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Lugano war und ist auch heute noch der herausragende und bekannteste Kurort in der italienischen Schweiz. Er liegt an der Westseite, an der breitesten Stelle des Luganer Sees.
Im neunzehnten Jahrhundert stand Lugano lange im Schatten der Kurorte am Genfer See. Der große Aufschwung für Lugano und die anderen Kurorte in der Südschweiz und in Oberitalien kam mit dem deutsch-französischen Krieg 1870/71, als sich die deutschen Kurgäste plötzlich gezwungen sahen, die Orte an der französischen Riviera und in den Basses Pyrénées zu meiden und sich nach neuen Möglichkeiten zur Erholung umzusehen.
Die Deutschen zogen daraufhin in erster Linie nach Italien und zu den an der Adriaküste gelegenen Klimastationen Österreich-Ungarns, kamen aber auch in größerem Maße als zuvor in die Schweiz.
Abbildung 13a:
Lugano mit Monte Bré. Aquarellierte Zeichnung von Emanuel Labhardt, 1849.
Abbildung 13b:
Blick auf Lugano vom See.
So war Lugano 1874 zwar als klimatischer Kurort schon anerkannt, aber der deutsche Arzt Dr. Lindemann, der Lugano in den siebziger Jahren mehrmals besucht hatte, schrieb noch in diesem Jahr über den Ort:
»… jedoch ist … wenig auf Kranke Rücksicht genommen, so dass … wir allen Kranken … anrathen müssen, Montreux-Vevey anstatt Lugano zu wählen, weil dort den Bedürfnissen mehr Rechnung getragen wird.«
Auch Klencke war dieser Meinung. Für ihn war Lugano im Oktober durch die Anwesenheit von Touristen, die nicht zu Kurzwecken gekommen waren, noch zu geräuschvoll für Kranke. Er schlug ihnen vor, sich während dieser Zeit zu einem vorübergehenden Aufenthalt in die stilleren Gasthöfe von Cadenabbia am Comer See zu begeben.
Die Kurzeiten waren in diesen Jahren noch sehr beschränkt. Lindemann umriss die Jahreszeiten, zu denen er eine Kur in Lugano für gerechtfertigt und durchführbar hielt, folgendermaßen:
»Lugano eignet sich besonders zum Herbstaufenthalt und man ist ziemlich sicher bis Anfang (seltener Mitte) November gutes Wetter anzutreffen; von November bis Ende April hält der Verfasser jedoch den Aufenthalt daselbst für Brustkranke nicht für zweckmässig, um so weniger als von Lugano aus andere südlichere Curorte schnell und bequem zu erreichen sind; der April, namentlich die letzte Aprilhälfte kann sehr schön sein, ferner empfiehlt sich Lugano als Übergangsstation für aus Italien zurückkehrende Curgäste, jedoch (mit einiger Bestimmtheit) erst für den Monat Mai.«
Im Jahre 1880 ging Peters einen Schritt weiter. Nach seiner Auffassung sei ein klimatischer Aufenthalt in Lugano nicht nur zu gewissen Monaten, sondern das ganze Jahr über möglich. Der Kranke könne sich allerdings nicht immer im Freien aufhalten; die hierzu geeigneten Monate seien lediglich April, Mai und Juni und die Zeit zwischen Mitte August und Ende Oktober.
Monat | I | II | III | |
---|---|---|---|---|
September | 17,0 | 17,4 | 17,9 | |
Oktober | 11,5 | 12,5 | 13,2 | |
November | 6,2 | 6,9 | 8,4 | |
Dezember | 2,5 | 3,1 | 4,6 | |
Januar | 1,4 | 1,9 | 3,8 | |
Februar | 3,4 | 3,6 | 5,0 | |
März | 6,9 | 7,5 | 8,9 | |
April | 11,3 | 11,7 | 12,3 | |
Mai | 15,2 | 15,4 | 16,3 |
Klimatabelle 1:
Angaben der mittleren Temperaturwerte in Grad Celsius: I. Kornmann 1924 (neunundvierzigjähriges Mittel 1864-1913); II. Ambrosetti 1971 (neunundvierzigjähriges Mittel 1931-1960); III. Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie MeteoSchweiz. Klimanormwerte für Lugano. Normperiode 1991–2020. Hinweis: »Mittlere Temperaturwerte« und »Klimanormwerte« sind nicht notwendigerweise direkt vergleichbar (mehr im letzten Kapitel »Schlussbemerkungen«).
Abbildung 14:
Anzeigen aus Kornmanns Buch über Lugano als heilklimatischer Kurort („Das Klima Luganos“). 1924.
Zu den Fragen, welche Faktoren des Luganeser Klimas genau sich positiv auf die Gesundheit eines Patienten auswirkten und warum diese Faktoren auf diese Weise zum Tragen kamen, gab kaum ein Autor ein ausreichend detaillierte Auskunft. Alle verwiesen auf unscharf definierte Faktoren wie Luftwärme, Luftfeuchtigkeit, Niederschläge, Bewölkung, Sonnenschein und ähnliches, aber einen direkten Zusammenhang zwischen diesen Komponenten und dem Wohlbefinden eines Patienten zeigte keiner der Verfasser auf.
August Feierabend verwies auf die »herrliche und grossartige Natur«, die Brustkranken, die eines milden Klimas bedürften, besonders gut bekäme.
Lippert führte die positiven Auswirkungen einer Kur in Lugano darauf zurück, dass der Ozongehalt der Luft niedrig sei. Dies erkläre den beruhigenden Einfluß des dortigen Aufenthaltes auf den überreizten Organismus. Heute hat Lugano in den Sommermonaten oftmals die höchsten Ozonwerte der gesamten Schweiz, weit oberhalb des oberen Grenzwertes.
Als spezielle Indikationen für Lugano beschrieb Peters unter Berufung auf eine Broschüre von Cornils über den Ort und den Luganer See folgende Leiden:
»Für chron. Catarrhe der Respirationsorgane im Frühjahr, Sommer und Herbst. — Für allgemeine Ernährungsstörungen und Reconvalescenz nach acuten Krankheiten das ganze Jahr hindurch. — Für chron. Augenentzündungen, da in Lugano (in Folge der Ort auch nach den südlichen Richtungen im unmittelbarer Nähe umgebende Berge) niemals blendendes Licht vorhanden ist.«
Reimer zitierte ein Jahr darauf Cornils direkt, ohne dessen Heilanzeigen weitere aus eigener Anschauung hinzuzufügen:
»Cornils hält den Aufenthalt in Lugano angezeigt, als Übergangsstation für Patienten mit Katarrhen und chronischen Entzündungsprocessen der Athmungsorgane und als Vorbeugungsmittel für Brustschwache, ferner wegendes calmirenden Einflusses des Klimas für Nervenkranke, und er empfiehlt Lugano ganz besonders Augenkranken, da das Auge überall auf grüne Flächen treffe und die Oberfläche des Sees nicht Blendendes habe.«
Cornils Idee von Lugano als Erholungsort für Augenkranke fand sich noch eine Weile in der Literatur. Reimer umging geschickt die Begründung, warum sich der Luganer See für die Behandlung von Augenentzündungen eignen solle und besonders durch die Berge geschützt sei, der Comer See und der Lago Maggiore jedoch nicht, indem er Cornils zitierte.
Später fehlte diese Heilanzeige in der Indikationsliste, obwohl sie auch heute noch nach der ophtalmologischen Lehrmeinung denkbar ist. 1910 las man in den offiziellen Indikationen, die im Bäder-Almanach verzeichnet waren:
»Es [i.e. Lugano] eignet sich besonders zur Kräftigung zarter Konstitutionen im jugendlichen Alter, für Rekonvaleszenten und Erholungsbedürftige, wirkt ausserordentlich günstig bei Krankheiten der Respirationsorgane (Bronchitis, chronische Pneumonie, Asthma, Emphysem, Pleuritis exsud., chron. Hämoptoe), Rachenund Kehlkopfkatarrh, bei Herz, chronischen Nieren-, Nerven(Neurasthenie), Verdauungs- und Konstitutionskrankheiten (Chlorose und Anämie), bei Frauenkrankheiten usw.«
Hier war die Lungentuberkulose unter den Indikationen bereits weit zurückgedrängt. Für Lugano wird sie zwar nicht als Kontraindikation aufgeführt wie für andere Orte im Oberitalienischen Seengebiet, aber zumindest an offener Lungentuberkulose Erkrankte wurden auch hier rasch aus dem Ort verbannt; ebenso war die geschlossene Form der Tuberkulose nicht gern gesehen.
Die Behandlung der Lungentuberkulose beschränkte sich im Laufe der Jahre auf die oberhalb Luganos gelegenen Sanatorien Agra und Ambri-Piotta.
Abbildung 15:
Plakate für die Gotthardeisenbahn, 1925 und 1935.
Die interessantesten Ausführungen zur Frage der Indikationen und Kontraindikationen für Lugano veröffentlichte 1924 Kornmann in seinem Buch über das Klima Luganos.
Er diskutierte darin alle das Klima und die medizinische Klimatologie betreffenden Punkte und behandelte im ersten Abschnitt alle Fragen des Klimas von Lugano, während er im zweiten Abschnitt die ärztlichen Indikationen und Kontraindikationen des Ortes genau untersuchte. Hierzu konnte er auf 860 rein klimatische behandelte Fälle zurückgreifen, die er im Laufe von dreieinhalb Jahren behandelt hatte. Abschließend faßte er folgende ärztlichen klimatischen Indikationen und Kontraindikationen zusammen:
1. allgemein; der Herbst-Winter ist gegenüber dem Nervensystem im ganzen reizmild, bietet mehr Schonungscharakter, das Frühjahr reizkräftiger, weist mehr Übungscharakter auf. Gegenüber der Zirkulation und Wärmeregulation ist aber auch der Winter anspruchsvoll und erregend, stimulierend, reizkräftig. Allen schweren, nervösen psychoneurotischen Störungen und allen schweren nervösen Erregungszuständen ist in erster Linie der Winter, dann der Herbst, nicht aber das Frühjahr zu verordnen. Allen schweren nervösen Erschlaffungszuständen ist in erster Linie der Herbst, dann der Winter zuträglich. Leicht nervöse Erschlaffungszustände haben auch von dem Übungscharakter des Frühjahrs Vorteil, schweren ist das Frühjahr zu widerraten.
Für die Zirkulationskrankheiten im allgemeinen sind in mittelschweren Fällen Herbst und Winter sehr angezeigt, in schweren Fällen, mit schlechtem Puls und stark gesunkenem Blutdruck, mehr nur der Herbst. Für die leichteren und mittleren Fälle, mit guter Reaktionsfähigkeit der Zirkulation, kann auch aus dem Übungscharakter des Frühjahrs bis Ende April ein therapeutisch wirksamer Faktor gemacht werden.
Für die leichten und mittelschweren Anämien, die einem gesteigerten Wärmeanspruch entsprechen können, sind Herbst, Winter und Frühjahr angezeigt. Für schwere Anämien mit alternierter Zirkulation ist wegen seiner ‚Abkühlungsgröße‘ der Winter nur mit Vorsicht indiziert, das Frühjahr wegen seiner Reizstärke kontraindiziert.
Für Menschen ausgesprochen zyklothymen Charakters ist der Winter mit seiner Milde, Himmelsheiterkeit und Wetterkonstanz ein Jungbrunnen, das Frühjahr nur mit Vorsicht zu verordnen, das Spätfrühjahr kontraindiziert …
Im zweiten, speziellen Teil der Zusammenfassung seiner Indikationen und Kontraindikationen legte Kornmann rund drei Dutzend Krankheiten und Krankheitsbilder vor, die in der Praxis am Ort behandelt worden waren, und für die somit empirisch festgestellt war, ob sie sich in Lugano behandeln ließen oder ob dies nicht möglich war. Diese Heilanzeigen haben sich bis heute nur noch wenig verändert, die meisten sind gleich geblieben. So lauteten die Indikationen für Lugano nach dem Kleinen Klimabuch der Schweiz der Schweizerischen Vereinigung der Klimakurorte aus dem Jahre 1961:
»Schlecht kompensierte Herzschäden, erschwerte Wärmeregulation. Chronische Bronchitis; Emphysem. Chronische Nierenerkrankungen. Nervöse Störungen. Rekonvaleszenten, insbesondere ältere Personen.«
Mit der Festlegung der spezifische Indikationen für Lugano wandelte sich der Ort von dem bei Lindemann beschriebenen Übergangsort in einen Kurort, der das ganze Jahr über besucht wurde, mit Ausnahme der Hochsommermonate Juli und August, während derer sich die Kurgäste, sofern sie in der Nähe Luganos bleiben wollte, auf die Höhen das Monte Generoso zurückziehen konnten.
Der Monte Generoso ist einer der höchsten Berge in der Umgebung und überschaut den Luganer See bis weit über Lugano hinaus. Er bietet eine der großartigsten Aussichten auf die Südseite der Alpen. Hier ist auf einer Höhe zwischen 1000 und 1700 Metern ein angenehmer Sommeraufenthalt auch dann noch möglich, wenn die Temperaturen in Lugano längst über die Dreißiggradmarke geklettert sind.
Abbildung 16:
Poster mit Fahrplänen der Zahnradbahn zum Monte Generoso.
Für den Monte Generoso war Mendrisio mit seiner Eisenbahnstation der Ausgangs- und Akklimatisationspunkt. Wie so häufig auf klimatologischem Neuland waren auch hier die Engländer die ersten gewesen, die die heißen Sommermonate auf der Höhe über Lugano verbrachten. Später folgten dann die Deutschen. Von Mendrisio aus stieg ein gepflasterter Reitweg bis auf die Hälfte des Berges hinauf. Auf einer freien Bergstraße mit Aussicht auf die lombardische Ebene lag in 1200 Meter Höhe das Hôtel de Generoso, das Dr. Pasta aus Mendrisio 1867 hatte errichten lassen. Lippert bemerkte zu diesem Hotel:
»Die innere Einrichtung des Hôtel Generoso ist zwar einfach, aber doch den Bedürfnissen längeren Aufenthalts entsprechend und die Pensionspreise mässig.«
Mit der 1890 eröffneten Zahnradbahn von Capalago am See auf den Monte Generoso hinauf bekam das Hotel einen Anschluß an die Gotthard-Eisenbahnlinie und war von der Zahnradbahnstation Bellavista aus viel schneller und bequemer als vorher zu erreichen.
Die Anziehungskraft Luganos lag nicht nur in seinem Klima, sondern auch darin, dass es — obgleich politisch zur Schweiz gehörig — einen durchaus italienischen Charakter im Stadtbild und im Verhalten und Wesen seiner Bewohner zur Schau stellte; dies prägt die Stadt auch heute noch weit mehr, als das eher an deutsch oder welschschweizer Städte erinnernde Locarno.
»Land und Leute, Vegetation, Sprache, Sitte und Gewohnheit, Alles lässt uns keinen Augenblick darüber im Zweifel, dass wir uns schon jenseits der Alpen befinden. Dass sich mit diesen südlichen, den Nordländer oft angenehm berührenden Eindrücken der Vorzug eines mit deutscher Reinlichkeit und Solidität gehaltenen Gasthauses verbindet, macht die enorme Zahl der Touristen erklärlich, die Lugano im Herbste berühren.«
Von diesen Kurgäste begannen recht bald einige, ihren Aufenthalt in Lugano bis in den Winter hinein zu verlängern, und legten damit den Grundstock für die Winterstation Lugano. Der Ausbau der Ortes paßte sich diesem Aufschwung an. Deutsche und Deutschschweizer investierten in den Bau und die Renovierung von Hotels und Pensionen und die damit verbundene Erweiterung von städtischen Einrichtungen.
Während es im Jahre 1880 in der Broschüre von Peters noch hieß:
»Die Fahrstrassen sind gut angelegt und fast ganz staubfrei,«
und lediglich die Hotels Beau Séjour und du Parc mit frischem Quellwasser versorgt waren, konnte man in Bäder-Almanach 1910 bereits lesen:
»Die Stadt hat kürzlich eine grossartige elektrische Kraftanlage erstellen lassen, die aus dem Verzascatal kommt und die am Abend die Stadt von Castagnola bis Paradiso erleuchtet. Seit Jahren schon erfrischt reines und reichliches Trinkwasser die Stadt.«
Für die Kurgäste und Touristen, aber auch für die Badeärzte im In-und Ausland machte sich der Aufschwung am meisten bei der Errichtung und dem Ausbau der großen Hotels bemerkbar, denn dies wurde mit Anzeigen und Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften in alle Welt hinaus getragen.
Berühmte Besucher stellten sich nun in Lugano ein. In einem der kleinen Hotels, dem Hôtel Suisse, stiegen bereits 1815 das französische Enfant terrible Madame de Stael und im April 1838 der Komponist und Pianist Franz Liszt und die Komtesse Marie d’Angoult ab; diese beiden hielten sich allerdings nur kurze Zeit hier auf und zogen dann in eine Villa in Castagnola um.
Den Grundstock und frühen Hauptanziehungspunkt bildete für die Reisenden das direkt am See gelegene Hotel Palace. Die Basis für das spätere Hotel bestand aus einem ehemaligen Franziskanerkloster, das 1848 in eine Unterkunft für italienische Verbannte und drei Jahre später in ein Hotel umgewandelt wurde. Nach einem weiteren Umbau für eine Million Franken taten sich 1855 die Tore des Hotels unter dem Namen Hôtel de Parc als größtes und luxuriösestes Hotel am Platz auf.
Es besaß drei Dependancen, Belvedere (Bellevue), Villa Ceresio und Villa Beau Séjour; die Villa Beau Séjour war auch auf Wintergäste vorbereitet, während die übrigen Häuser im Winter noch geschlossen blieben. Sie hatte hölzerne Fußböden — im Gegensatz zu den Steinplattenfußböden, die meist in dieser Gegend anzutreffen waren —, Öfen und Kamine, auf den Korridoren Luftheizung, und wie Reimer schrieb,
»gutes Quellwasser bis in die oberen Stockwerke, im Lesezimmer Kölnische und Kreuz-Zeitung.«
Nach der Vergrößerung des Hotels auf ein Fassungsvermögen von 250 Gästen wurde sein Name zuerst auf Grand Hôtel, später auf Hôtel Palace umgeändert. Unter diesem Namen wurde es bis zu seiner Schließung wegen Unwirtschaftlichkeit im Jahre 1969 geführt.
Eine literarische Beschreibung des Hotels lieferte nach dem Ersten Weltkrieg Hermann Hesse in seinem Winterbrief aus dem Süden:
»Also ich kam in das große Hotel. Es war herrlich … Ich sah gut aus und wurde tatsächlich vom Portier ohne Schwierigkeiten eingelassen. Durch gläserne lautlose Flügeltüren floß man sanft in eine riesige Halle wie in eine luxuriöses Aquarium. Da standen tiefe, ernste Sessel aus Leder und Samt, und der ganze riesige Raum war geheizt, wohlig warm geheizt, man trat in eine Atmosphäre wie einst im Galle Face auf Ceylon. In den Sesseln da und dort saßen gutgekleidete Schieber mit ihren Gattinnen. Was taten sie? Sie erhielten die europäische Kultur aufrecht. In der Tat, hier war sie noch vorhanden, diese zerstörte, vielbeweinte Kultur mit Klubsesseln, Importzigarren, unterwürfigen Kellnern, überheizten Räumen, Palmen, gebügelten Hosenfalten, Nackenscheiteln, sogar Monokeln …«
Zu seinen berühmten Gästen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die sich in diesem Hotel bald ein Stelldichein gaben, zählten die Schriftstellerin Dora d’Istria (1856), die Kaiserin Eugenie von Frankreich, die Königin Augusta von Preußen, die Kaiserin Elisabeth von Österreich und viele andere aus Politik und Kultur. Noch als Hôtel du Parc bot das Haus 1875 eine vollständige Pension von fünfeinhalb Franken aufwärts an, 1881 betrugen die Preise nach den Angaben von Reimer bereits achteinhalb bis neun Franken, für die größten Räume sogar bis zu zehn Franken; in der Zeit zwischen dem 1. November und dem 31. März lagen die Preise niedriger, je nach der Größe des Zimmers zwischen sechs und siebeneinhalb Franken. 1891 waren die Preise um etwa zehn Prozent gestiegen, und 1905 war eine Pension erst von zwölf Franken aufwärts zu erhalten.
Als weitere Hotels standen den Kurgästen in Lugano das Hotel Washington und das Hotel Lugano zur Verfügung. Das Hotel Washington beschrieb Klencke als ein viereckiges, unruhiges Haus, das gleichzeitig als Hotel, Regierungsgebäude, Post und Telegraphenstation Dienst leistete. Das Hotel Lugano besaß einen eigenen Garten und ein Restaurant, das neben den Restaurants Biaggi und Trattoria Americana eine Zeitlang die einzige frei zugängliche Gaststätte am Ort bildete. Wichtig für die deutschen Besucher Luganos scheinen die Bierhäuser gewesen zu sein, die Baedeker in seinen Handbüchern für Reisende ausführlich erwähnte. 1905 wurden in Lugano neben dem einheimischen Bier in drei »Bierrestaurants« Basler und Münchner Bier ausgeschenkt.
1886 wurde ein weiteres Nobelhotel in Lugano eröffnet. Es war das Hotel Splendide Royal an der Straße nach Paradiso mit 120 Betten, das der ehemalige Leiter des Hotel Bellevue in Cadennabia am Comer See, Antonio Fedele, hatte errichten lassen. Auch dieses Hotel beherbergte viele illustre Gäste, so den belgischen König Albert I., die rumänische Königin Maria, Aga Khan, den italienischen König Vittorio Emmanuele und den preußischen Prinzen Leopold.
Um 1910 wurden in Lugano 70 Hotels und Pensionen gezählt, und 1938 wies das Schweizerische Medizinische Jahrbuch 55 Hotels mit insgesamt 3373 Betten auf, dies ohne die angrenzenden Ortsteile Castagnola und Paradiso.
Manche Kurgäste zogen es vor, nach Privatquartieren für ihre Unterbringung zu suchen. Hiervon stand in Lugano nur eine geringe Anzahl zur Verfügung. Diese Privatwohnungen waren nach der Ansicht von Peters »nicht besonders eingerichtet«, weswegen die meisten Touristen und Kurgäste ihnen die Hotels vorzogen. In der unmittelbaren Umgebung der Stadt waren einige Landhäuser ganz oder teilweise zu einem niedrigen Zins zu mieten. Ein Zimmer kostete hier ungefähr 50 Franken pro Monat. Etwa eine Wegstunde außerhalb der Stadt in Saragno lag die deutschschweizerische Pension Plattner; des Ehepaar Plattner vermietete Zimmer bei Vollpension für vier bis fünf Franken am Tag.
Die Zahl der Hotels nahm in den neunziger Jahren und nach der Jahrhundertwende sprunghaft zu. Während Karl Baedeker in seinem Reisehandbuch von 1891 den Hotels und Pensionen in Lugano nur einen einzigen Absatz widmete, mußte er 1905 bereits eine ganze Buchseite in Dünndruck den Übernachtungsmöglichkeiten von Lugano einräumen.
Die ärztliche Versorgung in Lugano entsprach in den sechziger und siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts nicht dem Niveau, das Lugano als Kurort anstrebte. Zu einem Kurort — sei es ein Badekurort oder ein klimatischer — gehören unabdingbar Kur- und Badeärzte. Zumeist wurden sie in der großen Zeit der Grand Hôtels von den Hotels als selbstverständliche Dienstleistung für ihre Gäste unterhalten, oder sie waren besonders nach der Jahrhundertwende als frei praktizierende Ärzte während der Saison oder das ganze Jahr über am Ort tätig.
In Lugano fehlte lange Zeit ein Kurarzt, was Lippert zum Beispiel 1876 noch bedauernd feststellen mußte. Nicht einmal das Hôtel du Parc, das in seiner Einrichtung und Ausrichtung zum Kurhotel vorbildlich war und als »zweifelsohne der reizendste Aufenthaltsort der südlichen Schweiz« galt, bot seinen Gästen einen eigenen Kurarzt. Erst 1878 begann der deutsche Arzt Dr. Cornils in Lugano zu praktizieren, und 1880 verzeichnete Peters neben ihm zehn italienische Ärzte am Ort, von denen einer auch der französischen Sprache mächtig war.
1891 konnte Baedeker bereits auf zwei deutsche Ärzte, Dr. Cornils und Dr. Zbinden und außerdem auf drei deutschsprechende Ärzte und einen amerikanischen Zahnarzt verweisen, vierzehn Jahre später auf vier deutsche Ärzte, so dass zumindest für die Kurgäste und Fremden die medizinische Versorgung gewährleistet war.
Der Stand der Kurärzte gegenüber den Kurdirektoren und den Hotelleitungen war oftmals nicht sehr gut, denn ihr Ansehen war, verglichen mit den übrigen Ärzten, schlecht. Neergaard zitierte in seiner im Zweiten Weltkrieg geschriebenen Abhandlung »Der medizinische Ausbau der schweizerischen Kurorte« Mory aus dem Jahre 1913, der damals sagte:
»Was sagen Sie z.B. dazu, wenn verdiente Kurärzte, einfach wie eine Concierge oder ein Oberkellner den Laufpaß erhalten? … Es gibt Anstalten, die Ärzte verbrauchen, wie der deutsche Reichskanzler Minister.«
Wenn es der Gesundheitszustand der Kranken zuließ, konnten sie — meist in den späten Nachmittagsstunden oder am Abend — am Ufer des Luganer Sees entlang spazierengehen. Hier erstreckte sich ein breiter, baumbepflanzter Quai. Als Kurmittel standen den Erholungssuchenden in Lugano neben den obligaten Spazierwegen und Promenaden am Seeufer einige Zellen für warme Bäder im Hôtel du Parc zu Verfügung. In den Sommermonaten existierte auch »ein Etablissement für warme Bäder« in der Nähe des Hotel Bellevue am Ende der Seepromenade und ein Badehaus für Bäder im See.
Außerdem konnten zwei Eisenquellen, die allerdings nicht gut eingefaßt waren, zu Kurzwecken genutzt werden. Sportmöglichkeiten scheinen in diesen Jahren noch keine bestanden zu haben, zumal das Sporttreiben noch nicht zum guten Ton gehörte und als medizinisches Mittel noch nicht weit verbreitet war. Dreißig Jahre später war auch hier der große Sprung vorwärts gelungen. Die Kurgäste hatten nun die Gelegenheit, Golf, Tennis und Fußball zu spielen oder auf dem See zu rudern.
Zerstreuung und Unterhaltung fanden die Fremden im Stadttheater Teatro Apollo, wo im Sommer Konzerte und Varieté-Programme, im Winter zeitweilig Opern und Schauspiele aufgeführt wurden. An Sonntagnachmittagen wurden Konzerte in der Villa von Dervis gegeben. 1910 stand in dem inzwischen errichteten Kurhaus hierfür ein eigener Konzertsaal zur Verfügung, in dem täglich »Vokal-und Instrumentalkonzerte« Operetten- und Varietéveranstaltungen abliefen. Außerdem besaßen mehrere Hotels ihre eigenen Kurorchester. So gab es, wie Baedeker lapidar feststellte, im Hôtel de Parc »3mal täglich Musik«.
Als besondere Kurform bestand in Lugano im Herbst die Möglichkeit zu Traubenkuren. Hierbei war lediglich eine Übereinkunft mit den Weinbergbesitzern in der Umgebung zu treffen, die die Trauben liefern sollten.
Diese Traubenkuren bestanden darin, daß der Patient bis zu zehn Pfund Trauben pro Tag als einzige Nahrung zu sich nahm. Da diese großen Mengen erhebliche Nebenwirkungen außer der beabsichtigten abführenden und »reinigenden« Wirkung zeitigten, ging man später auf etwa drei Pfund pro Tag neben anderen Nahrungsmitteln zurück. In den ersten zehn Tagen der Kur wurden die Einzelportionen langsam gesteigert, bis die vorgeschriebene Menge erreicht war, dann hielt der Patient diese Quantität vierzehn Tage bis drei Wochen bei und verringerte anschließend langsam die Portionen wieder. Zur Unterstützung der Verdauung während der Kur sollten längere Spaziergänge unternommen werden.