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DINNER IN DER BOTSCHAFT
12. Januar 1900. Ein kleines Dinner in der italienischen Botschaft in Berlin. Vierzehn Personen, von denen die meisten später noch zu einem Hofball gingen; die Männer in Uniform (alle außer mir) und die Damen mit ihrem schönsten Schmuck. Obwohl ich damals ein sehr junger Mann ohne offizielles Amt war, lud mich der Botschafter oft zu diesen Abendessen ein. Ich saß am Ende des Tisches neben dem Attaché Don Attilio Serra, einem Neapolitaner mit einem melancholischen, hässlichen Gesicht, der die Angewohnheit hatte, sich ohne ersichtlichen Grund häufig mit seinem Taschentuch die Augen zu trocknen.
Der Botschafter, Graf Lanza, war von Beruf kein Diplomat, sondern General, den König Umberto ausgewählt hatte, um ihn am deutschen Hof zu vertreten. Der junge Kaiser mochte Militäruniformen, selbst bei den Abgesandten ausländischer Mächte.
Als ich im Herbst 1899 nach Berlin kam, betrachtete ich die Botschaft mit Argwohn als einen jener Stätten, die man bei Empfängen in Gala aufsuchte und dann unbequem auf den Türschwellen herumstand, während ältere Männer mit Orden behängten Brustkörben und Damen mit langen Schleppen, über die man stolperte, sich vorbeidrängten und sich mit einer feierlichen Ehrerbietung begrüßten, die wie Nächstenliebe oft eine Vielzahl von Sünden verdeckte. So jung ich auch war, ich war mit offiziellen Anlässen vertraut, da mein Vater in der Regierung gewesen war. Obwohl er schon seit vielen Jahren tot war, war sein Name noch immer in Erinnerung und trug einen Hauch von Romantik mit sich, der das Risorgimento umgibt. Er war der Begleiter von Daniele Manin im Exil gewesen, nach dem ich benannt worden war, und ein Freund von Mazzini.
General Lanza war so angenehm gastfreundlich, daß jegliche Scheu, was ihn betraf, schnell verflog und ich mich in seiner Gegenwart ebenso wohl fühlte wie in der seiner Mitarbeiter (Melegari, Mattioli, Serra), ganz zu schweigen von Perugini, der früher der Ordonnanzoffizier des Generals gewesen war und ihn nun in seiner diplomatischen Mission als Kammerdiener oder „Gentleman's Gentleman” begleitete.
Ich glaube, daß Militärs mehr Verständnis für junge Menschen haben als Diplomaten. Meine extreme Jugend war möglicherweise der Grund, warum General Lanza so freundlich zu mir war und mich so oft zum Abendessen einlud. Da mein Name nicht im Almanach de Gotha stand, fand sich für mich noch immer ein Platz am unteren Tischende. Auf diese Weise lernte ich die politische und gesellschaftliche Welt Berlins ebenso gut kennen wie die Musikwelt, die sich damals um Joachim drehte.
Es war ein glücklicher Zufall, daß ich am 12. Januar zum Abendessen in die Botschaft eingeladen wurde, denn es war mein Geburtstag — mein zwanzigster Geburtstag.
Rechts vom Botschafter saß Prinzessin Antoine Radziwill, und rechts von ihr der preußische General Verdy du Vernois: ein Name, der an die Zeit erinnerte, als französische Hugenotten nach der Aufhebung des Edikts von Nantes in Brandenburg Zuflucht suchten.
Links vom Botschafter saß Lady Susan Townley, neben ihr ein dünner, nervöser Italiener, Edoardo de Martino, einst Marineoffizier und später ‚Marinemaler Seiner Majestät König Edward VII‘. De Martino war aus London herübergekommen, um eine Ausstellung seiner Bilder zu besuchen, die am Vortag eröffnet worden war.
Zu Beginn des Dinners drehte sich das Gespräch um die horrenden Kosten für Blumen. Der Botschafter erzählte, wie er anlässlich eines Balls in der Botschaft einen ganzen Eisenbahnwaggon voller Blumen von der italienischen Riviera hatte kommen lassen. Er hatte ausgerechnet, daß dies billiger sein würde, als Pflanzen und Blumen in einem Berliner Laden zu erstehen.
„Und hat es geklappt?“ fragte Lady Susan.
„Das hätte es vielleicht, wenn die Blumen rechtzeitig angekommen wären. Aber sie kamen erst am Morgen nach dem Ball am Anhalter Bahnhof an. So etwas passiert immer, wenn ich versuche, zu sparen.“
Attilio Serra beklagte sich über das Obst in Berlin und beschrieb die Orangen, die auf seinen eigenen Obstplantagen zu Hause wuchsen. Seine Hände deuteten etwa die Größe einer Melone an. Es erhob sich ein Chor der Ungläubigkeit, aber Serra weigerte sich, seine Aussage zu mildern, und bot an, sich einige Orangen schicken zu lassen, um sie unter den Anwesenden zu verteilen. Es folgte ein Chor der Dankbarkeit, leicht gefärbt von Skepsis.
Als wir zum Entrée kamen, wandte sich das Gespräch einem Thema zu, das bei Abendgesellschaften in Berlin unvermeidlich schien, nämlich dem Kaiser. Lady Susan erzählte von einem Foto, das sie von ihm gesehen hatte, auf dem er eine englische Uniform trug: den dunkelblauen ‚Parademantel‘ der Garde, wahrscheinlich eines Regiments, dessen Ehrenoberst er war.
Sie sagte, es stehe ihm sehr gut. General de Verdy murmelte etwas in seinen Bart hinein über „diesen Jungen”, der seine Uniform öfter wechsle als sein Hemd. Wir alle lächelten, aber niemand sagte etwas.
De Martino erzählte uns, daß der Kaiser seine Bilder angesehen und ihm von einer neuen Idee erzählt habe, bei stürmischer See Öl auf das aufgewühlte Wasser zu schütten. Künftig sollten alle deutschen Schlachtschiffe zusätzliche Öltanks mitführen, deren Inhalt bei rauer See ins Meer abgelassen werden sollte, um den Kanonieren das Zielen zu erleichtern. De Martino hatte seine eigenen Vorstellungen zu diesem Projekt. Er sagte, daß man nach jeder Schlacht das Meer in Brand setzen und aus den Fischen ein fritto misto machen könnte.
Prinzessin Radziwill fragte: „Was sagte der Kaiser zu Ihren Bildern?"
„Ich glaube, das Thema gefiel ihm nicht. Die meisten meiner Bilder zeigen Schlachtschiffe der britischen Flotte. Sie erinnerten den Kaiser daran, daß er mehr davon haben wollte. Er sagte, Deutschland müsse im zwanzigsten Jahrhundert über eine große Marine verfügen.“
(Als ich mich Jahre später an dieses Gespräch erinnerte, fragte ich mich, ob de Martino und seine Bilder nicht mitverantwortlich für den großen Krieg waren.)
„Übrigens,“ sagte General de Verdy, „was ist mit der Entscheidung des Kaisers, daß das neue Jahrhundert am 1. Januar dieses Jahres beginnen soll? Ich habe gehört, daß man in Paris und London davon ausgeht, daß das 19. Jahrhundert erst im kommenden Dezember endet.“
„Das hängt ganz davon ab,“ sagte der Botschafter, „ob es jemals ein Jahr 0 gab, entweder v. Chr. oder n. Chr.“
Während der Diskussion zu diesem Thema wagte ich es, mich zum ersten Mal während des Abendessens zu Wort zu melden.
„Was ist mit mir?“ fragte ich. „Ich wurde am 12. Januar 1880 geboren. Kann ich sagen, daß ich heute zwanzig Jahre alt bin, oder muß ich bis zum nächsten Jahr warten?“
Niemand beantwortete meine Frage, aber der Botschafter und General de Verdy hoben ihre Champagnergläser, um auf meine Gesundheit anzustoßen. Die Damen taten es ihnen gleich und lächelten mich über den funkelnden Wein hinweg an. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf meine bescheidene Person, und jemand fragte:
„Was ist besser? Eine Prinzessin, ein General, ein Botschafter zu sein oder sagen zu können: Ich bin heute zwanzig Jahre alt!“
Lady Susan wollte wissen, ob es wahr sei, daß ich bei Joachim Geige studiere und daß ich vorhabe, Musik zu meinem Beruf zu machen.
„Das war meine Idee, als ich hierherkam,“ antwortete ich. „Aber ich beginne zu zweifeln. Ich schwanke jetzt zwischen Musik und Diplomatie.“
General de Verdy fixierte mich mit seinen durchdringenden blauen Augen.
„Junger Mann,“ sagte er, „ich möchte Ihnen einen Rat geben. Werden Sie kein Diplomat, sonst verlieren Sie Ihren Sinn für Humor zwischen den Formeln der offiziellen Korrespondenz und ruinieren Ihre Verdauung zwischen den Gängen der offiziellen Abendessen. Das Leben eines Diplomaten besteht aus Protokollen und Abführmitteln.“
„Ich weiß nichts über seinen Sinn für Humor,“ sagte der Botschafter, „aber es wäre schade, wenn unser junger Freund seinen Appetit verlieren würde. Derzeit hat er un joli coup de fourchette — einen gesunden Appetit!“
DIE GROSSNICHTE TALLEYRANDS
Dann wandte er sich an Prinzessin Radziwill und fragte:
„Was halten Sie von einer Karriere in der Diplomatie?“
„Ich finde sie reizvoll.“
General de Verdy warf dazwischen: „Karrieren sind wie Frauen. Sie sind reizvoll, solange man sie liebt.“
„Dann sollte man sie immer lieben.“
„Aber wie Frauen verraten sie einen auch. Tatsächlich sind sie nur interessant, wenn sie das tun.“
Die Prinzessin war schockiert: „Gerade Sie sollten so etwas nicht sagen, General! Man muß sich nur all diese Orden und Bänder ansehen, um zu erkennen, daß Ihre Karriere Ihnen alles gegeben hat, was sie geben kann.“
„Bedeuten Orden und Bänder so viel? Und sagen Ihnen die Falten um meine Augen, daß viele Frauen mir alles gegeben haben, was sie zu geben hatten? Selbst wenn dem so wäre, heißt das nicht, daß ich nicht betrogen worden bin.“
„Und was könnte die Moral sein,“ fragte ich, „für einen jungen Mann, der daran denkt, Diplomat zu werden?“
„Das ist die Moral,“ sagte der General. „Auch wenn Sie Ihre Livree tragen, vergessen Sie nicht zu lachen. Lachen Sie über Erfolg und lachen Sie über Mißerfolg. Lachen Sie über die Art und Weise, wie die Welt regiert wird. Lachen Sie über andere und vor allem lachen Sie über sich selbst!“
Die Prinzessin warf mir einen freundlichen Blick zu. „Da gibt es eine neue Figur, die Sie erschaffen können,“ sagte sie. „Der lachende Diplomat. So etwas wie Der lachende Philosoph.“
„Oder Franz Hals' Lachender Kavalier,“ sagte de Martino.
Der Botschafter sah zweifelnd drein. „Ich bin ein alter Soldat, wie der General, und ich bin noch nicht lange genug in der Diplomatie tätig, um viel über meine Kollegen als Gruppe zu wissen. Aber ich habe bemerkt, daß einige von ihnen und einige ihrer Frauen sich selbst sehr ernst nehmen. Drum sollten Sie vorsichtig sein,“ er sah mich an, „über wen Sie lachen, sonst könnte es Ihnen passieren, daß sie fliegen. An Ihrer Stelle würde ich mich damit begnügen, innerlich zu lächeln.“
De Martino zitierte das Sprichwort: „Les heureux ne rient pas, ils sourient.“
„Wenn Sie wirklich eine diplomatische Karriere anstreben,“ sagte die Prinzessin, „kommen Sie doch eines Abends zum Pariser Platz. Wissen Sie, ich bin die Großnichte von Talleyrand. Alle Diplomaten kommen zu mir nach Hause.“ Und sie wandte sich an General Lanza: „Nicht wahr, Monsieur l'Ambassadeur?“”
Mit altmodischer Höflichkeit nahm der Botschafter ihre Hand und hob sie an seine Lippen. „Ist es ein Wunder?“ antwortete er. „Die Diplomatie liegt Ihnen im Blut. Neben Ihnen sind wir nichts als Amateure.“
Ich wunderte mich über seine Worte.
DER PHILOSOPHISCHE KUTSCHER
Das Abendessen fand zeitig ein Ende, denn die Gäste mußten pünktlich auf dem Hofball erscheinen. Unnötig zu sagen, daß ich nicht dazu eingeladen war. Nach dem, was man von den Hofbällen in Berlin hörte, entging mir nicht gar zu viel. Für alles war gesorgt — bis auf Unterhaltung.
Ehe ich die Botschaft verließ, wartete ich, bis die anderen Gäste ihre Wagen bestiegen hatten. Mantel und Hut wurden mir gereicht, nicht von einem der Lakaien, sondern von Perugini. Er hatte mir etwas zu sagen.
„Mir scheint,“ erklärte er, „Sie haben sich einen Pelz gekauft!“
„Man braucht so etwas für das Berliner Klima,“ entschuldigte ich mich, während er mir in das fragliche Kleidungsstück hineinhalf. Perugini fand offenbar, er müsse an mir Vaterstelle vertreten.
„Was haben Sie dafür ausgelegt?“ forschte er weiter.
„Dreihundert Mark.“
„Sie hätten schlechter kaufen können. Der Astrachankragen ist gut. Aber das Futter ist größtenteils Kaninchen.“
„So? Sie sagten mir, es sei Bärenfell.“
„Erzählen kann man vieles. Wohin gehen Sie jetzt? Nach Hause oder in ein Tingeltangel?“
»Weder — noch. Zu Joachim. Er hat heut abend Quartett.“
„Ein Glück, daß das Dinner so bald vorüber war. Gute Nacht.“
„Gute Nacht.“
Ich ging die Wilhelmstraße entlang, auf die ‚Linden‘ zu. Es begann zu schneien, ein kalter Wind wirbelte durch die fallenden Flocken. Mein Pelz hatte Verschnürungen wie ein Dolman und schloß eng um den Hals. Kaninchen oder nicht Kaninchen — er war warm und behaglich.
Gleich Perugini freute ich mich über das baldige Ende der Soiree. Ein Dinner in einer Botschaft ist gerade die richtige Einleitung für einen angebrochenen Abend. Das Quartett bei Joachim füllte wohl die Zeit bis Mitternacht. Und danach blühten mir Freuden, weniger vornehm als die höchsten Kreise der diplomatischen und musikalischen Welt. Nymphen leben nicht auf dem Gipfel des Olymp, sondern weiter drunten an seinen Hängen. Und die Nacht hatte erst begonnen.
Als ich den Pariser Platz kreuzte, auf das Brandenburger Tor zu, kam ich am Palais der Prinzessin Radziwill vorbei. Seine Tür stand mir von nun an offen. Gegenüber lag die französische Botschaft. Ein prunkvoller Wagen wartete davor, anscheinend, um den Herrn des Hauses auf den Hofball zu bringen. Der Gedanke stieg in mir auf: wollte ich selbst bei meiner weniger hochgestellten Geselligkeit rechtzeitig eintreffen, mußte ich mich gleichfalls zu einem Fahrzeug aufschwingen. Beim Eingang zum Tiergarten fand ich einen ‚Taxameter‘, den Vorläufer unserer heutigen Autotaxen: eine Pferdedroschke mit mechanisch abrollendem Meterzeiger zur Bestimmung des Fahrpreises.
Der Kutscher schien ein jämmerliches Exemplar seiner Gattung und auch das Pferd war mager und jämmerlich. Es ist etwas Tragisches um Pferd und Wagen, die in kalter Winternacht auf Fahrgäste warten. Hätte es Droschken im Mittelalter gegeben, sie wären vielleicht von Dante mit einer Verszeile verewigt und an die Pforten der Hölle gebannt worden.
Ich nannte die Adresse: „Bendlerstraße siebzehn.“
Zu meiner Überraschung sah der Mann vom Kutschbock herab und sagte:
„Das Haus der Drei Musiker.“
„Woher wissen Sie das?“ fragte ich.
„Ich war Cellist,“ entgegnete er, als erklärte das alles.
„Und warum sind Sie es nicht mehr?“
„Weil ich immer betrunken war.“
„Ein triftiger Grund. Sind Sie auch jetzt betrunken?“
„Nicht besonders. Kann’s mir nicht leisten.“
Der Kutscher schien mir in seiner Art ein Philosoph. Doch hatte ich keine Zeit, mich in seine Lebensgeschichte zu vertiefen. Ich stieg ein und wir ratterten die Tiergarten-Chaussee hinab. Die Glasfenster schütterten jämmerlich. Als wir zur Siegesallee kamen, bog er rechts ein.
Ich klopfte auf das Vorderfenster und rief durchs Glas:
„Verfluchter Kerl! Sie fahren in der falschen Richtung.“
Er grunzte und kehrte um. Ich hörte, daß er etwas vor sich hin brummte, konnte aber die Worte nicht verstehen. Nach etwa fünf Minuten setzte er mich vor Joachims Haus ab. Der Taxameter zeigte eine Mark vierzig. Ich nahm einige Scheine aus der Brieftasche.
„Hören Sie,“ sagte ich, „ich habe heute Geburtstag und den sollen Sie feiern. Da sind dreißig Mark. Vertrinken Sie sie, bis Sie nicht mehr weiterkönnen, und geben Sie Ihrem Gaul was Ordentliches zu fressen. Er sieht mir aus, als ob er das brauchen könnte.“
„Will ich meinen, das arme Vieh. Morgen hat es Rasttag, während ich meinen Rausch ausschlafe.“
Kein Wort des Dankes war über seine Lippen gekommen. Er nahm alles hin, wie es eben kam. Während er die Zügel ergriff, warf er einen Blick nach den Fenstern des Hauses, vor dem er mich abgesetzt hatte. Winzige Lichtstrahlen drangen durch die Spalten der geschlossenen Läden.
„Sie wollen wohl Joachim hören?“ fragte er.
„Stimmt.“
„Der gute Mann wird alt und steif in den Gelenken. Aber er kann noch immer mehr als die meisten andern, auch heute noch. Könnte ich spielen wie er, müßte ich nicht trinken. Wein, Weib und Gesang! Alle drei hab ich ausprobiert, nur der Wein ist mir geblieben und auch von dem nicht allzuviel. Aber heute Abend werde ich kräftig trinken: Auf deine Gesundheit, Jüngling!“
Er war wenig respektvoll, dieser Kutscher! Die meisten seiner Kollegen hätten mich unter solchen Umständen zumindest ‚Herr Graf‘ tituliert. Ich sah ihm nach, als er auf sein Pferd einhieb und abfuhr. Jemand trat aus einem Haustor, rief ihn an und winkte dazu mit dem Regenschirm, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Aber der Kutscher scherte sich nicht darum. Eisige Windstöße, beladen mit pulvrigem Schnee, wirbelten durch die schmale Straße und ließen die Flammen in den Gaslampen erzittern. Ich lief die Treppe hinauf und schellte.
GEIGENSTUNDEN
Als ich nach Berlin ging, gab mir meine Mutter eine Empfehlung an einen alten Freund mit, Baron von Keudell, der viele Jahre lang als deutscher Botschafter in Rom gelebt hatte. Seine Karriere war ein seltsames Gemisch aus Musik, Militärdienst und Diplomatie. Keudell galt als Liebling Bismarcks, und zwar vor allem seiner ungewöhnlichen pianistischen Begabung wegen. Es ging das Gerücht um, Bismarck habe, so oft er sich entmutigt und niedergeschlagen fühlte, Keudell gebeten, ihm die Apassionata vorzuspielen. ‚Und David spielte mit seiner Hand, so erquickte sich Saul, und der böse Geist wich von ihm.‘ Keudell hatte Bismarck in den Feldzügen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich begleitet. Später wurde er mit den verschiedensten diplomatischen Missionen betraut. Seit seinem Abschied wohnte er in der Bendlerstraße, im selben Haus wie Joachim. Man nannte es das Haus der Drei Musiker; es hatte nämlich drei Stockwerke: Joachim bewohnte das erste, Keudell das dritte und Markees das zweite. Markees war jünger als die beiden anderen und ein glänzender Stern am Musikhimmel Berlins. Zu jener Zeit spielte er die erste Geige im Orchester der ‚Philharmonie‘.
Keudells Rat zufolge hatte ich mich Markees anvertraut, um meine musikalische Erziehung zu vollenden, die bei Ettore Pinelli (gleichfalls einem Joachim-Schüler) in Rom begonnen hatte. Von meinen Berliner Lehrern lernte ich vor allem größere Reinheit des Tons, größere Schlichtheit, und darum besseren ‚Stil‘. Sie bemühten sich, mir jeden Anklang an Künstelei abzugewöhnen und mir restlose Natürlichkeit beizubringen — die Natürlichkeit fließenden Wassers. Joachim kam von Zeit zu Zeit herein, in einen alten Schlafrock gewickelt, und hörte mir zu. Einmal sagte er, ich könnte etwas, was ihm nie gelungen sei: mit gestärktem Stehkragen spielen (wie man sie damals trug). Es war das einzige Lob — wenn man es als solches auffassen will —, das ich je von ihm erhielt. Aber er war ein reizender alter Herr und konnte anscheinend von der Musik niemals genug bekommen. Er spielte Trio, Quartett und Duo, morgens, abends und mitternachts. Ich glaube, es hielt ihn munter, statt ihn zu ermüden. Und trotz seinem Alter hatte sein Spiel eine Selbstverständlichkeit, eine unwillkürliche Jugendfrische, die mich immer an Schubert-Lieder gemahnte.
Markees machte mir das Studium nicht leicht. Jeden Morgen hatte ich bei ihm eine halbe Stunde Unterricht (nicht länger, dafür mußte ich aber den ganzen Tag zu Hause üben!); ich ging von meiner Wohnung in der Schadowstraße zu Fuß durch den Tiergarten, den Geigenkasten schleppte ich jedesmal mit. Markees war nicht davon abzubringen, daß ich beim Spielen das Instrument ganz unrichtig hielte. Um mein Handgelenk zu trainieren, ließ er mich üben — oder versuchte es wenigstens —, den linken Arm durch die Lehne des Sessels gesteckt, auf dem ich saß. Jedem jungen Geigenspieler, der seinen Stil verbessern will, rate ich zu dieser Methode. Allerdings macht sie einen anfangs toll.
EIN BEETHOVEN-QUARTETT
Als ich an jenem Geburtstagsabend zum Quartett erschien, stellte sich zu meiner Überraschung heraus, daß nicht bei Joachim, sondern bei Markees gespielt wurde. Das Zimmer konnte kaum die Klänge fassen, die den vier Instrumenten entströmten; zwei davon waren Stradivaris aus der besten Zeit. Joachim spielte die zweite Geige, Markees Viola. Am Cello saß Robert Hausmann vom Joachim-Quartett. Neugierig versuchte ich festzustellen, wem man die erste Geige anvertraut hatte, und erkannte Fritz Kreisler, der erst kürzlich nach Vollendung seines Militärdienstes in Österreich hierher zurückgekehrt war. Sie spielten Beethoven.
Es befanden sich vielleicht zehn Leute im Zimmer und alle Stühle waren besetzt. Ein paar Studenten saßen auf dem Fußboden. Ich folgte ihrem Beispiel und lehnte mich an die Wand neben dem Kamin. Neben mir, in einem Armstuhl, saß Baron Keudell. Eine junge Amerikanerin, Schülerin von Markees gleich mir, hockte mitten im Zimmer, die Ellbogen auf ein rundes Tischchen gestützt. Sie trug Zöpfe.
Markees’ Wohnung wirkte nicht im mindesten bohemehaft. Keine schwellenden Diwans, kein Hauch von Orient, keine Musikerbüsten im Halbdunkel. Die Einrichtung entsprach vielmehr dem gewöhnlichen Stil der Berliner Wohnungen zum Ende des Jahrhunderts. Die Zimmer waren hell und luftig. In solch konventioneller Umgebung wirkte die klassische Schönheit des Spiels um so stärker. Ich erinnere mich noch, daß ich damals dachte, wie rein und unschuldsvoll die schönste deutsche Musik sei, während die Meisterwerke der deutschen Literatur, Faust und Tannhäuser, das Märchen der verlorenen Seele erzählen.
Als die letzten Akkorde des Finales verklangen, sah ich zu Baron Kendell empor. Er war Musiker und Diplomat gewesen. Plötzlich empfand ich das Bedürfnis, ihn um Rat zu fragen.
„Baron,“ sagte ich, „seit einiger Zeit weiß ich nicht recht, ob ich Musiker werden soll. Ich denke eher an die diplomatische Laufbahn. Glauben Sie, ich tue recht daran?“
Er sah zu mir herunter und blinzelte, als hätte ihn meine Frage auf die Erde zurückgerufen. Dann warf er einen Blick auf die Künstler, die beisammenstanden und über das eben gespielte Musikstück sprachen. Die kleine Amerikanerin saß noch immer an ihrem Platz, reizend und feierlich, das Kinn in die Hände gestützt. Baron Keudell antwortete nicht sogleich, und als er es tat, stellte er mir eine Frage:
„Kennen Sie Wagners Beethoven-Aufsatz?“
Ich bejahte.
„Dann werden Sie sich daran erinnern, was er über die Pastorale sagt; daß sie an die Worte Christi gemahne: ‚Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.‘“
Er machte eine Pause, und ich wartete neugierig, was nun käme. Er wies auf Joachim und Fritz Kreisler und setzte hinzu:
„Nur die wenigsten von uns lassen am Ende des Spiels den Hörer mit dem Gefühl eines verlorenen Paradieses zurück. Ich glaube, Sie sollten Ihrem Land dienen, wie ich es getan habe.“
Es war die feinste Art, mich wissen zu lassen, aus mir würde niemals ein großer Künstler. Und ich sollte lieber einen anderen Beruf ergreifen. Die Worte des Kutschers fielen mir ein: „Könnte ich spielen wie Joachim, müßt ich nicht trinken.“
BERUFSWAHL
Um dreiviertel zwölf verließ ich das Haus in der Bendlerstraße und nahm wieder einen Wagen, diesmal zum Pschorrbräu am Potsdamer Platz. Der Kutscher war nicht betrunken, zeigte aber auch keine philosophischen Neigungen. Lenchen erwartete mich an unserem Tisch, in der Ecke neben dem weißen Porzellanofen.
Lenchen sah nicht aus wie eine Deutsche. Sie hatte eine sehr weiße Haut, dunkles Haar und dunkle Augen. Vielleicht rollte spanisches Blut in ihren Adern. Sie sprach einmal von einer solchen Möglichkeit.
„Meine Mutter glaubt, ein spanischer Graf sei mein Vater.“
Allgemein hieß es, Lenchens Mutter sei eine reichlich verkommene Person. Aber Lenchen selbst war, ihrem eigenen, wenn auch nicht allzu strengen Moralgesetz zufolge, ein ‚anständiges Mädchen‘.
Sie arbeitete als Verkäuferin bei Wertheim, in der Gummiwaren-Abteilung. Ich lernte sie kennen, als ich ein Paar Galoschen erstehen wollte, um mich auf meinen Morgenspaziergängen zur und von der Bendlerstraße gegen die Tiergartenwege zu schützen.
Sie hatte ein paar Jahre Vorsprung vor mir und dies veranlaßte sie, mir so manchen mütterlichen Rat zu erteilen. Ich berichtete von den Ereignissen des Abends und von meinen Zweifeln hinsichtlich einer Berufswahl. Was war gescheiter, Musik oder Diplomatie?
„Ich weiß nicht recht, was das ist, Diplomatie,“ sagte Lenchen. „Was macht man da eigentlich?“
„Manchmal arbeitet man im Außenministerium, meistens aber lebt man im Ausland, schreibt Berichte, geht zu Empfängen und macht schönen Frauen den Hof.“
„Das scheint keine sehr schwere Arbeit. Könntest du nebenbei nicht auch Violine spielen?“
Ich meinte, das ginge vielleicht.
Lenchen verlor sich in Erinnerungen: „Ich hatte einmal einen Bekannten,“ erzählte sie, „der war Beamter bei der Schlafwagengesellschaft im Stadtbüro Unter den Linden. Jeden Abend fuhr er nach Potsdam und blies dort in einem kleinen Orchester die Flöte.“
„Wie der Alte Fritz.“
Lenchen schien die Anspielung auf die Flöte von Sanssouci nicht zu würdigen und fuhr fort: „Natürlich hat der doppelte Beruf seine ganze Zeit aufgefressen. Ich hab von dem jungen Mann nicht viel zu sehen gekriegt.“
„Das will ich natürlich vermeiden! Es ist viel netter, wenn man abends Zeit hat, seine Bekannten zu treffen.“
Lenchen vertrat die gleiche Meinung.
Als wir genug hatten, rief ich den Kellner und zahlte. Wenige Minuten später wanderten wir durch die erleuchteten Straßen heim. Lenchen schob ihre Hand in die meine und zusammen vergruben wir beide in der Tasche meines neuen Pelzes. Schneeflocken fegten uns übers Gesicht und färbten Hüte und Schultern weiß. Es war bitter kalt. Die meisten Leute liefen dicht an den Häusern entlang, mit gesenktem Kopf, zum Schutz vor dem Wind. Aber wir zwei spürten das Wetter nicht. Wir scherzten und lachten und schmiegten uns aneinander.
Bei der Kreuzung Friedrichstraße fuhr eine Wagenreihe an uns vorbei, Hufspuren gruben sich in den weichen Schnee. Kutscher und Lakaien trugen Bärenfellkragen und das Riemzeug schimınerte von poliertem Messing und Silber. Durch die Wagenfenster sah man die Abendmäntel der Damen, die Uniformen der Herren. Die Gäste kehrten vom Hofball heim. Ich beneidete sie nicht um ihre Pracht.
DIE PROPHEZEIUNG DER PRINZESSIN
Das Deutschland von 1900 machte den Eindruck eines an Ansehen und Wohlstand ständig wachsenden Reiches. Alte Männer wie General de Verdy, wie Joachim und Keudell vertraten eine entschwindende Welt. Doch es fanden sich andere genug, die ihre Plätze einnahmen. Und wenn der junge Kaiser auch rastlos und oberflächlich war, mochten solche Charaktermängel im Lauf der Jahre sich mäßigen.
Europa zerfiel noch nicht in feindliche Lager wie späterhin, als Frankreich sich mit Rußland verbündete und eine Tripel-Allianz einer Tripel-Entente gegenüberstand. Amerika unternahm noch keine Einmischungsversuche in ausländische Verwicklungen. Obgleich der Kaiser eine aufsehenerregende Warnung gegen die Gelbe Gefahr ausgesprochen hatte, betrachtete man den Fernen Osten noch immer als malerische und ferne Welt, die Weidenmuster für Porzellanservice und farbenprächtige Ausstattungen für Operetten lieferte.
Prinzessin Radziwill war Kosmopolitin und Grande Dame — eine Verbindung, die es heute nicht mehr gibt. Französin, mit einem polnischen Aristokraten vermählt, der große Güter in Schlesien und eine hohe Stellung am Berliner Hof sein Eigen nannte, besaß sie den einzigen ‚Salon‘, den der Kaiser selbst mit seiner Anwesenheit beehrte. Einer ihrer Söhne diente in der russischen Armee, eine Tochter, die schöne Betka Potocka, lebte in Wien. Lange bevor der Begriff ‚Internationalismus‘ als Schlagwort in Europa und Amerika in aller Mund war, zeigten Menschen wie Prinzessin Radziwill den weiten, international angehauchten Horizont von Leuten, die in jedem Land zu Hause sind.
Eine Woche nach meinem Geburtstag führte mich General Lanza im Palais der Prinzessin Radziwill am Pariser Platz ein. Wir waren die ersten. Ein paar Gäste kamen später, aber vielleicht eine Stunde lang plauderten wir zu dritt. Die Prinzessin zeigte mir einen Glasschrein mit Andenken an Talleyrand und an einen zweiten ihrer Vorfahren, den Maréchal de Castellane. Sie fragte nach meiner Familie und nach Rom, dann wandte sie sich dem Botschafter zu und unterhielt sich mit ihm, während ich dabeisaß und zuhörte. Nach einer Weile hatten wohl alle beide meine Anwesenheit vergessen. Sie redeten von Leuten, die schon längst tot waren, und von Tagen, die vor meiner Geburt lagen. Allmählich kam ich darauf, daß sie Erinnerungen aus dem Deutsch-Französischen Krieg austauschten.
Die Prinzessin sagte, sie sei entsetzt gewesen über die Friedensbedingungen, die man ihrem Vaterland 1870 auferlegt habe. Ihr Mann war damals Adjutant des Königs von Preußen und stand neben ihm, als er in Versailles zum deutschen Kaiser ausgerufen wurde.
Die beiden sprachen von Briefen, die die Prinzessin damals ihrem Mann ins Hauptquartier geschrieben hatte; ich hörte nur halb hin, da ich anfangs bloß wenig Interesse für das Thema aufbrachte. Es schien alles so schrecklich lang her. Doch als die Prinzessin einen dieser Briefe holte und Lanza vorlas, gab ich besser acht.
Dreißig Jahre später stieß ich in der Klub-Bibliothek in Rom auf einen Auszug desselben Briefes, den Jules Cambon in der ‚Revue des Deux Mondes‘ in einer kurzen Biographie der Prinzessin zitierte. Als ich Cambons Aufsatz las, tauchte die ganze Szene wieder vor mir auf: die Prinzessin in Spitzen und Perlen; Lanza mit seinem langen Schnurrbart und den freundlichen, lächelnden Augen; die Uhr auf dem Kamin, der ich zuweilen einen Blick zuwarf, um festzustellen, wie lang es noch dauern würde, bis ich Lenchen im Pschorrbräu traf. Und wiederum die Prinzessin, die laut ihren eigenen, so viele Jahre zurückliegenden Brief vorlas:
„… Nur jemand, der das französische Volk durchaus verkennt, kann einen Frieden diktieren wollen, wie Bismarck ihn wünscht! Frankreich wird niemals auf die beiden Provinzen verzichten. Es ist nicht klug von Deutschland, unauslöschlichen Haß in einem Volk wie den Franzosen wachzurufen. Es ist nicht klug, den Vorwand für einen künftigen Krieg zu liefern, der eines Tages losbrechen muß und zugunsten Frankreichs und seiner Verbündeten ausgehen wird, die sich aus Eifersucht auf Deutschlands Macht ihm zugesellen werden …“
Nie gab es eine klarere Voraussage des Weltkriegs; nie eine weisere Lehre, wie Friedensverhandlungen zu gestalten wären, um wirklichen Frieden zu sichern. Und dieser Brief wurde von einer jungen Dame der großen Gesellschaft geschrieben, im September 1870, zu einer Zeit, als der erste Fehler geschah (ein Fehler, dessen Folgen sie schon damals erkannte!), ein halbes Jahrhundert, ehe der gleiche Fehler sich in Versailles wiederholte.
Kein Wunder, daß Lanza zu der Prinzessin gesagt hatte:
„Die Diplomatie liegt Ihnen im Blut. Neben Ihnen sind wir alle nur Amateure.“
Daniele Varè: Laughing Diplomat. London: John Murray. 1938.
Daniele Varè: Der Lachende Diplomat. Wien: Paul Zsolnay Verlag AG. 1938.
Daniele Varè: Il diplomatico sorridente: 1900-1940. Milano: Mondadori. 1941.