes trage und nichts mehr zu sehen vermag als den in meinen Augen bren­nen­den kurzen Weg, der in einer Blut­lache endet — bis ich wirklich ein Mörder bin.“

 „Oh!“ rief Mr. Chance aus, und auf seinem Gesicht malte sich das Entset­zen, „und das nennen Sie eine religiöse Übung?“

 „Allerdings,“ erwiderte Father Brown, „das nenne ich eine religiöse Übung.“

Hier schlägt Father Browns — beziehungsweise Chester­tons — Ansicht von Reli­giosität nach Meinung der meis­ten Leser über die Stränge.

Auch die Gedankenverbindungen des Paters stimmen nicht. Er versetzt sich voll­stän­dig in die Lage und Stim­mung des Mörders, der, um hieraus zu entrin­nen, nur den Ausweg des Mordes sah. An den Pater jedoch geht die­se Situa­tion ohne Spuren vorbei; letzten Endes weiß er zwar, wer der Mörder ist, die Ausführung der Tat aber er­folgt bei ihm nicht, wenngleich er nach eigener Aus­sage dieselben Vor­aussetzungen mitbringt wie der Mörder — aus welchem Grunde?

Ob das, was Father Brown hier erklärt, in der Tat Chestert­ons persönliche Mei­nung war, kann man heu­te nicht mehr beurteilen. Bei der Aufklärung von Verbrechen erweist sich jedoch die Methode des Paters ohne Ausnahme unfehlbar. Mit Ge­schick und viel In­tui­tion kommt er trotz offenba­rer Un­schuld jedem Übeltäter auf die Spur. Als „Wat­son“ dient ihm dabei sein Freund, der bekehrte Dieb Flam­beau, der sich in Spanien zur Ruhe ge­setzt hat; er steht Father Brown unterwürfig gegenüber und ist dem sich naiv ge­bär­den­den, aber verschlagenen Pater nahezu hilf­los ausgeliefert, wie die folgende Szene zeigt, die bei ei­nem Besuch des Paters in Flambeaus Domizil in Spanien spielt.

spaceholder red  „Es gibt zwei Gründe, warum Menschen dem Teufel ent­sagen, und der Unter­schied, der diese beiden Beweggrün­de voneinander trennt, ist viel­leicht das tiefste Ge­heim­nis der Religion unserer Zeit: Die einen haben Schauder vor dem Teufel, weil er so weit weg ist, und die anderen, weil er so nahe ist. Und zwischen keiner Tugend und keinem Laster gibt es einen so tiefen Abgrund wie zwischen die­sen beiden Tu­genden.“

 Niemand antwortete ihm, und er fuhr in demselben ernsten Ton fort. Seine Worte schie­nen nie­der­zu­fal­len wie ge­schmolzenes Blei.

 „Man kann ein Verbrechen für verabscheuungswürdig hal­ten, weil man selbst es niemals begehen würde und könnte. Ich aber halte es für ent­setzlich, gerade weil ich in der Lage wäre, es zu begehen. Sie denken an ein Ver­brechen so, wie man an einen Ausbruch des Vesuvs denkt: schrecklich, aber doch weit. Schrecklich wäre es aber …, wenn unerwartet ein Verbrecher unter uns er­scheinen würde …“

 Herr Doroc … stand langsam neben dem Ofen auf. Es war, als decke sein riesiger Schat­ten alles zu, als ließe er selbst die Finsternis des dunklen Nachthimmels noch dunk­ler wer­den.

 „Es ist ein Verbrecher hier,“ sagte er langsam. „Ich bin ein Verbrecher. Ich bin Flam­beau, und die Polizei beider Hemi­sphären fahndet noch immer nach mir.“

Man hört aus den Ausführungen des Paters genau heraus, daß Chesterton mehr wollte, als nur Kriminalfälle zu schil­dern. Er hatte eine Mission; er versuchte, die christliche Heilslehre mehr oder min­der versteckt in den dunklen Reden des Paters dem Leser nahe­zu­bringen.

Eine Gestalt wie Father Brown taucht niemals wieder in der Kriminalliteratur auf, so daß der Pater als Außenseiter dasteht. Er besitzt weder die stark ausgeprägte ver­stan­des­mäßige Ar­beits­kraft der er­sten Detektive noch die Wirklichkeitsnähe von Philip Trent und dessen Nachfolgern. Er stellt sich zwar teilwei­se als eine Mischform dieser beiden Gat­tun­gen dar, aber ist in grö­ßerem Maße nur ein Mittel, das von Ches­terton angewandt wurde, zu dem Zweck, eine Weltanschauung zu vertreten und zu vermitteln.

Es ist interessant zu beobachten, daß eine Reihe der Autoren von Detektiv- und Spio­nage­ro­ma­nen zum Katholizismus konvertierten, bevor oder während sie literarisch tätig waren; dazu zählen neben Chesterton zum Beispiel Ronald Knox und Graham Greene. Selbst Agatha Christie machte klar, daß sie in diese Richtung tendiere.

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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Li­te­ra­tur • Ein Essay zum Ei­gen­ge­brauch. 121 Seiten.
Dritte Auflage 2023 | e-Fassung
© 2023 by Peter de Chamier.

www.de-chamier.com


Inhalt

Vorstellung

Einführung
Die Vorläufer
Edgar Allan Poe
Sherlock Holmes
Holmes’ Nachfolger
Hercule Poirot
Blick nach Amerika
Kommissar Maigret
Hard-boiled
Und in Europa?
Made in Germany
Sex and Crime
Spionageromane
Epilog

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