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n diesem Jahrhundert ist der Journalismus zum wahren Herrscher der Gesellschaft aufgestiegen. Und was ist der Journalismus? Er ist die Hand- und Mundfertigkeit, einem Publikum, das zunehmend verlernt, die Welt selbst wahrzunehmen, die Wahrnehmung als Ware zu verkaufen. Die Zeitung wurde erst möglich in einer Welt, derer sich auch der intelligente Mensch nicht mehr bemächtigen kann, weil sie zu kompliziert, zu gedehnt, zu undurchsichtig geworden ist. Im 18. Jahrhundert stand ein Mann, der die Bibel und Shakespeare kannte, auf der Höhe seiner Zeit: er besaß alle Informationen, die er zum Verständnis seiner Welt und seiner Mitmenschen brauchte.
Das »Ereignis«, jedes Ereignis, blieb seiner persönlichen Erfahrung zugänglich: selbst noch der Krieg war eine unmittelbar erlebte Tragödie, von unmittelbar erkennbaren Begierden irgendwelcher Könige ausgelöst. Es gab keine Zeitungen, weil nichts zu »berichten« war, was eine kaufkräftige Neugierde provozieren hätte können. Das hat der liebenswerte Matthias Claudius erfahren, der mit seinem »Wandsbeker Boten« (1771) eine Zeitung begründete, die ihren Lesern als die große Neuigkeit des Tages mitzuteilen wußte, heute habe zum ersten Male die Nachtigall im Garten geschlagen. Der »Wandsbeker Bote« ging nach drei Jahren ein: Wer an Nachtigallen Gefallen fand, hatte sie im eigenen Garten gehört; und wen das Schlagen der Nachtigall nichts anging, der kaufte erst recht nicht die Zeitung des guten Matthias Claudius.
Erst als der moderne Mensch der Nachtigall, der Natur und des schlichten Rhythmus menschlichen Lebens entwöhnt war, erst als die Groß-Stadt, der Groß-Staat, der Groß-Betrieb den künstlichen Rhythmus des Lebens zu bestimmen begannen — da erst war die Zeit für die Zeitung gekommen. Denn die Komplizierung der Gesellschaft bringt ihre Atomisierung mit sich: In dem Maße, in dem die menschlichen Beziehungen sich erweitern, verflechten, verdichten, im gleichen Maße wird der Mensch einsam, isoliert, seiner Perzeptionsmöglichkeiten beraubt. Was geschieht, geschieht nicht mehr ihm. Und da erst wird das Geschehen zum »Ereignis«.
Zum »Ereignis« wird es freilich nur, weil die Zeitung es berichtet. Die Zeitung wurde notwendig, oder immerhin möglich, weil ohne sie der moderne Mensch vom »Ereignis« — also dem Geschehen außerhalb seines persönlichen Perzeptionsvermögens — gar nicht Notiz nehmen könnte. Nicht nur liest er die Zeitung so, »als ob er dabei gewesen wäre« — er erlebt das »Ereignis« wirklich nur, weil er es von der Zeitung vorerlebt bekommt. Daß die Zeitung die Sinne des Menschen »erweitert« (also manipuliert) ist nicht ein Übel, sondern das Wesen der Zeitung. Die Zeitung ist dazu da, für den Leser (also an seiner Stelle) zu sehen, zu hören, zu fühlen, zu schmecken, zu urteilen, zu reagieren. Sie ist das Erlebnis aus zweiter Hand; aus einer Hand also, die naturnotwendig manipuliert: Das »Ereignis« wird dem Leser als sein »Erlebnis« geliefert — für den psychischen Konsum zubereitet, gefällig verpackt und, vor allem, preiswert.
Der Journalist ist genau der Mann, der eine solche Ware produzieren kann: perzeptionsfähig, behend, mit einem wachen Sinn für die Perzeptionsstörungen seines Lesers und mit dem Zynismus ausgestattet, ihnen zu entsprechen. Weil Karl Kraus das vor siebzig Jahren verstand, hat er den sogenannten »üblen« Journalisten nicht als einen »Auswuchs«, sondern eher als eine Erfüllung des Journalismus empfunden. Gewiß, die »Fackel« jagte Moritz Benedikt, den schrecklichen Chef der Wiener »Neuen Freien Presse« (und gar erst den Imre Bèkessy) mit der Erbarmungslosigkeit eines zutiefst privaten Hasses; aber noch im pathetischesten Zorn ist Karl Kraus die Klarstellung geglückt, daß es sich ihm nie um die Ausnahmen, sondern immer um die Regel handelt: daß nicht die Journalisten, sondern der Journalismus, nicht die verletzten, sondern die erfüllten Pflichten des Journalismus das menschliche Erlebnisvermögen verfälschen, verschmutzen, vernichten.
Daß er »überschätzt« wird, glaubt nur der Journalismus. Zwei, drei Jahrzehnte nach dem Tod des Karl Kraus ist die Wissenschaft am Ausgangspunkt seiner »Fackel« angelangt: the medium is the message. Diese Formulierung des Professor McLuhan ist die präzise Zusammenfassung aller erkenntniskritischen Arbeiten der Kybernetik, der modernen Wissenschaft vom »Wesen und Wirken der Kommunikationstechniken«. Unser Zeitalter ist nun also von seiner höchsten Autorität, vom Laboratoriumsforscher, offiziell als das »Zeitalter der Massenkommunikationsmittel« klassifiziert. Nun ist es wissenschaftlich beglaubigt, daß das »Ereignis« mit seiner Interpretation identisch, daß die Presse die Welt, daß der Journalist im wahrsten Sinn des Wortes der Geschichtsmacher ist. So wie die Natur die Kunst imitiert, so bestätigt die Wissenschaft von 1971 den Propheten von 1897: An den Universitäten wird heute, wenn auch in viel schlechterem Deutsch, als letzte Erkenntnis des Laboratoriums verkündet, was vor mehr als siebzig Jahren in der »Fackel« stand.
Daß die Welt so lange brauchte, sich selbst dahinterzukommen, liegt zum Teil am beharrlichen Entschluß des Journalismus, gegen seine »Überschätzung« zu propagieren. Dem Journalismus tut es wohl, wenn gescheite Leute darüber streiten, ob Wirtschaft oder Politik »das Primat« habe — wo doch die Journalisten (und Karl Kraus) schon immer wußten, daß das Primat weder Wirtschaft, noch Politik, sondern der Journalismus besitzt. Die Marxisten (und die »Liberalen«) hatten schon immer die Wirtschaft im Verdacht; und die Konservativen die Politik. Der Journalismus freute sich des Zankes (»oh wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß”) — und regierte. Bis Karl Kraus aufstand und sagte: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Zeitungsleser …« Das heißt, auch die Erkenntnis des Karl Kraus nützte nichts — so wie auch die Erkenntnis der Kybernetiker nichts nützen wird. Die Welt wird weiterhin vom Journalismus regiert werden — einfach weil die moderne Welt, in der die Menschen ihr Perzeptionsvermögen verloren haben, nicht anders regiert werden kann. Aber nunmehr haben wir wenigstens die Möglichkeit, die Verantwortlichkeiten festzulegen.
Daß sich die Welt so lange sträubte, in den Journalisten ihre wahren Regierer zu erkennen, wird geradezu unfaßbar, wenn man die Personalunion zwischen Politik und Journalismus bedenkt, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts durchzusetzen begann. Karl Marx, Friedrich Engels, Jaurès, Masaryk, Clemenceau, Briand, Lloyd George, Winston Churchill, Lenin, Trotzky, Stalin, Hitler, Goebbels, sogar der sprachgehemmte Willy Brandt — sie alle waren von Beruf und Haltung Journalisten; also Männer, die vom Mundwerk des Journalismus zum Handwerk der Politik gelangten. Bismarcks bitteres Wort, Journalisten seien Leute, die ihren Beruf verfehlt hätten, traf daneben: Es stellte sich heraus, daß Journalisten Leute sind, die den Beruf des Regierens sehr gründlich gelernt hatten — für eine Geschichtsepoche allerdings, in der das Regieren nicht mehr die Qualitäten Bismarcks, sondern nur noch die Qualitäten des Journalismus erfordert; nämlich die Qualitäten der Wendigkeit, der Zungenfertigkeit, der Imitationsfähigkeit, eines wachen Sinns für die Neugierde und die Phantasielosigkeit der Mitmenschen; und den Zynismus, ihre Perzeptionsschwächen auszunützen. Jedenfalls gab es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wahrlich allerhand Anlaß, das Primat des Journalismus in der modernen Gesellschaft zu merken. Daß die Gelegenheit so hartnäckig versäumt wurde, bleibt eines der interessantesten Kapitel in der langen Geschichte der Denkfaulheit.
Freilich gab es in keinem der vorangegangenen Kapitel dieser Geschichte einen so potenten Nährstoff für Denkfaulheit wie den modernen Journalismus: Er hemmt die Debatte, indem er sie führt. Außer den Journalisten selbst zweifelt wohl niemand mehr daran, daß die Fähigkeit des Menschen, sich seiner eigenen Meinung bewußt zu werden, in dem Maße abnimmt, in welchem er anderen Meinungen ausgesetzt ist. Je mehr Meinungen seine Presse hat, desto weniger Meinung hat der Leser — weil er nämlich nur noch die Meinungen seiner Presse haben könnte. Und das liegt nicht nur an der begrenzten Aufnahme- und Formungsfähigkeit des Menschen für Meinungen, sondern auch daran, daß das Überangebot an Meinungen in seiner Presse diese ohnehin begrenzte Fähigkeit auch noch sehr erheblich reduziert. Dem Konsumenten der»Meinungspresse« geht es so wiedem Konsumenten von zu viel Schokolade: er verliert den Appetit. Aber da er zu schüchtern ist, seinen Appetitschwund zu bekennen, setzt er den allseits geübten Konsum fort, wenn auch mit wachsendem Widerwillen. Dieser untergründige Widerwillen des Publikums gegen eine Überproduktion von »Meinungen« führt freilich hie und da zu solchen Katastrophen des Totalverzichts auf Meinungsverschiedenheit wie zum Dritten Reich (in welchem bekanntlich kein Versprechen so verführerisch war wie das auf »Abschaffung des Parteihaders und der Quatschbuden«). Jedenfalls lehrt die jüngste Geschichte, daß ein Volk, dem zu viele Führer mit zu vielen divergierenden »Meinungen« angeboten werden, sich gerne, wenn man es nur läßt, für »Ein Volk, Ein Reich, Ein Führer« entscheidet.
Kann es aber eine andere Presse geben als die »Meinungspresse«? Die Zeitung ist selbst dort, wo sie nur »berichtet«, ihrem Wesen nach »gemacht«: die Auswahl der berichteten »Ereignisse«, ihrer Darstellungen und ihrer Darsteller ist der Auftrag des »Zeitungsmachers« (wie der disponierende Redakteur ja auch ganz aufrichtig im Branchenjargon genannt wird). Daß der disponierende Redakteur nicht gut anders handeln kann als innerhalb seines subjektiven Wert- und Begriffsystems, ist eine Binsenwahrheit. Weniger allgemein akzeptiert ist freilich die semantische Einsicht, daß »Meinung« eben nur eine sprachliche Aussage innerhalb des subjektiven Wert- und Begriffsystems ist. Eine Aussage ohne »Meinung« ist nur in der mathematischen Formel möglich: Die Mathematiker mußten ein System von Zeichen und Ziffern erfinden, um außerhalb der »meinenden« Sprache »meinungslose« Aussagen machen zu können. Und solange die Presse nicht Tatbestände mit solchen Zeichen und Ziffern beschreiben kann, ist sie ihrem Wesen nach auch dort, wo sie »nur berichtet«, eine »Meinungspresse«.
Das Unheil der Presse beginnt mit dem Anspruch des Journalismus auf funktionelle Objektivität, also mit der Anonymität des Journalisten. Wer in der Ich-Form erzählt, berichtet, meint oder vorschlägt, ist mehr oder minder amüsant, mehr oder minder interessant, mehr oder minder erfinderisch; aber eben ein Erzähler und nicht ein Journalist. Wenn er jedoch auf die Ich-Form verzichtet, in der anonymisierenden »Wir«-Form »für die Zeitung« spricht, tauscht der mehr oder minder bedeutende Erzähler seine subjektive Persönlichkeit für objektive Autorität ein; und erst damit wird er zum Journalisten. Es entspricht genau dem Wesen der Zeitung, daß die bescheidene Ich-Form (eine rechtzeitige Warnung an den Leser: »hier spricht niemand anderer als ich«) in der Branche als arrogante Unbescheidenheit verpönt wird: Die Zeitung wäre nämlich keine Zeitung, bestünde sie nicht auf die kollektive Autorität des anonymen Gruppenfunktionärs. Es wird zwar nie klargestellt, in wessen Namen, in wessen Auftrag da eigentlich gesprochen wird; aber dem Leser wird immer der Eindruck aufgezwungen, daß hier »die« Zeitung spricht. Der trainierte Leser sagt infolgedessen nie, er habe dies und das von einem Herrn Soundso zu hören bekommen, sondern er sagt, er habe »in der Zeitung« gelesen: Die subjektive Mitteilung hat, weil sie auf Zeitungspapier vorgebracht wurde, objektive Autorität erhalten.
Daß die moderne Zeitung immer häufiger dem Journalisten gestattet, seinen Namen unter den »Bericht« zu setzen, ändert nicht das Geringste am unheilvollen Anspruch der Zeitung auf kollektive Autorität — schon deshalb nicht, weil auch der namentlich genannte Verfasser auf alle Geständnisse seiner Subjektivität verzichten muß. Und er muß es deshalb tun, weil er sonst ja keinen Anspruch auf die Veröffentlichung seines Opus hätte — es sei denn, die Qualität der berichtenden Persönlichkeit mache ihre Ich-Aussage bemerkenswert. Aber in diesem Falle könnte es sich ja kaum um einen Angestellten der Zeitung handeln: Wäre der Mann ein Schriftsteller von jener bemerkenswerten Qualität, wäre er wohl nicht im anonymen und kommandierten Verband der Zeitung geblieben. Der Tatbestand ist gewöhnlich genau umgekehrt: Der Journalist, der seinen Namen unter seinen »Bericht« setzen darf, bezieht seine derart geförderte Autorität ausschließlich von der Autorität des anonymen Kollektivs: Er wird subjektiv nur deswegen »interessant«, weil er im Auftrag der Zeitung schreiben darf. (Ein Beispiel für Tausende: Ein Mann namens Otto Köhler äußert sich im »Spiegel« regelmäßig über die Leistungen des deutschen Journalismus. Schriebe er nicht im »Spiegel«, würde sich kaum ein Mensch in Deutschland für die Befunde des zufälligen Herrn Köhler interessieren: der Mann besaß, ehe er im »Spiegel« Zensuren austeilte, keinerlei intellektuelle Legitimation. Otto Köhler ist ein durchaus anonymes Produkt des »Spiegel« geblieben — aber nun verwendet ihn die Redaktion als subjektive Autorität: Das Blatt-Kollektiv zeugt einen Homunkulus und läßt ihn, zur Steigerung seiner eigenen anonymen Autorität, als einen Mann namens Otto Köhler agieren.)
Und was hier über den Journalismus der gedruckten Presse gesagt wurde, gilt doppelt und dreifach für die letzten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts, der Epoche also, in der Rundfunk und Fernschen die gedruckte Presse zunehmend ersetzen. Die gedruckte Presse, das Durchblutungssystem des Liberalismus, herrschte im letzten Drittel des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Das Erbe dieser Herrschaft trat mit dem zweiten Drittel unseres Jahrhunderts der Rundfunk an — auch er nach dem Ebenbild (und im Weltbild) des Journalisten geformt, aber nun zur Allmacht aufgestiegen, weil ihm Allgegenwart gegeben ist. Die Meinungsmacherei der gedruckten Zeitung war auf einen Bruchteil der Nation beschränkt (freilich auf ihren wesentlichsten Teil). Die Meinungsmacherei des Fernsehens und des Rundfunks erreicht die ganze Nation.
Daß die bürgerliche Gesellschaft das blutig ernste Geschäft der Meinungsmacherei dem Journalismus überantwortete, und ihm zu einem Monopol der Bewußtseinsbildung verhalf, ist die wahre Krankheit des Jahrhunderts. Denn eben das ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geschehen: Die Gesellschaft, viel zu sehr mit der Produktion ihres Wohlstands beschäftigt, hörte auf, sich selbst zu verstehen und verständlich zu machen; vielmehr überließ sie die wichtigste Funktion jeder Gesellschaft, nämlich sich in der Bewußtseinsformung ihrer Mitglieder selbst zu empfehlen und zu verstehen, einer gänzlich neuen Berufsgruppe von Interpretations-Technikern (die freilich von Anfang an selbsternannt waren und keine andere Legitimation zur Interpretation der überlieferten Gesellschaft besaßen als wendigen Zynismus und keckes Selbstbewußtsein). Und je länger diese eigenartigen Experten die gesellschaftliche Interpretation besorgten, desto hifloser und demütiger wurde die bürgerliche Gesellschaft.
Im 17. und 18. Jahrhundert kannten die Träger der politischen und wirtschaftlichen Macht keine wichtigere und keine vornehmere persönliche Aufgabe als die Bewußtseinsformung ihrer Zeit. Die besten und gebildetsten »Mitglieder der herrschenden Klasse« waren gerade gut genug für diese Aufgabe. (Die Jeffersons und Madisons und Hamiltons, die Journalisten der Amerikanischen Revolution von 1776, zählten zu den reichsten, vornehmsten und gebildetsten Bürgern des Landes.) Als aber im 19. Jahrhundert »die herrschende Klasse« in den Wirbelwind kapitalistischen Wachstums geriet, delegierte sie die vornehmste Aufgabe einer Gesellschaft (eben die Formung des menschlichen Bewußtseins) an eine Schicht, deren Wendigkeit und Zungenfertigkeit sie für einen solchen Auftrag scheinbar qualifiziert — eben an den eigenartigen Sozialtypus des Journalisten, des »Ideologen«, des selbsternannten Fachmanns für »Volksseele«, für »Zeitgeist«, für die Mode, für alles. Aber indem das Bildungsbürgertum das Ackern und Jäten im Arbeitsfeld der »öffentlichen Meinung« diesen angeheuerten Hilfsarbeitern überließ, verzichtete es zunehmend auf die wesentlichste Macht »der herrschenden Klasse« — auf ihre Macht, und ihre Pflicht, die überlieferte Wert- und Gesellschaftsordnung ihren Mitbürgern verständlich, annehmbar und liebenswert zu machen.
Die Lethargie, mit der das Bildungsbürgertum seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dem Journalismus die »öffentliche Meinung« überläßt, wurde gefördert durch die gewaltigen Konsequenzen des Allgemeinen Wahlrechts: Seit dem 19. Jahrhundert muß »mit Zustimmung der Regierten« regiert werden &mdah; und wie kann man das, wenn man diese Zustimmung nicht mit Artikulation zu erwerben versteht? Wer aber sollte das besser verstehen als der Journalist, der berufsmäßig artikuliert? Mit solchen Überlegungen und Rücksichten geriet »die herrschende Klasse« in immer hilflosere Abhängigkeit von den journalistischen Hilfsarbeitern, die sie ursprünglich angeheuert hatte, um die Regierer den Regierten, die Ordnung den Geordneten verständlich und liebenswert zu machen.
Gewiß, das Mittel hat den Zweck erschlagen, der Journalismus hat die Gesellschaftsordnung für die Menschen verbiestert. Aber »die herrschende Klasse« merkt das noch immer nicht. Die Inserate der Großindustrie machen den Aufstands-Journalismus von »stern« und »Spiegel« zu einer Goldgrube; und in der Zeit seines größten Wohlstandes bringt es das deutsche Bildungsbürgertum nicht fertig, für sich selbst einzutreten: Seit zwanzig Jahren bemühen sich einige konservative Schriftsteller in der Bundesrepublik um die Schaffung einer Zeitschrift, die lesbar und mit intellektueller Überlegenheit die überlieferten Werte der europäischen Gesellschaft zu verteidigen versteht; und seit zwanzig Jahren scheitert das Projekt an der Lethargie des Bildungsbürgertums, an der Feigheit des Kapitals, an der haltungslosen Unterwürfigkeit »der herrschenden Klasse« gegenüber dem kessen Linksjournalismus.
Die Schulen, die Universitäten, das Fernsehen, der Rundfunk, die Presse, die Verlage, das Theater — alle Instrumente der Bewußtseinsbildung hat der moderne Kapitalismus einer »Intelligenz« ausgeliefert, die sich selbst als einen unversöhnlichen Feind unserer Gesellschaft versteht. Und eben das sah Joseph v. Schumpeter vor einem halben Jahrhundert voraus: daß der Kapitalismus nicht etwa an Unzulänglichkeiten seiner eigenen Struktur, sondern an sagenhafter Unempfindlichkeit gegenüber seiner geistigen Entwicklung zugrundegehen werde.
Alle, ausnahmslos alle gesellschaftlichen Katastrophen der letzten neun Jahrzehnte waren Konsequenzen bestimmter nationaler Bewußtseinszustände, die durch »öffentliche Meinung« geschaffen waren. Die innere Unruhe der zwei großen Monarchien Mitteleuropas (und also der Erste Weltkrieg) war verursacht durch die nationalistische Bewußtseinsverkrümmung; die innere Unruhe Europas (und also der Zweite Weltkrieg und seine Fortsetzung, der Kalte Krieg) durch die sozialistische Bewußtseinsstörung. Anders ausgedrückt: seit Beginn des 20. Jahrhunderts verändern Weltbilder die Welt — im gewalttätigen Widerspruch zur Realität bemächtigen sich »Ideologien« zuerst der Menschen und dann auch der Realität.
Der österreichische Außenminister, dessen deutschnationale Leichtfertigkeit 1914 den Ersten Weltkrieg auslöste, war ebenso nur ein Agent der »öffentlichen Meinung« wie es Lenin war, als er 1917 (nur für eine exemplarische Woche, wie er damals etwas skeptisch hoffte) in Rußland die Macht ergriff: Beide waren von »Ideologien« motiviert, und beide waren entschlossen, ihre »Ideologie« innerhalb einer Welt durchzusetzen, deren Lebensinteresse mit solcher »Ideologie« unvereinbar war. Daß Männer wie Lenin, Graf Berchtold, Hitler, Wilson, Stalin, Wilhelm II. und all die anderen Führerfiguren des Jahrhunderts die »Ideologien«, deren Opfer sie wurden, mitgeschaffen hatten, ändert nichts an ihrer Funktion als bloße Agenten der »öffentlichen Meinung«: Keiner dieser Männer wäre geworden, was er wurde, und hätte getan, was er tat, hätte sich nicht eine bestimmte »öffentliche Meinung« wesentlicher Schichten ihrer Nation bemächtigt. Ehe aber eine Nation »geführt« werden kann, muß sie »geführt« sein wollen; und zwar in jener Richtung, die der »Führer« weist. Es muß also ins Bewußtsein der Nation effektiv eingegriffen worden sein — und zwar durch die einzige Kraft, die das vermag, nämlich die »öffentliche Meinung«.
Dagegen wendet der Journalismus, der ja so gerne unterschätzt sein möchte, ein scheinbar stichhaltiges Argument ein: daß die Presse, die seit drei Jahrzehnten durch Rundfunk und Fernsehen an Reichweite multipliziert wird, nur ganz selten vom Wählervolk bestätigt worden ist. In der Tat wird beim demokratischen Wahlakt meistens so abgestimmt, als ob es die Presse nicht gäbe: Die SPD war schon im Wilhelminischen Deutschland die stärkste Partei im Reichstag (zu einer Zeit also, da die liberale Presse Deutschlands noch gegen die SPD schrieb); und in Amerika lösen demokratische und republikanische Präsidenten, seit dem frühen 19. Jahrhundert, einander in einem Rhythmus ab, der selten mit dem jeweiligen Vorurteil der Leitartikler übereinstimmt. Karl Lueger, Wiens ewiger Bürgermeister in der Kaiserzeit, und charismatischer Führer der Christlich-Sozialen Partei im Parlament, sammelte Wählermehrheiten geradezu im umgekehrten Verhältnis zum Wachstum der liberalen Presse Wiens … Kann man da von Herrschaft der Presse sprechen?
Man kann das nur dann nicht, wenn man den demokratischen Wahlakt als Herrschaftsakt mißversteht. Wer hingegen allmählich begriffen hat, daß in Demokratien nicht der Wähler, sondern im besten Fall der Gewählte regiert, läßt sich durch die wahlpolitische Wirkungslosigkeit der Presse nicht verwirren. Der Wähler spricht nur alle vier, fünf oder sechs Jahre — aber die Presse spricht jeden Tag. Und ist er erst einmal gewählt, bleibt der Gewählte dem täglichen Zuspruch ausgesetzt. Tagtägliche Massage der »öffentlichen Meinung« erweist sich dann selbstverständlich wirksamer als das Votum der Wähler, das einmal in vier, fünf oder sechs Jahren abgegeben wird. Der demokratische Mandatar kann einfach nicht anders, als die Presse in den langen Intervallen zwischen zwei Wahlakten um die »Volksmeinung« zu befragen. Gewählt wird nur einmal in Jahren, aber regiert werden muß täglich — und wie könnten sich die gewählten Regierer der tagtäglichen Kundgebung des »Volkswillens« entziehen? Daß dieser »Volkswillen« von der Presse fingiert wird, ahnt freilich fast jeder Parlamentarier — und starrt weiterhin gebannt auf die Presse. Ich habe in fünfzig Jahren, in Europa und in Amerika, nicht einen Politiker kennengelernt, der dem Journalismus traute; aber ich habe auch kaum einen Politiker gekannt, der sich nicht ängstlich nach der Presse ausgerichtet hätte.
Die Presse herrscht in Demokratien, weil in Demokratien nicht die Politik herrscht, sondern »der Zeitgeist« — die modischen kulturellen und »ideologischen« Vorstellungen, die sich die Menschen voneinander, von der Welt und vom Leben machen. Am Wahltag, alle paar Jahre einmal, fällt der Normalwähler in den untergründigen Konservatismus von gestern zurück und wählt, ungefähr, wie schon sein Vater und sein Großvater gewählt haben. Aber am Tag nach der Wahl kehrt der Wähler (und ganz gewiß der Gewählte) ins modische Leben zurück, ist er wieder vom »Zeitgeist« berieselt, bezieht er wieder seine unterschwellige »Information«, seine »images«, sein Weltbild vom Fernschen, vom Rundfunk, von der Presse. Das ist, wie man sieht, nur eine zeitgeschichtliche Variante der alten und weisen Erkenntnis, daß der Mann, der einem Volke seine Lieder schreibt, mächtiger ist als der Gesetzesschreiber. Die Volkslieder schreibt seit hundert Jahren die Presse — und selbst die mißtrauischsten Politiker summen mit.
In keiner anderen Herrschaftsform sind »meinungsbildende Eliten« so entscheidend wie in der Demokratie. Seit dem Durchbruch des Allgemeinen Wahlrechts im 19. Jahrhundert, seitdem nur noch »mit Zustimmung der Regierten« regiert werden kann, ist Meinungsbildung schlechthin identisch mit Regieren — und die europäische Gesellschaft hat die Meinungsbildung dem Journalismus überlassen! Je mehr die substantiellen und hochwertigen Intelligenzen von Wirtschaft und Wissenschaft gebraucht, angezogen, gesucht und entsprechend honoriert werden, desto fragwürdiger und hemmungsloser wird die verbleibende Intelligenz, die zur Presse abwandert und in der Meinungsbildung alle ihre Ressentiments ausleben darf. Woraus sich das Paradox ergibt, daß die Epoche der Entfaltung höchster Intelligenz in Wirtschaft und Wissenschaft zugleich auch die Epoche des schäbigsten Journalismus, der inferiorsten »Ideologien« wird.
Der Glanz des 20. Jahrhunderts ist die gewaltig steigende Leistungskraft von Wissenschaft und Wirtschaft — sein Elend ist die steigende Macht des Journalismus: Die zynische Leichtfertigkeit der »Ideologie« (also journalistischer Rezepte für erfundene Krankheiten) verspielt, in jeder Generation von neuem, die menschlichen Chancen, die Wissenschaft und Wirtschaft von Generation zu Generation erhöhen. Der postulierte »Fortschritt« hebt den wahren Fortschritt auf, der wütende Griff nach »Freiheit« die Freiheit, die gespielte Hingabe an eine fiktive »Menschheit« die Nächstenliebe. Politik, ursprünglich ein Instrumentarium zum Schutz der Person, verlangt nun den ganzen Menschen. Was sicherstellen sollte, daß der Mensch seinem Sittengesetz entsprechend arbeiten, beten und lieben dürfe, wird zum alleinigen Inhalt der Arbeit, des Gebets und der Liebe: Mit dem Totschlagwort der »Demokratisierung« will der journalistische Zeitgeist die totale Politisierung des Menschen erreichen — seine totale Auslieferung an manipulierte Mehrheitsbeschlüsse.
Diese Konfrontation von Vernunft und Politik, von Sittengesetz und »Ideologie«, von Person und Staat, von Selbstverfügung und Mehrheitswillen, war der ganze Geschichtsinhalt des 20. Jahrhunderts. Wann immer Vernunft, Sittengesetz, Person und Selbstverfügung auf ihr Primat bestanden, hat dieses Jahrhundert geglänzt. Wann immer Politik, »Ideologie«, Staat und Mehrheitswillen das europäische Schicksal bestimmen konnten, war es ein Jahrhundert der elenden Katastrophen. Wenn der Europäer endlich fähig wird, diese wesentliche Lehre der letzten neun Jahrzehnte zu erfassen, ist das 20. Jahrhundert noch nicht zu Ende: es könnte wieder glänzen.
Geschrieben und als Privatdruck veröffentlicht im Jahr 1971. Der Text ist leicht gekürzt.