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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Literatur • Kapitel 9

Die „hard-boiled“-Detektive

But down these mean streets a man must go who is not himself mean,
who is neither tarnished nor afraid …

Aber durch diese schäbigen Straßen muß ein Mann gehen,
der selbst nicht schäbig ist,der makellos und nicht furcht­sam ist …

Raymond Chandler. The Simple Art of Murder. An Essay. 1950.


icht Gerechtigkeit und Moral beherrschen die Welt, sondern Un­ge­setz­lich­keit, Un­ge­rech­tig­keit und Egoismus. Die Schilderungen einer heilen Welt, in der ein Übeltäter so­fort aufgespürt und aus der Gesellschaft ausgestoßen wird, sind — wie in der englischen Detektiv­literatur — bloße Am­menmärchen.

In The Simple Art of Murder — Mord ist keine Kunst (At­lantic Monthly, 1950) schrieb der Ameri­ka­ner Raymond Chand­ler (erst das englische Original, dann eine deutsche Über­tra­gung):

spaceholder blue  The realist in murder writes of a world in which gang­sters can rule nations and almost rule cities, in which ho­tels and apartment houses and celebrated restaurants are owned by men who made their money out of brothels, in which a screen star can be the fingerman for a mob, and the nice man down the hall is a boss of the numbers racket; a world where a judge with a cellar full of boot­leg liquor can send a man to jail for having a pint in his pocket, where the mayor of your town may have con­­doned murder as an instrument of money­making, where no man can walk down a dark street in safety because law and order are things we talk about but refrain from practicing; a world where you may witness a hold-up in broad daylight and see who did it, but you will fade quickly back into the crowd rather than tell anyone, be­cause the hold-up men may have friends with long guns, or the police may not like your testi­mony, and in any case the shyster for the defense will be allowed to abuse and vilify you in open court, before a jury of selected mo­rons, wi­thout any but the most perfunctory interfer­ence from a political judge.

 It is not a very fragrant world, but it is the world you live in, and certain writers with tough minds and a cool spirit of detachment can make very interesting and even amusing patterns out of it. It is not funny that a man should be killed, but it is some­times funny that he should be killed for so litt­le, and that his death should be the coin of what we call civi­lization.

spaceholder red  Der Realist in Mordromanen schreibt von einer Welt, in der Gangster Nationen und fast Städte regieren können; in der Hotels und Apartmenthäuser und ge­feier­te Res­tau­rants Män­nern gehören, die ihr Geld aus Bordellen gemacht ha­ben; in der ein Film­star der Hin­weis­geber auf Verräter für einen Mob sein kann; und der nette Mann am Ende des Korridors der Boss einer illegalen Lotterie ist; eine Welt, in der ein Rich­ter mit einem Keller voller schwarz gebranntem Schnaps einen Mann ins Gefängnis schicken kann, weil er eine Bierflasche in der Tasche hat; wo der Bürger­meister Ihrer Stadt den Mord als Instrument Geld zu ver­dienen geduldet hat; wo kein Mann in Sicher­heit eine dunkle Straße hinun­tergehen kann, weil Recht und Ord­­nung Dinge sind, über die wir reden, aber nicht praktizie­ren; eine Welt, in der Sie einen Bank­über­fall am hellich­ten Tag miterleben und sehen können, wer es getan hat, aber Sie schnell wieder in der Menge verschwinden, an­statt es irgend­jemandem zu sagen, weil die Bankräuber vielleicht Freunde mit langen Flinten haben oder die Polizei Ihre Aus­sage nicht mag, und auf je­den Fall wird es dem Win­kel­advo­katen der Ver­tei­digung er­laubt sein, Sie vor einem offenen Gericht zu beleidigen und zu ver­leumden, vor einer Jury aus ausgewählten Idioten, ohne irgendeine außer vielleicht einer sehr ober­fläch­li­chen Ein­mischung durch einen poli­tisch moti­vier­ten Richter.

 Es ist keine sehr wohlriechende Welt, aber es ist die Welt, in der Sie leben, und be­stimm­te Au­toren mit hartem Ver­stand und kühlem geistigen Abstand kön­nen sehr inter­es­sant­e und sogar amü­sante Ro­ma­ne aus diesen Mus­tern aufbauen. Es ist nicht lus­tig, daß ein Mann getötet wird, aber es ist manchmal lus­tig, daß er für so wenig ge­tö­tet wird und daß sein Tod die Medaille dessen ist, was wir Zi­vilisation nennen.

In der Zeit der Prohibition, als die amerikanischen Städte von Gangsterbanden stel­len­wei­se be­herrscht wurden, als fast je­der Politiker und Polizist käuflich war und nur we­ni­ge Män­ner auf der Seite der Ge­rech­tig­keit und der Fair­ness standen und versuchten, sich zu behaupten und die staatlic­hen Vorschriften durchzusetzen, um sich und ihre Mit­­bür­ger zu schützen, entstand der neue Typ des Detektivs, der Mann, der mit seinem ge­sun­den Menschenverstand seinem Emp­finden für Gerechtigkeit Genüge leistete.

Chandler fährt fort, und dies wurde eines der bekanntes­ten Zitate über Detektive in der Literatur (erst das engli­sche Original, dann eine deutsche Übertragung):

spaceholder blue  But down these mean streets a man must go who is not himself mean, who is nei­ther tarnished nor afraid. The de­tective in this kind of story must be such a man. He is the hero, he is everything. He must be a complete man and a common man and yet an unusual man. He must be, to use a rather weathered phrase, a man of honor, by in­stinct, by in­evita­bi­lity, with­out thought of it, and cer­tainly without saying it. He must be the best man in his world and a good enough man for any world. I do not care much about his private life; he is neither a eunuch nor a satyr; I think he might se­duce a duchess and I am quite sure he would not spoil a virgin; if he is a man of honor in one thing, he is that in all things. He is a rela­tively poor man, or he would not be a detective at all. He is a common man, or he could not go among com­mon people. He has a sense of character, or he would not know his job. He will take no man’s money dishonestly and no man’s insolence without a due and dispassionate re­venge. He is a lonely man and his pride is that you will treat him as a proud man or be very sorry you ever saw him. He talks as the man of his age talks, that is, with rude wit, a lively sense of the grotesque, a disgust for sham, and a con­tempt for pet­­ti­ness. The story is his ad­­ven­ture in search of a hidden truth, and it would be no adventure if it did not happen to a man fit for ad­ven­­ture. He has a ran­ge of aware­ness that startles you, but it be­longs to him by right, because it belongs to the world he lives in.

 If there were enough like him, I think the world would be a very safe place to live in, and yet not too dull to be worth living in.

spaceholder red  Aber durch diese schäbigen Straßen muß ein Mann gehen, der selbst nicht schäbig ist, der makellos und nicht furcht­sam ist. Der Detektiv in Geschich­ten dieser Art muß solch ein Mann sein. Er ist der Held, er ist alles. Er muß ein voll­kommener Mann sein und ein normaler Mann, und er muß doch ein außergewöhnlicher Mann sein. Er muß, um eine recht abgegriffene Phrase zu ge­brauchen, ein Mann von Ehre, ein Mann mit In­stinkt, ein Mann des Unver­meidlichen sein, ohne daran zu denken und ganz gewiß, ohne darüber zu sprechen. Er muß der beste Mann in dieser Welt und ein guter Mann für jede Welt sein. Sein Privatleben ist mir egal; er ist weder ein Eunuch noch ein Satyr; ich glaube, er könn­te eine Herzo­gin verführen, und ich bin mir ziemlich sicher, daß er eine Jungfrau nicht verderben würde; wenn er in ei­ner Sache ein Ehrenmann ist, ist er das in allen Dingen. Er ist ein relativ armer Mann, sonst wäre er kein De­tek­tiv. Er ist ein gewöhnlicher Mann, sonst könnte er nicht zwi­schen gewöhnlichen Leu­ten leben. Er hat Sinn für Cha­rakter, oder er würde nicht wissen, was seine Aufgabe ist. Er wird von niemanden unehrenhaftes Geld anneh­men und wird sich von nie­man­dem be­lei­di­gen lassen, ohne sich angemessen und le­idenschaftslos dafür zu rä­chen. Er ist ein einsamer Mann und sein Stolz ist, daß Sie ihn wie einen stolzen Mann be­­han­deln werden oder daß es Ihnen sehr leid tut, ihn jemals gesehen zu haben. Er spricht, wie ein Mann seines Alters spricht, d.h. mit derbem Witz, ei­nem lebhaften Sinn für das Groteske, ei­nem Ekel vor Heuchelei und Verachtung von Engstirnig­keit. Die Ge­schichte ist sein Abenteuer auf der Suche nach einer ver­borgenen Wahrheit, und es wäre kein Abenteuer, wenn es nicht einem Mann passieren würde, der dafür taug­lich ist. Er hat ein Bewußtseinsspektrum, das einen verblüfft, aber es gehört ihm zu Recht, weil es zu der Welt gehört, in der er lebt.

 Ich denke, wenn es genug wie ihn gäbe, wäre die Welt ein sehr sicherer Ort zum Le­ben und doch nicht zu lang­weilig, um darin zu leben.

Hard-boiled werden diese Detektive genannt, hartge­sotten. Sie kämpfen als einzelne gegen Banden, gegen eine korrup­te Polizei, gegen Politiker, die nicht mehr Politiker sind, sondern Marionetten. Als Privatdetektive arbeiten sie für Klienten, die ihnen oft­mals nicht einmal die Wahrheit sa­gen, sondern sie scham­los belügen, um einen Vor­teil für sich selbst herauszuschlagen. Sie leben alle in Kalifornien.

Mit der Art der Detektive änderte sich ebenfalls die Ge­stalt des Detektivro­mans. Wat­son verschwindet. Lange Dedukt­ionen gibt es ebenso wenig wie nichtendenwollen­de Mono­­loge. Während der ursprüngliche Detektivroman sich gut zu einem Theaterstück ver­ar­bei­ten ließ, eigneten sich die neuen action- und spannungsreichen Short Sto­ries und Ro­mane viel eher zur Verfilmung, und so er­reichte der Krimi­nalfilm seine Blütezeit.

Drei Schriftsteller gelten als Vorreiter dieser Generation der Ro­man­de­tek­ti­ve.

Der erste von ihnen ist Dashiell Hammett (1884-1961), der als Vater der hard-boiled De­tek­ti­ve gilt, wie im Vor­wort bereits angesprochen wurde.

Hammett hatte acht Jahre für die Detekivagentur Pinkerton & Co. gearbeitet, bis er Ende der zwanziger Jahre diesen Job von einem Tag zum anderen aufgab und zu schrei­ben begann. Er erschuf in The Maltese Falcon — Der Malteser Falke (1930) Sam (Sa­muel) Spade.

spaceholder red  Samuel Spades Unterkiefer war lang und knochig. Sein Kinn sprang in schar­fer V-Form unter dem sanfter ge­schwungene V seines Mundes vor. Wo sich die Nasen­­flügel nach rückwärts zogen, bildeten sie ein weiteres, ein kleine­res V. Seine gelb-grauen Augen standen waage­recht. Die bu­schigen Brauen, die sich von der Dop­pel­fal­te über der Haken­na­se auswärts wölbten, nahmen noch ein mal das V-Motiv auf, und sein blaß-braunes Haar wuchs von den hohen, fla­chen Schläfen spitz in die Stirn. Auf eine eigentlich ganz nette Weise sah er aus wie ein blonder Teufel.

 Er war über 1,80 m groß. Die steil abfallenden, gerunde­ten Schultern ließen seinen Körper beinahe kegelförmig er­scheinen — von vorn gesehen nicht breiter als von der Seite, und an ihnen lag es auch, daß sein frischgebügel­tes, grau­es Jackett nicht be­son­ders gut saß.

Die übertriebene Eleganz früherer Detektive ist verloren­gegangen. Geblieben ist ein Mann, der sich durchzuset­zen versteht, notfalls mit Gewalt und auf ungesetzliche Weise.

Sam Spade ist ein Professional, er übernimmt jeden Job, der ihm angeboten wird, so­fern er nicht gegen sein Ge­fühl von Gerechtigkeit verstößt. Er will na­türlich dafür be­zahlt werden, und seine Geldforderungen sind manch­mal geradez­u unverschämt. In The Maltese Falcon ver­langt er von sei­ner Auftraggebe­rin, sie solle ihren gesam­ten Schmuck ver­setzen, um seine Arbeit zu bezah­len.

Im Vorwort zur Ausgabe 1934 schreibt Dashiell Hammett im Januar dieses Jahres:

spaceholder blue  Spade has no original. He is a dream man in the sense that he is what most of the pri­va­te detectives I worked with would like to have been and in their cockier mo­­ments thought they approached. For your private detec­tive does not — or did not ten years ago when he was my colleague — want to be an erudite solver of riddles in the Sher­lock Hol­mes manner; he wants to be a hard and shif­ty fellow, able to take care of himself in any situation, able to get the best of anybody he comes in contact with, whether criminal, inno­cent by-stander or client.

spaceholder red  Spade hat kein Urbild. Er ist ein Traummann in dem Sinne, daß er das ist, was die meis­ten Privatdetektive, mit denen ich gearbeitet habe, gerne gewesen wären und in ih­ren großspurigeren Momenten dachten, sie wären nahe dran. Denn Ihr Pri­vat­de­te­ktiv will nicht — oder wollte nicht vor zehn Jahren, als er mein Kollege war — ein ge­lehr­ter Rät­sel­­löser in Sher­lock-Holmes-Manier sein; er will ein harter und ver­schla­ge­ner Kerl sein, der sich in jeder Situation um sich selbst kümmern kann, der in der Lage ist, das Beste aus jedem zu machen, mit dem er in Kontakt kommt, ob Kri­mi­­nel­ler, un­schul­di­ger Zuschauer oder Klient.

Meist arbeitet Spade im Dunkeln, er tastet sich langsam von einem Detail zum nächsten vor und sammelt eine Men­ge von Punkten, Fakten und Ansichten, mit deren Hilfe er ei­nen Verbrecher überführen kann — oder wenn der Täter, wie häufig, bereits von Anfang an bekannt ist, ihn aufspüren und stellen kann.

Wenn er aber im Laufe seiner Ermittlungen erfährt, daß sein Klient ihn betro­gen hat und im Unrecht ist, geht er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mit­teln gegen ihn vor. Seine unüberwindliche Pflichtauffassung verläßt Spade niemals. Sie geht so weit, daß er in The Maltese Falcon die Frau, die er wirk­lich liebt, der Polizei über­gibt, weil sie einen Mord begangen hat.

Dashiell Hammet wollte in seinen fast berichtartigen Sto­ries mehr als nur Ver­brechen schildern. Es ist sehr inter­essant, dazu einmal den kurzen Lebensüber­blick zu lesen, den Hammetts langjährige Gefährtin Lillian Hellman zur Einlei­tung des nach Hammetts Tode erschienenen Bandes The Big Knockover — Raubmord verfaßt hat. In ihm schreibt sie:

spaceholder red  Ich finde es ziemlich unwichtig, daß ich nicht weiß, ob Hammett Mitglied der kom­mu­nis­ti­schen Partei war; er war jedenfalls ganz bestimmt ein Marxist. Aber er war ein sehr kritischer Marxist und häufig voller Verachtung für die Sow­jetunion, aus der gleichen provinziellen Ver­achtung her­aus, mit der viele Amerikaner Ausländern ge­­gen­über­stehen. Er äußerte sich oft witzig und beißend scharf über die ame­­ri­ka­nische kommunistische Partei, aber schließ­lich verhielt er sich ihr gegenüber doch im­mer loyal. Bei einer Auseinan­dersetzung mit mir sagte er einmal, daß ihn am Kom­mu­nis­­mus natürlich viel beunru­hige und immer beunruhigt hätte und daß er seine Über­­zeugung ändern wür­de, sobald er et­was Besseres gefun­den habe.

Diese Aussage mag den verblüffen, der in Sam Spade einen geldgeilen Schläger sieht, der Sam Spade als einen Privatdetektiv betrachtet, der einem Killer der Gangs nicht fern steht. Dashiell Hammett verkauft bestimmt kei­ne „of­fen faschistische Ideologie“, wie man einmal in ei­ner Buch­besprechung lesen konnte. Anderer­seits will er aber sicher auch keine kommunistische Ideologie an den Mann bringen, die in einen De­tek­tiv­roman verpackt wurde.

Er verbindet seine Stories mit einer scharfen Kritik an den sozialen Zuständen. Sam Spade lebt in einer verkom­menen Gesellschaft; eine Gesellschaft, der jegliche mo­ra­li­­sche Verantwortung abhanden gekommen ist. Sam Spade soll eine Mahnung an die Leser sein. Aus diesem Grunde besitzt er dieselben Eigenschaften wie seine Gegner. Die Omni­potenz eines Sherlock Hol­mes hat er abgelegt, wenngleich immer noch vor­ge­geben ist, daß ein Detektiv in unserem Zeitalter fähig ist, als Einzelgäng­er al­les zu erkennen und auf alles einzuwir­ken. Dazu verläßt ihn niemals seine Pflichtauffassung, der Glauben an seine Ver­pflichtung dem Gesetz und Recht gegenüber.

Raymond Chandler (1888-1959) ist der zweite aus dieser Gruppe von Schrift­stellern, dem Anerkennung gebührt. Nach eigenen Aussagen hatte er sich Ham­mett und dessen De­tektive zum Vorbild genommen. Bekannt wurde Chandler durch seinen Roman The Big Sleep — Der tiefe Schlaf (1939), dessen Held der Pri­vatdetektiv Philip Mar­lowe ist. Chand­ler veröffentlichte bedeutend mehr Sto­ries, in denen Marlowe die Hauptrolle spielt, als Ham­mett Geschichten mit Sam Spade. So wurde Marlowe po­pulärer. Das Buch The Little Sister — Die kleine Schwester (1949) beginnt wie folgt:

spaceholder blue  The pebbled glass door panel is lettered in flaked black paint: “Philip Marlowe ... In­vesti­ga­tions.” It is a reasonably shabby door at the end of a reasonably shabby cor­ri­dor in the sort of building that was new about the year the all-tile bathroom be­came the basis of civilization. The door is locked, but next to it is another door with the same legend which is not locked. Come on in — there’s nobody in here but me and a big bluebottle fly..

spaceholder red  An der Rauhglas-Türscheibe steht mit abblätternder schwarzer Farbe: „Philip Mar­lowe — Ermittlungen“. Es ist eine ziemlich schäbige Tür am Ende eines ziem­lich schä­bigen Korridors in einem Gebäude von der Art, wie sie ungefähr in dem Jahr neu wa­ren, als das ausgekachelte Ba­dezimmer zur Grund­lage der Kultur wurde. Die Tür ist ab­ge­schlos­sen, aber daneben ist noch eine Tür mit der­selben Aufschrift, die nicht ab­ge­schlos­sen ist. Treten Sie nur näher es ist niemand weiter drin als ich und eine di­cke Brummfliege.

Marlowe residert in Los Angeles; seine Arbeit führt ihn auch in das angrenzen­de Holly­wood. Er bringt das, was die Amerikaner the feeling nennen, das Ge­fühl, die At­­mo­sphä­re von Los Angeles.

Chandler wurde als Quäker geboren. Er konnte sich dem Einfluß dieser Sekte niemals ent­ziehen, wenn er ihren Auf­fassungen auch distanziert gegen­überstand. Bier, Wein oder gar Branntwein ist für die Quäker eine Erfin­dung des Teufels. Die folgende Be­ge­ben­heit zeigt Chandlers Einstel­lung dazu. Als er einmal mit einem Freund durch Hollywood ging, blieb er plötzlich stehen und meinte:

spaceholder red  „Biegen wir hier rechts ab. Da kommt ein Betrunkener. Wenn ich Betrunkene sehe, wird mir immer schlecht!“

Philip Marlowe entspricht in keiner Weise dem, was sich ein Quäker unter ei­nem guten Men­schen vorstellt.

spaceholder red  „Scotch? Oder sind Sie mehr für einen Cocktail zu ha­ben? Ich mixe einen ab­solut gräßlichen Martini,“ sagte sie. „Danke, Scotch ist schon recht.“

Marlowe trinkt, und er läßt es dabei nicht mit kleinen Men­gen bewenden; außerdem raucht er noch. Den jungen Da­men gegenüber zeigt er sich eben­falls nicht abgeneigt. Im übrigen ist sein Verhalten und seine Ausdrucksweise frech und unverschämt.

spaceholder red  „Sie könnten wenigstens reden wie ein Gentleman,“ sag­te sie. „Da gehen Sie lie­ber mal zum Altherrenkub,“ antwortete ich ihr.

Gute bürgerliche Manieren hat Marlowe nicht. Warum sollte er auch? Er lebt nicht wie seine Detektiv-Vorgänger in einer bürgerli­chen Welt, er lebt in der Welt der Vorstäd­te, im Zwielicht, das Marlowe — so will es Chandler — charakte­risieren und kriti­sieren soll. Philip Marlowe bekämpft nicht konstruierte Morde, sondern er kämpft gegen Ver­­bre­chen, die alltäglich sind. Der Leser wird so gezwun­gen, sich mit die­sen Verbre­chen aus­ein­ander­zu­setzen. Ein Happyend gibt es nicht im­mer. Die gerechte Sache siegt zwar, aber Marlowe steht schließlich wieder allein, als einsamer Kämpfer für eine bes­sere Welt, wenn er auch, betrachtet man seine äu­ßere Gestalt, nicht unbedingt als Ver­tre­ter einer besseren Welt zu anzusehen ist.

Chandler glaubt an eine Welt ohne Betrug und Beste­chung; aus diesem Grunde glaubt es Marlowe auch und han­delt danach. Von der Polizei zur Rede gestellt, meint er in The High Window — Das hohe Fenster:

spaceholder red  „Ich sagte: Solange eure eigene Seele käuflich ist, be­kommt ihr meine Seele nicht zu kaufen.“

Trotzdem oder vielleicht deswegen war Marlowe sehr erfolgreich. Auf Kritik an seinem Detektiv reagierte Chandler immer sehr heftig. Er selbst charakterisierte Marlowe in einem Brief im Oktober 1951 folgendermaßen:

spaceholder red  Wenn es geistige Unreife bedeutet, daß man gegen eine korrupte Gesell­schaft revoltiert, ist Philip Marlowe äu­ßerst unreif. Wenn Schmutz sehen, wo Schmutz ist, unzu­längliche Einordnung in die Gesellschaft bedeutet, dann hat sich Phi­lip Marlowe un­zu­läng­lich eingeordnet. Selbstverständlich ist Marlowe ein Versager, und er weiß es. Er ist ein Versa­ger, weil er überhaupt kein Geld hat. Ein Mann ohne jede physische Behinderung, der sich nicht ausreichend sein Brot verdienen kann, ist immer ein Ver­sager und im allge­meinen ein moralischer Versa­ger. Aber eine Menge sehr gu­ter Men­schen sind Versager gewesen, weil ihre speziellen Gaben nicht in ihre Zeit und in ihre Umwelt passten. Ich nehme an, auf lange Sicht ge­sehen, sind wir alle Versager, oder wir hätten nicht die Sorte Welt, die wir haben. Sie dür­fen aber nicht verges­sen, daß Marlowe kein richtiger, wirk­licher Mensch ist. Er ist ein Phantasiegeschöpf. Er be­fin­det sich in einer schiefen Situation, weil ich ihn in sie hineinge­bracht habe. Im wirk­li­chen Leben ist ein Privatdetektiv im allge­meinen ein ehemaliger Polizist mit einer Men­ge harter, praktischer Erfahrungen, der den Verstand einer Schild­kröte hat, oder ein schäbiger kleiner Schnüffler, der her­umläuft und ausfindig zu machen sucht, wo­hin Leute ver­zogen sind.

Knapp acht Jahre später starb Chandler in La Jolla.

Als legitimen Nacholger von Philip Mar­lowe und Sam Spade kann man Lew Archer von Ross Macdonald bezeichn­en (1915-1983; Pseudonym von Kenneth Millar; seine Frau Margaret Millar schrieb ebenfalls er­folg­rei­che Kriminalromane — zum Beispiel Beast in view — Liebe Mutter, es geht mir gut). Lew Ar­cher lebt wie seine beiden Vorgänger in Kali­fornien, in Santa Teresa, Mac­do­nalds Deckname für Santa Barbara, einer Hafenstadt in Südkali­fornien, nord­westlich von Los Angeles.

Macdonald hat den Stil und die Unge­zwungenheit von Hammett und Chandler über­nommen, hat jedoch den Problemkreis, der die Grundlage für diese Romane bildete, er­wei­tert und auf seine Gegen­wart bezogen. Seine Themen sind besonders die zer­brochen­e Fa­milie und die Suche nach dem ver­lo­re­nen Vater; sie tauchen in vielen sei­ner Romane auf. Er gilt wie Hammett und Chandler als einer der füh­renden US-ame­ri­ka­ni­schen Romanschriftsteller.

Ross Macdonald bezeichnet Lew Archers Mission in die­sen Fällen folgender­maßen:

spaceholder red  Es war für die Neue Welt möglich, sich selbst hier zu schaffen. Das ist es, wor­über ich schreibe. Anstelle einer tra­ditionellen Struktur, die die Dinge zu­sammenhält, hat man hier jeden einzelnen Mann, der sein eigenes ethi­sches Gyro­skop hält. Die Tech­no­lo­gie ist dabei, alle be­deutenden Be­ziehungen we­gzuwischen und sie durch den Ap­pa­rat zu er­setzen. Wir müssen ler­nen, mit den Verlust dieser Beziehun­gen zu leben, und müssen dies ver­menschlichen. Jetzt, da wir erfolgreich zum Mond ge­langt sind, müssen wir die Krater auf der Erde erkunden.

Die Krater auf der Erde erkunden und sie zuzuschütten ist die Aufgabe Lew Ar­chers. Er soll nicht nur die fiktiven Mordfälle lösen, die in Santa Teresa und in der Umge­bung die­ser Stadt geschehen, sondern auch den Leser in­direkt durch die Stories ansprechen und auf soziale Miß­stände hinweisen und ihn zu einer Lösung in Macdo­nalds Sinne ani­mieren.

Die erste und wichtigste Beschäftigung Archers innerhalb der Handlung seiner Bücher bleibt jedoch weiterhin, als Pri­vatdetektiv den Wünschen seiner Klien­tel zu entspre­chen und nach der „Wahrheit“ zu suchen. Diese beiden Dinge de­cken sich oftmals nicht, und es entsteht ein Kon­flikt zwi­schen den Pflichten ge­gen­über dem Auftragge­ber, der Lew Archer ja schließlich bezahlt und ihm so­mit am Leben hält, und der Pflicht gegen­über dem Gesetz und dem allgemei­nen Recht. In einem solchen Falle be­müht sich Archer, beidem Genüge zu leis­ten und seinen Klienten dazu zu bewegen, sich seinem — Archers — Standpunkt anzuschließen.

spaceholder red  „… die meisten Polizisten haben ein öffentliches und ein privates Gewissen. Ich habe nur das private, armselig, aber mein.“

 „Ich habe Sie also richtig beurteilt; Sie sind tatsächlich ein Ge­rech­tig­keits­fana­ti­ker.“

 „Ich weiß nicht, was Gerechtigkeit ist,“ sagte ich, „mich interessiert nur die Wahr­heit — nicht die allgemeine Wahr­heit, falls es die gibt, sondern die Wahr­heit in ganz be­stimm­t­en Fällen. Wer was wann und warum getan hat. Vor allem das Warum. Ich frage mich beispielsweise, warum Sie wissen wollen, ob ich für Gerechtigkeit bin. Sie könnten da­mit indirekt zum Ausdruck bringen, daß ich meine Finger von dem Fall lassen soll.“

Auf dem Highway 101 die Pazifikküste auf und ab erledigt Lew Archer seine Auf­gaben und sucht dem Leser die Werte nahezubringen, die Macdonald für ein menschli­ches Zu­­sam­men­leben für unerläßlich hält.

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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Li­te­ra­tur • Ein Essay zum Ei­gen­ge­brauch. 121 Seiten.
Dritte Auflage 2023 | e-Fassung
© 2023 by Peter de Chamier.

www.de-chamier.com


Inhalt

Vorstellung

Einführung
Die Vorläufer
Edgar Allan Poe
Sherlock Holmes
Holmes’ Nachfolger
Hercule Poirot
Blick nach Amerika
Kommissar Maigret
Hard-boiled
Und in Europa?
Made in Germany
Sex and Crime
Spionageromane
Epilog

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