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Abbildung 19:
Blick über Locarno, etwa 1910.
Über das der Sonne zugewandten nördliche schweizerische Seeufer berichtete François Medoni 1835 in einem Buch, das er den Reisenden der Dampfschiffahrtslinie zugeeignet hatte. Die Schiffe verkehrten seit 1826 zwischen dem italienischen Sesto Calende am südlichen Ende des Sees und dem Schweizer Magadino am nördlichen Seeausgang und benötigten für diese Strecke fast einen ganzen Tag.
Von dem steil abfallenden westlichen Seeufer zwischen Ascona, Ronco und Brissago wußte er folgendes zu erzählen:
»Ce pays se compose de peu d’habitations éparses dans la colline; elles sont pour la plupart occupées par de riches milanais, qui viennent ordinairement y passer l’automne. Sa situation toute au midi est des plus agréables, son terroir est passablement fertile en vins d’assez bonne qualité … on remarque aussi que beau coup de ses habitants parviennent à un âge très avancé ce qui est une preuve de la pureté de l’air qu’on respire.«
»Die Gegend besteht aus wenigen Häusern, die über die Hügel verstreut sind; die meisten davon werden von reichen Mailändern bewohnt, die gewöhnlich den Herbst hier verbringen. Die Ausrichtung nach Süden ist sehr angenehm, das Land ist leidlich fruchtbar, und es werden gute Weine angebaut … Es fällt auf, dass viele Einwohner ein hohes Alter erreichen, was ein Beweis für die Reinheit der Luft ist, die man hier atmet.«
Weiter im Norden, vom Gebiet der Maggia-Halbinsel bis auf die andere Seeseite nach Magadino galt die Gegend jedoch als der Gesundheit nicht zuträglich. Mitten in diesem Gebiet liegt die Stadt Locarno. Sie stand unter den Einwirkungen des Sumpfgebietes im Mündungsdelta des Flusses Tessin in den Lago Maggiore. Die Malaria war hier eine verbreitete Erkrankung unter der Bevölkerung. Deswegen war für die Kurortklimaforscher diese Gegend lange Zeit nicht als Aufenthaltsort für Kranke diskutabel; Locarno wurde entweder überhaupt nicht erwähnt oder mit einigen kurzen Sätzen als für den Aufenthalt von Kranken nicht geeignet abgetan:
»Bei Locarno an der Nordspitze des Sees ist die Gegend ungesund und sumpfig. Es brechen aus dem Ticino [Tessin-] und Maggiathal kalte mit Gletscherluft gemischte Winde hervor, und die Breite des Sees scheint bei den starken Temperaturschwankungen die Bildung von Nebeln zu begünstigen.«
Erst 1885 schaffte die Korrektur und Kanalisierung des Verlaufes des Tessin eine Abhilfe, so dass 45 Jahre später sogar die Malaria eine der Indikationen für eine Kur in Locarno bilden konnte.
Abbildung 20:
Links: Die Wallfahrtskirche Madonna del Sasso oberhalb Locarno auf einem Fremdenverkehrsplakat von 1944. Rechts: Der Kreuzweg zur Kirche Madonna del Sasso, etwa 1910.
Exakte medizinische Beschreibungen des Klimas und der Klimawerte Locarnos finden sich erst gegen Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Die erste Abhandlung zu diesem Thema veröffentlichte der Hotelarzt des Grand Hôtel Locarno, Dr. Aloys Martin, im Jahre 1908. Er schrieb unter anderem:
»Die Luft in Locarno ist rein, völlig staub- und nebelfrei, milde anregend und mässig feucht. Der Himmel ist meist klar, während der Wintersaison unveränderlich blau und von auffallender Transparenz. Die Zahl der sonnenhellen Tage mit auffallend starker Insolation ist sehr gross, während die Zahl der Regentage sehr gering ist.
Dadurch wird es möglich, sich fast täglich im Freien zu ergehen, zumal der Boden nach Regen sehr rasch wieder trocken wird. Locarno ist derjenige Ort am Langen See [= Lago Maggiore], der am besten gegen Winde geschützt ist, da er ringsum, namentlich gegen Norden, von hohen Bergen umgeben ist, wofür die üppige südliche Vegetation uns den deutlichen Beweis liefert.«
Martin unterstrich damit das Gegenteil dessen, was Reimer über Locarno geäußert hatte. Von kalten Bergwinden war hier keine Rede mehr, ebenso wenig von einer ungesunden, sumpfigen Gegend.
Es ist allerdings zweifelhaft, ob man der Beschreibung der einzelnen Autoren, hier der von Aloys Martin, ohne Bedenken folgen darf, denn gelegentlich handelt es sich sicher auch bei wissenschaftlich ausgelegten Beschreibungen um Public-Relations-Veröffentlichungen der einzelnen Kurorte, in denen die positiven Seiten herausgekehrt, die negativen jedoch verschwiegen werden. Verläßlich — cum grano salis — sind nur die kontrollierbaren Klimawerte.
Monat | I | II | III | IV | V | |
---|---|---|---|---|---|---|
September | 17,6 | 17,6 | 16,7 | — | 17,6 | |
Oktober | 11,3 | 11,6 | 12,0 | — | 12,9 | |
November | 7,2 | 6,7 | 6,8 | — | 7,9 | |
Dezember | 3,2 | 3,2 | 4,0 | 4,1 | 4,4 | |
Januar | 4,7 | 2,0 | 3,1 | 2,7 | 3,9 | |
Februar | 3,4 | 4,2 | 4,5 | 4,3 | 5,2 | |
März | 7,1 | 7,4 | 7,7 | — | 9,3 | |
April | 11,3 | 11,8 | 11,4 | — | 12,6 |
Klimatabelle 3:
Angaben der mittleren Temperaturwerte in Grad Celsius: I. Martin 1908 (zwanzigjähriges Mittel 1889-1908); II. Schmid-Curtius 1929 (siebenunddreißigjähriges Mittel 1864-1900); III. Schmid-Curtius 1929 (zwanzigjähriges Mittel 1907-1926); IV. Schweizerisches Medizinisches Jahrbuch 1938; V. Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie MeteoSchweiz. Klimanormwerte für Locarno. Normperiode 1991–2020. Hinweis: »Mittlere Temperaturwerte« und »Klimanormwerte« sind nicht notwendigerweise direkt vergleichbar (mehr im letzten Kapitel »Schlussbemerkungen«).
Die ersten speziellen Heilanzeigen brachte ebenfalls Martin im Jahre 1908. Er schrieb:
Indiziert ist Locarno in Fällen von:
1. chronischen Katarrhen und Entzündungen der Schleimhaut der Atmungsorgane, namentlich des Rachens und des Kehlkopfes,
2. von Asthma und Bronchiektasie,
3. von chronischer Induration des Lungengewebes,
4. von pleuritischem Exsudate,
5. von chronischer Nierenentzündung,
6. von verschiedenen Krankheiten des Zentralnervensystems, wie Überreizungen des Gehirns, Schlaflosigkeit etc.
Schliesslich ist es allen Rekonvaleszenten nach akuten Krankheiten und namentlich Kindern nach überstandenen Masern oder Keuchhusten und bei gestörten körperlicher Entwicklung und allen Ruhebedürftigen zu empfehlen.
Die Sterblichkeit an Kinderkrankheiten war zu dieser Zeit noch sehr hoch. Exemplarisch seien hier einige Zahlen aus der Sterbestatistik der Berliner Klinischen Wochenschrift (Nr. 17, 1880) angeführt:
„In der Woche vom 11. bis 17. April sind hier 630 Personen gestorben. Todesursachen: Masern 18, Scharlach 12, … Schwindsucht 88, …, Keuchhusten 6, …
Bei dem ausgesprochenen Schonklima Locarnos im Herbst und Winter, das im Frühjahr durch eine leichte Reizwirkung ergänzt wird, ergab es sich ganz natürlich, dass zunächst allgemeine Erkrankungen, Schwächezustände und nervöse Erscheinungen hier eine Behandlung erfuhren.
In einer ausführlichen Untersuchung des Arztes Dr. H. Feitis, der im Kurhaus Orselina über Locarno arbeitete, wurden diese noch spärlichen Indikationen ergänzt. Locarno, so meinte Feitis, sei geeignet für Rekonvaleszenten, besonders nach Infektionskrankheiten, Frauenleiden, Operationen und Apoplexie. Ferner könne der Ort aufgesucht werden von Patienten, die unter chronischen und subchronischen Magen-Darmerkrankungen, Leber- und Herzleiden, ohne oder mit leichten Dekompensationen, Coronarsklerose, Hypertonien, Arteriosklerose, Diabetes und Fettsucht litten. Auch zur Behandlung oder Auskurierung von Psychoneurosen, Psychosen, Neurasthenie und organischen Nervenkrankheiten sei Locarno richtig als Kurort, und natürlich bei allgemeiner Konstitutionsschwäche und im Senium.
Weit wichtigere Bedeutung habe allerdings die klimatologische Beratung bei folgenden Krankheitszuständen:
1. Erkrankungen der Atmungsorgane: Chronische und subchronische Laryngitis, Tracheitis, trockene Bronchitis.
2. Feuchte und eitrige Bronchitis, Bronchiektasen.
3. Asthma bronchiale.
4. Lungentuberkulose, mit der besonderen Indikation für Locarno bei Frühinfiltraten.
5. Tuberkulose der Knochen, Gelenke, des Bauchfells, der Halsund Halsdrüsen, Skrophulose.
6. Nierenerkrankungen.
7. Bluterkrankungen.
8. Neuritis, Neuralgie, Tabes.
9. Rheumatische Erkrankungen, chronische Arthritis, Gicht.
10. Chronische Malaria, chronische Dysenterie, Sprue, Tropenneurasthenie.
Als Kommentar zur Indikation der Lungentuberkulose meinte Feitis unter Hinweis darauf, dass für Tuberkuloseerkrankte viele unterschiedliche Klimata empfohlen würden, dass die Lungentuberkulose nicht zu den klimasensibelen Erkrankungen gehöre, sondern dort ausgeheilt werden könne, wo auch für den Gesunden ein optimales Klima herrsche.
Die Zusammenstellung von Indikationen von Feitis muss auch heute noch als die umfassendste für Locarno gelten. Die im Kleinen Klimabuch der Schweiz aus dem Jahre 1961 enthaltenen Heilanzeigen sind bei weitem nicht derart detailliert wie die von Feitis. Die in dieser Broschüre zusammengefaßten Indikationen schließen lediglich folgende Krankheitszustände ein:
»Schlecht kompensierte Herzschäden, chronisch-degenerativer Rheumatismus, Nervosität und Schlaflosigkeit, Rekonvaleszenz, insbesondere bei älteren Personen.«
Für die Leiden empfahl Schmid-Curtius die Zeit zwischen dem 1. September und dem 1. März als die günstigste für eine Kur.
Alle neuen Erkenntnisse, die sich in irgendeiner Weise mit der bioklimatischen Medizin in Verbindung bringen ließen, wurden von den Kurärzten herangezogen, um die gesundheitsfördernde Wirkung ihres Kurortes zu untermauern. So maß man nach der Entdeckung der elektromagnetischen Strahlung in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ihr eine Unterstützung der klimatischen Wirkung zu. Schmid-Curtius wies auf eine hohe Bodenradioaktivität im Bereich von Locarno hin, und was für Lugano der Ozon war, wurde für Locarno die Radioaktivität.
»An der vielfach beobachteten Regenerationskraft des Klimas von Locarno, vor allem bei Rekonvaleszenten und Neurasthenikern, dürfte die Erdstrahlung mit der Zeit der ihr gebührende Anteil zugesprochen werden. Gerade Menschen, die sonst auf einem emanationsarmen Untergrund leben (Kalk, Keuper, Sedimente usw.) finden überraschend schnelle Wiederherstellung. Auch für Diabetiker liegen ärztliche Erfahrungen aus dem Tessin vor, die darauf hinweisen, daß der feste Untergrund bei der Klima- und Heilwirkung mit beteiligt sein muß.«
Zur Unterstützung der klimatischen Kur bei diesen Indikationen schlug Schmid-Curtius neben einem ausgedehnten Aufenthalt im Freien physikalische Anwendungen vor. Der Kurgast könne außerdem Diätkuren, wie zum Beispiel Trauben-RohkostKuren oder die Bircher-Diät, durchführen. Zudem seien Grat-, Gipfel- und Gletscherwanderungen möglich, und Freiluft- und Sonnenbädern stehe fast das ganze Jahr über nichts im Wege.
Abbildung 21:
Locarno. Werbeplakat 1932.
Hierzu komme ein nicht zu unterschätzender Faktor:
»… das ist der erleichternde und erhebende Einfluß, den die Lichtfülle dort auf den Menschen ausübt.«
Die Sonne, die im Gebiet von Locarno weit mehr Stunden im Jahr scheint, als in der Deutschschweiz und in Deutschland, läßt eine Vegetation entstehen,
»die in ihrer Formen-und Farbenpracht gerade den manchmal verhetzten, bedrückten und verfinsterten Großstadtmenschen eine helle Freude zu sein vermag.«
»Ob es die Blütenpracht der Mimosen, Camelien, Azaleen und Rhododendren im Frühjahr ist, oder die Ginsterblüte an den Berghängen, namentlich am Höhenweg nach Ronco, im Mai, oder der Traubensegen in den Reblauben im Herbst, oder die langandauernden Abendbeleuchtungen nach Sonnenuntergang im Winter, immer trifft das Auge auf Bilder, die durch Naturschönheit die Seele des Menschen zu erheben vermögen. Die Lichtfülle dieses Gebietes, mit allem, was damit zusammenhängt, ist ein Heilfaktor von nicht zu unterschätzender Bedeutung.«
Abbildung 22:
Das den Seeblick dominierende Grand Hôtel Locarno Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts.
Das größte Gebäude Locarnos war seit 1876 das Grand Hôtel Locarno, ein mächtiger, dreistöckiger Bau, der aus der Mitte der Stadt herausragte, zum See hin gewandt, mit einem großen, parkähnlichen Garten, der mit Gewächsen aus Afrika und Asien bepflanzt war.
»Das Innere des Hôtels zeichnet sich aus durch hohe luftige Räume, einen herrlichen Speisesaal und ein mit wahrer Raumverschwendung gebautes grossartiges Stiegenhaus, sowie durch breite und helle Corridore. Im Winter sind all’ diese Räume durch Luftheizung gleichmässig erwärmt und ersetzen somit eine Wandelbahn vortrefflich, falls Regen eine Promenade im Freien nicht zulässt.«
Der Kurverwalter Bally schrieb 1910 über das Grand Hôtel Locarno:
»Dieser auf leichter Anhöhe zwischen dem angrenzenden Gotthard-Bahnhof und der Schiffslände in prächtigster und ganz besonders geschützter Lage, mit seiner Hauptfront nach Südost gelegene und dem See zugekehrte grossartige Hotelbau zählt zu den schönsten Gebäuden dieser Gattung in der Schweiz und wurde erst in den allerletzten Jahren unter Leitung eines erfahrenen Arztes nach den Vorschriften der Hygiene besonders für den Winter- wie den Frühjahrs- und Herbstaufenthalt eingerichtet und von seinen Eigentümern mit allem nur möglichen Komfort ausgestattet.«
»Wie nirgends sonst in der Schweiz, in Italien und dem südlichen Frankreich, sind die 200 hohen und geräumigen, zum Teil mit Erkern und Balkons geschmückten Salons und Zimmer sämtlich electrisch beleuchtet, mit Parkettfussböden belegt, mit Warmwasser-Zentralheizung und trefflich heizenden Kachelöfen, Winterfenstern und eisernen Bettstellen versehen, Badekabinette und Appartements mit Privatbadezimmern in jedem Stockwerke eingerichtet, das ungewöhnlich grosse und weite Treppenhaus mit Personenaufzug, wie die lichten und breiten, zum Teil von oben beleuchteten und vorzüglich ventilierten Gänge mit Zentralheizung versehen und mit dichten Teppichen belegt, und den prachtvollen Speise-, Konversations-, Lese- und Musiksalons ist ein kleiner Wintergarten zugebaut, durch welche verschiedenen Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten es den Gästen ermöglicht wird, sich selbst bei regnerischem Wetter ebenso ausgiebige wie angenehme Bewegung zu verschaffen.«
»Niemand, selbst nicht der erfrorenste und verwöhnteste Nordländer, wird hier — in diesem Muster eines Gasthofes im Süden — die Vorzüge seines Heimes vermissen, zumal das ‚Hotel Locarno‘ noch ein grosser, terrassenförmig ansteigender, parkähnlicher Garten umgibt, den selbst im Winter eine vollkommene südliche Vegetation schmückt und hierdurch dem Besucher nicht bloss täglich neue Unterhaltung und Wechsel im Vergnügen bietet, sondern auch durch den prachtvollen Ausblick auf die wahrhaft grossartige Umgebung mit ihren stets wechselnden Beleuchtungen sein Auge hoch erfreut und ihn im Anschauen dieser zauberischen Natur nicht müde werden lässt.«
Außer diesem Hotel, das auch über einen eigenen Arzt und ein Schiffahrts- und Eisenbahnbüro verfügte, existierten in Locarno noch das Hôtel Suisse (Schweizerhof), das Fischer als ein Hotel zweiten Ranges bezeichnete, die Hotel-Pension Reber — »für längeren Familienaufenthalt,« und die Hotel-Pension de la Couronne in der Nähe des Landungsplatzes der Schiffahrtslinie.
Die Stadt Locarno selbst rühmte sich in diesen Jahren bereits für Fahrräder und Automobile geeignete Straßen zu besitzen. Eine neue Wasserleitung versorgte die gesamte Stadt mit Trinkwasser, die Abwässer wurden durch ein Kanalisationssystem in den See geleitet. Sport treiben konnten die Kurgäste und Touristen auf mehreren, aufwendig angelegten Tennisplätzen und einem Golfplatz in der Nähe.
1938 verzeichnete das Schweizerische Medizinische Jahrbuch bereits 50 Hotels mit 1500 Betten.
Abbildung 23:
Oben: Diligence für den Post- und Personenverkehr zwischen Locarno und Ascona, 1880.
Unten: Postbus für die Strecke Locarno-Ascona-Brissago, 1910.
Wenige Kilometer südlich von Locarno, auf der anderen Seite der vom Delta des Flusses Maggia in den See vorgeschobenen Halbinsel liegt Ascona. In der Nähe des damaligen kleinen Dorfes ließen sich um das Jahr 1900 einige Ausländer nieder, denen der Lebenwandel in ihrer Heimat zuwider war und die ein naturverbundenes, einfaches Leben anstrebten.
Zu ihnen gehörte der Belgier Henri Oedenkoven, der das Kapital für den Ankauf eines dreieinhalb Hektar großen Landstückes oberhalb von Ascona zur Verfügung stellte. Hier entstand unter dem Namen Monte Verità eine Kolonie von Naturaposteln und Vegetariern, denen im Laufe der Zeit ein Großteil ihres Idealismus schwand. Der Geldgeber Oedenkoven und die übrigen Mitglieder begannen bereits von 1901 an die Kolonie in eine Naturheilanstalt umzuwandeln.
Abbildung 24:
Oben: Naturheilanstalt Monte Verità – Heliotherapie.
Unten: Vor den Stufen des Gesellschaftshauses und späteren Restaurants steht Hermann Hesse (Mitte, frontal zum Haus) in einer Gruppe der »Naturapostel«; er unterzog sich 1906 einer Kur auf dem Monte Verità
Noch lebten die Angehörigen in einer Art Urkommunismus als Kommune zusammen, als 1902 der erste Prospekt des Sanatoriums Monte Verità erschien. Er kündigte eine Naturheilanstalt auf freigenossenschaftlicher Basis an. Eine Kaltwasserheilanstalt wurde angegliedert, außerdem führten die Gründer die Heliotherapie ein; sie wurde nach der Errichtung des Hauptgebäudes der Kolonie auf dessen Dach durchgeführt, um die Patienten vor neugierigen Blicken zu schützen.
Wegen der widersprüchlichen Artikel in der deutschsprachigen Presse ließ der Besuch des Sanatoriums jedoch zu wünschen übrig. Die Finanzlage blieb schlecht, so dass sich Oedenkoven entschloß, von den in großen Mengen aus dem Süden, der Mailänder Gegend, und aus der Deutschschweiz anreisenden Besuchern, die nur einen Tagesausflug machten, um das Sanatorium zu besichtigen und die Rohköstler zu bestaunen wie die Tiere im Zoo, jeweils zwei Franken Eintritt zu verlangen.
Im Laufe der Jahre wurde die Propaganda in der Schweiz und in Deutschland ausgeweitet, und die Zahl der Gäste wuchs langsam. Trotz der Naturverbundenheit der Kolonisten waren moderne technische Errungenschaften beileibe nicht vom Monte Verità verbannt; die Siedler hatten zum Beispiel als erste in der weiteren Umgebung bereits kurz nach der Gründung einen Stromanschluß.
Im Jahre 1907 besuchte ein Berichterstatter des Berliner Lokal-Anzeigers den Monte Verità und verfaßte anschließend hierüber einen Artikel für seine Zeitung. Er schilderte das Sanatorium folgendermaßen:
»Im Zentralhause befinden sich ein Konversations- und Lesezimmer, ein Musikzimmer, ein Spielzimmer usw., kurz: alles, was man allerdings in verkleinerter und vereinfachter Weise in einem modernen Sanatorium vorfindet.«
»Um das Hauptgebäude gruppieren sich kleine Häuschen, die nur ein großes Zimmer für ein, höchstens zwei Personen enthalten; das Mobiliar besteht aus eisernen Normalbetten, Stühlen und Waschtischen; ein Vorhang trennt Schlaf- und Arbeitsteil, der einen Sekretär, einen französischen Schüttholzofen, einen Sessel und einen Schiffsstuhl aufweist; in die Wände sind Schränke eingelassen. In diesem Wohnsystem soll die Freiheit des Individuums, das nicht als Herden- oder Hotelmensch gelten soll, zum Ausdruck kommen.«
»Alle Bauten, alle Innenräume sind aus geöltem Holz hergestellt, sauber gehalten, mit elektrischem Licht und breiten Fensteröffnungen versehen; denn Licht und Sonne — viel Sonne suchen die hier in der Natur lebenden Menschen. Luft- und Sonnenbäder, bei denen die Geschlechtsgemeinschaft ausgeschlossen ist, Garten- und Ackerplätze für die Beschäftigung im Freien, ja selbst ein Tennisplatz fehlen nicht.«
In der darauf folgenden Jahren, besonders in der Kriegs- und Nachkriegszeit machte die Gruppe um Henri Oedenkoven auf dem Monte Verità den kleinen, damals noch weltabgeschiedenen Tessiner Ort Ascona zu einem Mekka der von der Zivilisation Enttäuschten, der Vegetarier und Theosophen, später auch der Maler, Musiker und Schriftsteller, deren Anwesenheit das Bild des Ortes zu prägen begann, Ascona für Fremde anziehend machte und zu seiner Gestalt bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg beitrug.
Dabei ging der idealistische Charakter der Kolonie auf dem Monte Verità rasch verloren, und das Sanatorium wandelte sich später in ein mondänes Hotel, in den sich berühmte, aber auch lediglich reiche Leute ein Stelldichein gaben. Heute ist es ein Schulungszentrum der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich.
Abbildung 25:
Werbeplakate: Ascona und Brissago, etwa 1934.