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William S. Schlamm
Über den Journalismus

n diesem Jahrhundert ist der Journalismus zum wahren Herrscher der Ge­sell­schaft auf­ge­stie­gen. Und was ist der Jour­na­lis­mus? Er ist die Hand- und Mund­fertig­keit, einem Pub­li­kum, das zunehmend verlernt, die Welt selbst wahr­zu­neh­men, die Wahr­neh­mung als Ware zu verkaufen. Die Zeitung wurde erst möglich in einer Welt, derer sich auch der intelligente Mensch nicht mehr bemächtigen kann, weil sie zu kom­pli­ziert, zu gedehnt, zu un­durch­sich­tig ge­wor­den ist. Im 18. Jahr­hun­dert stand ein Mann, der die Bibel und Shakespeare kannte, auf der Höhe sei­ner Zeit: er besaß alle Informationen, die er zum Verständnis seiner Welt und sei­ner Mit­men­schen brauch­te.

Das »Ereignis«, jedes Ereignis, blieb seiner persönlichen Erfahrung zugänglich: selbst noch der Krieg war eine unmittelbar erlebte Tragödie, von un­mit­tel­bar er­kenn­ba­ren Begierden ir­gend­wel­cher Könige ausgelöst. Es gab keine Zeitungen, weil nichts zu »berichten« war, was eine kaufkräftige Neugierde provozieren hätte können. Das hat der liebenswerte Matthias Claudius erfahren, der mit seinem »Wandsbeker Boten« (1771) eine Zeitung begründete, die ihren Lesern als die große Neuigkeit des Tages mitzuteilen wußte, heute habe zum ersten Male die Nachtigall im Garten geschlagen. Der »Wandsbeker Bote« ging nach drei Jahren ein: Wer an Nachtigallen Gefallen fand, hatte sie im eigenen Garten gehört; und wen das Schlagen der Nachtigall nichts anging, der kaufte erst recht nicht die Zeitung des guten Matthias Claudius.

Erst als der moderne Mensch der Nachtigall, der Natur und des schlichten Rhythmus mensch­li­chen Lebens entwöhnt war, erst als die Groß-Stadt, der Groß-Staat, der Groß-Betrieb den künstlichen Rhythmus des Lebens zu bestimmen begannen — da erst war die Zeit für die Zei­tung gekommen. Denn die Kom­pli­zie­rung der Gesellschaft bringt ihre Atomisierung mit sich: In dem Maße, in dem die mensch­li­chen Beziehungen sich erweitern, verflechten, ver­dich­ten, im gleichen Maße wird der Mensch einsam, isoliert, seiner Per­zep­tions­mög­lich­kei­ten beraubt. Was geschieht, geschieht nicht mehr ihm. Und da erst wird das Geschehen zum »Er­eig­nis«.

Zum »Ereignis« wird es freilich nur, weil die Zeitung es berichtet. Die Zeitung wur­de not­wen­dig, oder immerhin möglich, weil ohne sie der moderne Mensch vom »Er­eig­nis« — also dem Geschehen außerhalb seines persönlichen Per­zep­tions­ver­mö­gens — gar nicht Notiz neh­men könnte. Nicht nur liest er die Zeitung so, »als ob er dabei ge­we­sen wäre« — er erlebt das »Ereignis« wirklich nur, weil er es von der Zeitung vor­er­lebt bekommt. Daß die Zeitung die Sinne des Menschen »erweitert« (also manipuliert) ist nicht ein Übel, sondern das Wesen der Zeitung. Die Zeitung ist dazu da, für den Leser (also an seiner Stelle) zu sehen, zu hören, zu fühlen, zu schmecken, zu ur­tei­len, zu reagieren. Sie ist das Erlebnis aus zweiter Hand; aus einer Hand also, die na­tur­not­wen­dig manipuliert: Das »Er­eig­nis« wird dem Le­ser als sein »Erlebnis« geliefert — für den psychischen Konsum zubereitet, gefällig verpackt und, vor allem, preis­wert.

spaceholder bluewideDer Journalist ist genau der Mann, der eine solche Ware produzieren kann: per­zep­tions­fä­hig, behend, mit einem wachen Sinn für die Per­zep­tions­stö­run­gen seines Lesers und mit dem Zynismus ausgestattet, ihnen zu entsprechen. Weil Karl Kraus das vor siebzig Jahren ver­stand, hat er den sogenannten »üblen« Journalisten nicht als einen »Auswuchs«, sondern eher als eine Erfüllung des Journalismus emp­fun­den. Gewiß, die »Fackel« jagte Moritz Be­ne­dikt, den schrecklichen Chef der Wie­ner »Neuen Freien Presse« (und gar erst den Imre Bèkessy) mit der Er­bar­mungs­lo­sig­keit eines zutiefst privaten Hasses; aber noch im pathe­ti­schesten Zorn ist Karl Kraus die Klar­stel­lung geglückt, daß es sich ihm nie um die Ausnahmen, sondern immer um die Regel handelt: daß nicht die Journalisten, sondern der Journalismus, nicht die ver­letz­ten, sondern die erfüllten Pflichten des Journalismus das mensch­li­che Er­leb­nis­ver­mö­gen verfälschen, verschmutzen, vernichten.

spaceholder bluewideDaß er »überschätzt« wird, glaubt nur der Journalismus. Zwei, drei Jahrzehnte nach dem Tod des Karl Kraus ist die Wissenschaft am Ausgangspunkt seiner »Fackel« angelangt: the medium is the message. Diese Formulierung des Professor McLuhan ist die präzise Zu­sam­men­fas­sung aller er­kennt­nis­kri­ti­schen Arbeiten der Kybernetik, der modernen Wissenschaft vom »Wesen und Wirken der Kom­mu­ni­ka­tions­tech­ni­ken«. Unser Zeitalter ist nun also von seiner höchsten Autorität, vom La­bo­ra­to­riums­for­scher, offiziell als das »Zeitalter der Mas­sen­kom­mu­ni­ka­tions­mit­tel« klas­si­fi­ziert. Nun ist es wissenschaftlich beglaubigt, daß das »Ereignis« mit seiner Interpretation identisch, daß die Presse die Welt, daß der Journalist im wahr­sten Sinn des Wortes der Ge­schichts­ma­cher ist. So wie die Natur die Kunst imi­tiert, so bestätigt die Wis­sen­schaft von 1971 den Propheten von 1897: An den Uni­ver­si­tä­ten wird heute, wenn auch in viel schlechterem Deutsch, als letzte Er­kennt­nis des Laboratoriums verkündet, was vor mehr als siebzig Jahren in der »Fackel« stand.

Daß die Welt so lange brauchte, sich selbst dahinterzukommen, liegt zum Teil am be­harr­li­chen Ent­schluß des Journalismus, gegen seine »Überschätzung« zu pro­pa­gie­ren. Dem Jour­na­lis­mus tut es wohl, wenn gescheite Leute darüber streiten, ob Wirt­schaft oder Politik »das Pri­mat« habe — wo doch die Journalisten (und Karl Kraus) schon immer wußten, daß das Pri­mat weder Wirt­schaft, noch Politik, son­dern der Jour­na­li­smus besitzt. Die Marxisten (und die »Liberalen«) hatten schon im­mer die Wirt­schaft im Verdacht; und die Konservativen die Poli­tik. Der Journalismus freute sich des Zankes (»oh wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rum­pel­stilz­chen heiß”) — und regierte. Bis Karl Kraus aufstand und sagte: »Ich ken­ne keine Par­teien mehr, ich kenne nur noch Zeitungsleser …« Das heißt, auch die Erkenntnis des Karl Kraus nützte nichts — so wie auch die Er­kennt­nis der Ky­ber­ne­ti­ker nichts nützen wird. Die Welt wird weiterhin vom Journalismus regiert werden — ein­fach weil die moderne Welt, in der die Menschen ihr Perzeptionsvermögen ver­lor­en haben, nicht anders regiert wer­den kann. Aber nunmehr haben wir we­nig­stens die Möglichkeit, die Ver­ant­wort­lich­kei­ten festzulegen.

Daß sich die Welt so lange sträubte, in den Journalisten ihre wahren Regierer zu er­ken­nen, wird geradezu unfaßbar, wenn man die Personalunion zwischen Politik und Jour­na­lis­mus bedenkt, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts durchzusetzen begann. Karl Marx, Friedrich Engels, Jaurès, Masaryk, Clemenceau, Briand, Lloyd George, Win­ston Churchill, Lenin, Trotzky, Stalin, Hitler, Goebbels, sogar der sprach­ge­hemm­te Willy Brandt — sie alle waren von Beruf und Haltung Jour­na­lis­ten; also Männer, die vom Mund­werk des Jour­na­lis­mus zum Hand­werk der Politik gelangten. Bismarcks bit­te­res Wort, Journalisten seien Leute, die ihren Be­ruf ver­fehlt hätten, traf daneben: Es stellte sich heraus, daß Journalisten Leute sind, die den Beruf des Regierens sehr gründ­lich gelernt hatten — für eine Ge­schicht­sepo­che aller­dings, in der das Regieren nicht mehr die Qua­li­tä­ten Bis­marcks, sondern nur noch die Qua­li­tä­ten des Jour­na­lis­mus erfordert; nämlich die Qualitäten der Wen­dig­keit, der Zungenfertigkeit, der Imi­ta­tions­fä­hig­keit, eines wachen Sinns für die Neugierde und die Phantasielosigkeit der Mitmenschen; und den Zynismus, ihre Per­zep­tions­schwä­chen auszunützen. Jedenfalls gab es seit dem Ende des 19. Jahr­hun­derts wahrlich allerhand Anlaß, das Primat des Jour­na­lis­mus in der mo­der­nen Gesellschaft zu merken. Daß die Gelegenheit so hart­näckig versäumt wurde, bleibt eines der interessantesten Kapitel in der langen Ge­schich­te der Denk­faul­heit.

spaceholder bluewideFreilich gab es in keinem der vorangegangenen Kapitel dieser Geschichte einen so po­ten­ten Nähr­stoff für Denk­faul­heit wie den modernen Journalismus: Er hemmt die Debatte, in­dem er sie führt. Außer den Journalisten selbst zweifelt wohl nie­mand mehr daran, daß die Fä­hig­keit des Menschen, sich seiner eigenen Meinung be­wußt zu werden, in dem Maße ab­nimmt, in welchem er anderen Meinungen ausgesetzt ist. Je mehr Meinungen seine Presse hat, desto weniger Meinung hat der Leser — weil er nämlich nur noch die Meinungen seiner Presse haben könnte. Und das liegt nicht nur an der begrenzten Aufnahme- und For­mungs­fä­hig­keit des Men­schen für Mei­nun­gen, sondern auch daran, daß das Überangebot an Meinungen in seiner Presse diese ohnehin begrenzte Fähigkeit auch noch sehr er­heb­lich re­du­ziert. Dem Konsumenten der»Meinungspresse« geht es so wiedem Konsumenten von zu viel Schokolade: er verliert den Appetit. Aber da er zu schüchtern ist, seinen Ap­pe­tit­schwund zu bekennen, setzt er den allseits geübten Konsum fort, wenn auch mit wachsendem Widerwillen. Dieser un­ter­grün­di­ge Widerwillen des Pub­li­kums ge­gen eine Überproduktion von »Meinungen« führt frei­lich hie und da zu solchen Kata­stro­phen des Totalverzichts auf Meinungsverschiedenheit wie zum Dritten Reich (in welchem bekanntlich kein Versprechen so verführerisch war wie das auf »Ab­schaf­fung des Parteihaders und der Quatschbuden«). Jedenfalls lehrt die jüng­ste Ge­schich­te, daß ein Volk, dem zu viele Führer mit zu vielen di­ver­gie­ren­den »Mei­nun­gen« an­ge­bo­ten werden, sich gerne, wenn man es nur läßt, für »Ein Volk, Ein Reich, Ein Führer« ent­schei­det.

Kann es aber eine andere Presse geben als die »Meinungspresse«? Die Zeitung ist selbst dort, wo sie nur »berichtet«, ihrem Wesen nach »gemacht«: die Auswahl der be­rich­te­ten »Er­eig­nis­se«, ihrer Darstellungen und ihrer Darsteller ist der Auftrag des »Zeitungsmachers« (wie der disponierende Redakteur ja auch ganz aufrichtig im Branchenjargon genannt wird). Daß der disponierende Redakteur nicht gut anders handeln kann als innerhalb seines subjektiven Wert- und Begriffsystems, ist eine Binsenwahrheit. Weniger allgemein akzeptiert ist freilich die semantische Einsicht, daß »Meinung« eben nur eine sprachliche Aussage innerhalb des sub­jek­ti­ven Wert- und Begriffsystems ist. Eine Aussage ohne »Meinung« ist nur in der mathe­ma­ti­schen Formel möglich: Die Mathematiker mußten ein System von Zei­chen und Zif­fern erfinden, um außerhalb der »meinenden« Sprache »mei­nungs­lo­se« Aussagen machen zu kön­nen. Und solange die Presse nicht Tatbestände mit solchen Zeichen und Ziffern be­schrei­ben kann, ist sie ihrem Wesen nach auch dort, wo sie »nur be­rich­tet«, eine »Mei­nungs­presse«.

spaceholder bluewideDas Unheil der Presse beginnt mit dem Anspruch des Journalismus auf funk­ti­o­nel­le Ob­jek­ti­vi­tät, also mit der Anonymität des Journalisten. Wer in der Ich-Form erzählt, be­rich­tet, meint oder vor­schlägt, ist mehr oder minder amüsant, mehr oder minder interessant, mehr oder minder erfinderisch; aber eben ein Erzähler und nicht ein Journalist. Wenn er jedoch auf die Ich-Form verzichtet, in der ano­ny­mi­sie­ren­den »Wir«-Form »für die Zeitung« spricht, tauscht der mehr oder min­der be­deu­ten­de Erzähler seine subjektive Persönlichkeit für ob­jek­ti­ve Auto­ri­tät ein; und erst damit wird er zum Journalisten. Es entspricht genau dem Wesen der Zei­tung, daß die bescheidene Ich-Form (eine rechtzeitige Warnung an den Leser: »hier spricht niemand anderer als ich«) in der Branche als ar­ro­gan­te Un­be­schei­den­heit ver­pönt wird: Die Zeitung wäre nämlich keine Zeitung, bestünde sie nicht auf die kol­lek­ti­ve Autorität des anonymen Gruppenfunktionärs. Es wird zwar nie klar­ge­stellt, in wessen Namen, in wessen Auftrag da eigentlich gesprochen wird; aber dem Leser wird immer der Ein­druck auf­ge­zwun­gen, daß hier »die« Zeitung spricht. Der trainierte Leser sagt infolgedessen nie, er habe dies und das von einem Herrn Soundso zu hören bekommen, sondern er sagt, er habe »in der Zei­tung« gelesen: Die subjektive Mitteilung hat, weil sie auf Zeitungspapier vorgebracht wurde, ob­jek­ti­ve Auto­ri­tät erhalten.

Daß die moderne Zeitung immer häufiger dem Journalisten gestattet, seinen Na­men unter den »Bericht« zu setzen, ändert nicht das Geringste am unheilvollen An­spruch der Zeitung auf kol­lek­ti­ve Au­to­ri­tät — schon deshalb nicht, weil auch der na­ment­lich genannte Verfasser auf alle Geständnisse seiner Subjektivität ver­zich­ten muß. Und er muß es deshalb tun, weil er sonst ja keinen Anspruch auf die Ver­öf­fent­li­chung seines Opus hätte — es sei denn, die Qua­li­tät der berichtenden Per­sön­lich­keit mache ihre Ich-Aussage bemerkenswert. Aber in diesem Falle könnte es sich ja kaum um einen Angestellten der Zeitung handeln: Wäre der Mann ein Schrift­stel­ler von jener bemerkenswerten Qualität, wäre er wohl nicht im ano­ny­men und kom­man­dier­ten Ver­band der Zeitung geblieben. Der Tatbestand ist ge­wöhn­lich ge­nau um­ge­kehrt: Der Jour­na­list, der seinen Namen unter seinen »Be­richt« setzen darf, bezieht seine derart geförderte Autorität ausschließlich von der Autorität des anonymen Kollektivs: Er wird sub­jek­tiv nur deswegen »interessant«, weil er im Auftrag der Zeitung schreiben darf. (Ein Bei­spiel für Tau­sen­de: Ein Mann namens Otto Köhler äußert sich im »Spiegel« regelmäßig über die Leistungen des deut­schen Journalismus. Schriebe er nicht im »Spiegel«, würde sich kaum ein Mensch in Deutschland für die Befunde des zufälligen Herrn Köhler interessieren: der Mann besaß, ehe er im »Spiegel« Zensuren austeilte, keinerlei in­tel­lek­tu­elle Le­gi­ti­ma­tion. Otto Köhler ist ein durchaus anonymes Produkt des »Spiegel« geblieben — aber nun ver­wen­det ihn die Redaktion als subjektive Autorität: Das Blatt-Kollektiv zeugt einen Ho­mun­ku­lus und läßt ihn, zur Steigerung seiner eigenen ano­ny­men Auto­ri­tät, als einen Mann namens Otto Köhler agieren.)

spaceholder bluewideUnd was hier über den Journalismus der gedruckten Presse gesagt wurde, gilt doppelt und dreifach für die letzten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts, der Epoche also, in der Rundfunk und Fernschen die gedruckte Presse zunehmend ersetzen. Die gedruckte Presse, das Durch­blu­tungs­system des Li­be­ra­li­smus, herrschte im letzten Drit­tel des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Das Erbe dieser Herr­schaft trat mit dem zweiten Drittel unseres Jahr­hun­derts der Rund­funk an — auch er nach dem Ebenbild (und im Weltbild) des Jour­na­lis­ten ge­formt, aber nun zur All­macht aufgestiegen, weil ihm Allgegenwart gegeben ist. Die Mei­nungs­mache­rei der ge­druck­ten Zeitung war auf einen Bruchteil der Nation beschränkt (frei­lich auf ihren we­sent­li­chsten Teil). Die Meinungsmacherei des Fernsehens und des Rund­funks er­reicht die ganze Nation.

Daß die bürgerliche Gesellschaft das blutig ernste Geschäft der Mei­nungs­mache­rei dem Journalismus überantwortete, und ihm zu einem Mono­pol der Be­wußt­seins­bil­dung verhalf, ist die wahre Krank­heit des Jahr­hun­derts. Denn eben das ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geschehen: Die Gesellschaft, viel zu sehr mit der Pro­dukt­ion ihres Wohlstands beschäftigt, hörte auf, sich selbst zu verstehen und ver­ständ­lich zu machen; vielmehr überließ sie die wich­tig­ste Funktion jeder Gesellschaft, nämlich sich in der Bewußtseinsformung ihrer Mit­glie­der selbst zu emp­feh­len und zu verstehen, einer gänzlich neuen Berufsgruppe von In­ter­pre­ta­tions-Tech­ni­kern (die freilich von Anfang an selbsternannt waren und keine andere Le­gi­ti­ma­tion zur In­ter­pre­ta­tion der überlieferten Gesellschaft besaßen als wen­di­gen Zynismus und keckes Selbstbewußtsein). Und je länger diese eigenartigen Experten die ge­sell­schaft­li­che In­ter­pre­ta­tion besorgten, desto hifloser und de­mü­ti­ger wurde die bürgerliche Gesellschaft.

spaceholder bluewideIm 17. und 18. Jahrhundert kannten die Träger der politischen und wirt­schaft­li­chen Macht kei­ne wich­ti­gere und keine vornehmere persönliche Auf­ga­be als die Bewußt­seins­for­mung ihrer Zeit. Die besten und gebildetsten »Mitglieder der herr­schen­den Klasse« waren gerade gut genug für diese Aufgabe. (Die Jeffersons und Madisons und Hamiltons, die Journalisten der Amerikanischen Revolution von 1776, zählten zu den reichsten, vornehmsten und ge­bil­det­sten Bürgern des Landes.) Als aber im 19. Jahrhundert »die herrschende Klasse« in den Wir­bel­wind ka­pi­ta­lis­ti­schen Wachs­tums geriet, delegierte sie die vornehmste Aufgabe einer Ge­sell­schaft (eben die Formung des menschlichen Bewußtseins) an eine Schicht, deren Wen­dig­keit und Zungenfertigkeit sie für einen solchen Auftrag scheinbar qualifiziert — eben an den eigenartigen Sozialtypus des Journalisten, des »Ideologen«, des selbst­er­nann­ten Fach­manns für »Volksseele«, für »Zeitgeist«, für die Mode, für alles. Aber indem das Bil­dungs­bür­ger­tum das Ackern und Jäten im Arbeitsfeld der »öf­fent­li­chen Meinung« diesen an­ge­heu­er­ten Hilfs­ar­bei­tern überließ, verzichtete es zu­neh­mend auf die wesentlichste Macht »der herr­schen­den Klasse« — auf ihre Macht, und ihre Pflicht, die überlieferte Wert- und Ge­sell­schafts­ord­nung ihren Mit­bür­gern verständlich, annehmbar und liebenswert zu machen.

spaceholder bluewideDie Lethargie, mit der das Bildungsbürgertum seit dem Ende des 19. Jahr­hun­derts dem Journalismus die »öffentliche Meinung« überläßt, wurde ge­för­dert durch die gewaltigen Konsequenzen des Allgemeinen Wahlrechts: Seit dem 19. Jahr­hun­dert muß »mit Zustimmung der Regierten« regiert werden &mdah; und wie kann man das, wenn man diese Zustimmung nicht mit Artikulation zu erwerben versteht? Wer aber sollte das besser verstehen als der Journalist, der berufsmäßig ar­ti­ku­liert? Mit solchen Überlegungen und Rücksichten geriet »die herrschende Klasse« in im­mer hilflosere Abhängigkeit von den journalistischen Hilfsarbeitern, die sie ur­sprüng­lich angeheuert hatte, um die Regierer den Regierten, die Ordnung den Ge­ord­ne­ten ver­ständ­lich und liebenswert zu machen.

Gewiß, das Mittel hat den Zweck erschlagen, der Journalismus hat die Ge­sell­schafts­ord­nung für die Menschen verbiestert. Aber »die herrschende Klasse« merkt das noch immer nicht. Die Inserate der Großindustrie machen den Aufstands-Jour­na­lis­mus von »stern« und »Spiegel« zu einer Goldgrube; und in der Zeit seines größ­ten Wohlstandes bringt es das deutsche Bildungsbürgertum nicht fertig, für sich selbst einzutreten: Seit zwanzig Jahren bemühen sich einige konservative Schrift­stel­ler in der Bundesrepublik um die Schaffung einer Zeitschrift, die lesbar und mit intellektueller Überlegenheit die überlieferten Werte der europäischen Ge­sell­schaft zu verteidigen versteht; und seit zwanzig Jahren scheitert das Projekt an der Lethargie des Bildungsbürgertums, an der Feigheit des Kapitals, an der hal­tungs­lo­sen Unterwürfigkeit »der herrschenden Klasse« gegenüber dem kessen Links­jour­na­lis­mus.

Die Schulen, die Universitäten, das Fernsehen, der Rundfunk, die Presse, die Ver­la­ge, das Theater — alle Instrumente der Bewußtseinsbildung hat der moderne Ka­pi­ta­lis­mus einer »Intelligenz« ausgeliefert, die sich selbst als einen un­ver­söhn­li­chen Feind unserer Gesellschaft versteht. Und eben das sah Joseph v. Schum­peter vor einem halben Jahrhundert voraus: daß der Kapitalismus nicht etwa an Un­zu­läng­lich­kei­ten seiner eigenen Struktur, sondern an sagenhafter Un­emp­find­lich­keit ge­gen­über seiner geistigen Entwicklung zugrundegehen werde.

spaceholder bluewideAlle, ausnahmslos alle gesellschaftlichen Katastrophen der letzten neun Jahr­zehn­te waren Konsequenzen bestimmter nationaler Bewußtseinszustände, die durch »öffentliche Meinung« geschaffen waren. Die innere Unruhe der zwei großen Mo­nar­chien Mitteleuropas (und also der Erste Weltkrieg) war verursacht durch die na­ti­o­na­lis­ti­sche Bewußtseinsverkrümmung; die innere Unruhe Europas (und also der Zweite Weltkrieg und seine Fortsetzung, der Kalte Krieg) durch die so­zia­li­sti­sche Be­wußt­seins­stö­rung. Anders ausgedrückt: seit Beginn des 20. Jahrhunderts ver­än­dern Weltbilder die Welt — im gewalttätigen Widerspruch zur Realität be­mäch­ti­gen sich »Ideologien« zuerst der Menschen und dann auch der Realität.

Der österreichische Außenminister, dessen deutschnationale Leichtfertigkeit 1914 den Ersten Weltkrieg auslöste, war ebenso nur ein Agent der »öffentlichen Mei­nung« wie es Lenin war, als er 1917 (nur für eine exemplarische Woche, wie er da­mals etwas skeptisch hoffte) in Rußland die Macht ergriff: Beide waren von »Ideo­lo­gien« motiviert, und beide waren entschlossen, ihre »Ideologie« innerhalb einer Welt durchzusetzen, deren Lebensinteresse mit solcher »Ideologie« unvereinbar war. Daß Männer wie Lenin, Graf Berchtold, Hitler, Wilson, Stalin, Wilhelm II. und all die anderen Führerfiguren des Jahrhunderts die »Ideologien«, deren Opfer sie wur­den, mit­ge­schaf­fen hatten, ändert nichts an ihrer Funktion als bloße Agenten der »öffentlichen Meinung«: Keiner dieser Männer wäre geworden, was er wurde, und hätte getan, was er tat, hätte sich nicht eine bestimmte »öffentliche Mei­nung« we­sent­li­cher Schichten ihrer Nation bemächtigt. Ehe aber eine Nation »geführt« wer­den kann, muß sie »geführt« sein wollen; und zwar in jener Richtung, die der »Führer« weist. Es muß also ins Bewußtsein der Nation effektiv eingegriffen wor­den sein — und zwar durch die einzige Kraft, die das vermag, nämlich die »öf­fent­li­che Meinung«.

Dagegen wendet der Journalismus, der ja so gerne unterschätzt sein möchte, ein scheinbar stichhaltiges Argument ein: daß die Presse, die seit drei Jahrzehnten durch Rundfunk und Fernsehen an Reichweite multipliziert wird, nur ganz selten vom Wählervolk bestätigt worden ist. In der Tat wird beim demokratischen Wahlakt meistens so abgestimmt, als ob es die Presse nicht gäbe: Die SPD war schon im Wil­helm­ini­schen Deutschland die stärkste Partei im Reichstag (zu einer Zeit also, da die liberale Presse Deutschlands noch gegen die SPD schrieb); und in Amerika lösen de­mo­kra­ti­sche und republikanische Präsidenten, seit dem frühen 19. Jahrhundert, ein­ander in einem Rhythmus ab, der selten mit dem jeweiligen Vorurteil der Leit­ar­tik­ler übereinstimmt. Karl Lueger, Wiens ewiger Bürgermeister in der Kai­ser­zeit, und charismatischer Führer der Christlich-Sozialen Partei im Parlament, sammelte Wäh­ler­mehr­hei­ten geradezu im umgekehrten Verhältnis zum Wachstum der li­be­ra­len Presse Wiens … Kann man da von Herrschaft der Presse sprechen?

Man kann das nur dann nicht, wenn man den demokratischen Wahlakt als Herr­schaft­sakt mißversteht. Wer hingegen allmählich begriffen hat, daß in Demokratien nicht der Wähler, sondern im besten Fall der Gewählte regiert, läßt sich durch die wahlpolitische Wirkungslosigkeit der Presse nicht verwirren. Der Wähler spricht nur alle vier, fünf oder sechs Jahre — aber die Presse spricht jeden Tag. Und ist er erst einmal gewählt, bleibt der Gewählte dem täglichen Zuspruch ausgesetzt. Tag­täg­li­che Massage der »öffentlichen Meinung« erweist sich dann selbstverständlich wirk­sa­mer als das Votum der Wähler, das einmal in vier, fünf oder sechs Jahren ab­ge­ge­ben wird. Der demokratische Mandatar kann einfach nicht anders, als die Presse in den langen Intervallen zwischen zwei Wahlakten um die »Volksmeinung« zu be­fra­gen. Gewählt wird nur einmal in Jahren, aber regiert werden muß täglich — und wie könnten sich die gewählten Regierer der tag­täg­li­chen Kund­ge­bung des »Volks­wil­lens« ent­zie­hen? Daß dieser »Volkswillen« von der Presse fingiert wird, ahnt frei­lich fast jeder Parlamentarier — und starrt weiterhin gebannt auf die Presse. Ich habe in fünfzig Jahren, in Europa und in Amerika, nicht einen Politiker ken­nen­ge­lernt, der dem Journalismus traute; aber ich habe auch kaum einen Politiker ge­kannt, der sich nicht ängstlich nach der Presse ausgerichtet hätte.

spaceholder bluewideDie Presse herrscht in Demokratien, weil in Demokratien nicht die Politik herrscht, sondern »der Zeitgeist« — die modischen kulturellen und »ideologischen« Vor­stel­lun­gen, die sich die Menschen voneinander, von der Welt und vom Leben ma­chen. Am Wahltag, alle paar Jahre einmal, fällt der Normalwähler in den un­ter­grün­di­gen Konservatismus von gestern zurück und wählt, ungefähr, wie schon sein Va­ter und sein Großvater gewählt haben. Aber am Tag nach der Wahl kehrt der Wäh­ler (und ganz gewiß der Gewählte) ins modische Leben zurück, ist er wieder vom »Zeitgeist« berieselt, bezieht er wieder seine unterschwellige »Information«, seine »images«, sein Weltbild vom Fernschen, vom Rundfunk, von der Presse. Das ist, wie man sieht, nur eine zeitgeschichtliche Variante der alten und weisen Er­kennt­nis, daß der Mann, der einem Volke seine Lieder schreibt, mächtiger ist als der Gesetzesschreiber. Die Volkslieder schreibt seit hundert Jahren die Presse — und selbst die mißtrauischsten Politiker summen mit.

In keiner anderen Herrschaftsform sind »meinungsbildende Eliten« so ent­schei­dend wie in der Demokratie. Seit dem Durchbruch des Allgemeinen Wahl­rechts im 19. Jahrhundert, seitdem nur noch »mit Zustimmung der Regierten« regiert werden kann, ist Meinungsbildung schlechthin identisch mit Regieren — und die eu­ro­pä­ische Gesellschaft hat die Meinungsbildung dem Journalismus überlassen! Je mehr die substantiellen und hochwertigen Intelligenzen von Wirtschaft und Wis­sens­chaft gebraucht, angezogen, gesucht und entsprechend honoriert werden, desto frag­wür­di­ger und hemmungsloser wird die verbleibende Intelligenz, die zur Presse ab­wan­dert und in der Meinungsbildung alle ihre Ressentiments ausleben darf. Wo­raus sich das Paradox ergibt, daß die Epoche der Entfaltung höchster Intelligenz in Wirt­schaft und Wissenschaft zugleich auch die Epoche des schäbigsten Jour­na­lis­mus, der inferiorsten »Ideologien« wird.

Der Glanz des 20. Jahrhunderts ist die gewaltig steigende Leistungskraft von Wis­sen­schaft und Wirt­schaft — sein Elend ist die steigende Macht des Journalismus: Die zynische Leichtfertigkeit der »Ideologie« (also journalistischer Rezepte für er­fun­de­ne Krankheiten) verspielt, in jeder Generation von neuem, die menschlichen Chan­cen, die Wissenschaft und Wirtschaft von Generation zu Generation erhöhen. Der postulierte »Fortschritt« hebt den wahren Fortschritt auf, der wütende Griff nach »Freiheit« die Freiheit, die gespielte Hingabe an eine fiktive »Menschheit« die Nächstenliebe. Politik, ursprünglich ein Instrumentarium zum Schutz der Per­son, verlangt nun den ganzen Menschen. Was sicherstellen sollte, daß der Mensch sei­nem Sittengesetz entsprechend arbeiten, beten und lieben dürfe, wird zum al­lei­ni­gen Inhalt der Arbeit, des Gebets und der Liebe: Mit dem Totschlagwort der »Demokratisierung« will der journalistische Zeitgeist die totale Politisierung des Menschen erreichen — seine totale Auslieferung an manipulierte Mehr­heits­be­schlüs­se.

Diese Konfrontation von Vernunft und Politik, von Sittengesetz und »Ideologie«, von Person und Staat, von Selbstverfügung und Mehrheitswillen, war der ganze Ge­schichts­in­halt des 20. Jahrhunderts. Wann immer Vernunft, Sittengesetz, Person und Selbstverfügung auf ihr Primat bestanden, hat dieses Jahrhundert geglänzt. Wann immer Politik, »Ideologie«, Staat und Mehrheitswillen das europäische Schick­sal bestimmen konnten, war es ein Jahrhundert der elenden Katastrophen. Wenn der Europäer endlich fähig wird, diese wesentliche Lehre der letzten neun Jahr­zehn­te zu erfassen, ist das 20. Jahrhundert noch nicht zu Ende: es könnte wie­der glänzen. end-black


Geschrieben und als Privatdruck veröffentlicht im Jahr 1971. Der Text ist leicht gekürzt.


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