ie einleitend bemerkt, entwickelte jedes Lebewesen auf dieser Erde stammesgeschichtlich verankerte Mechanismen, die den Fortbestand der einzelnen Art sichern. Desgleichen besitzt jedes Tier angeborene Verhaltensmuster und Triebe, die es ihm erlauben den Überlebenskampf in der Natur zu bestehen und seine Art zu erhalten.
Dies entspricht auch der Auffassung C.G. Jungs [1], der die Instinkte dem kollektiven Unbewußten zuordnet und folgendermaßen umschreibt:
„Als Instinkt dürfen demnach nur solche Erscheinungen gelten, welche vererbte, überall gleichmäßig und regelmäßig wiederkehrende, unbewußte Vorgänge sind. Zugleich muß ihnen das Merkmal der zwingenden Nötigung, also eine Art reflektorischen Charakters anhaften. Instinkte sind typische Formen des Handelns, und überall, wo es sich um gleichmäßige und regelmäßig sich wiederholende Formen der Reaktion handelt, handelt es sich um Instinkt, gleichgültig, ob sich eine bewußte Motivierung dazu gesellt oder nicht.“
Dies ist eine Definition, die erstaunlich mit derjenigen der Verhaltensforscher übereinstimmt.
Felix von Cube und Dietger Alshuth [2] setzen sich gründlich mit der Beobachtung der Triebe und den Kritikern von Konrad Lorenz [3] auseinander. Sie weisen nach, daß Lorenz Ansichten unterstellt wurden, die er nie geäußert hat. Daß Lorenz Beobachtungen des instinktiven Verhaltens der Tiere zur Deutung menschlichen Verhaltens herangezogen hat, hat ihn nie dazu verleitet, den Menschen den Tieren gleichzustellen. Er hat nie die kognitiv-reflektiven Fähigkeiten des Menschen im Umgang mit seinen Instinkten in Frage gestellt. Er hat auch nie bezweifelt, daß der Mensch ein lernfähiges Wesen ist. Eine solche Annahme würde ja eine Evolution der Menschheit, die ein Lernprozeß darstellt, der zwischen Instinkt und Vernunft stattfindet, ausschließen Gerade das Wissen des Menschen um die Kräfte der Triebe und Instinkte ermöglicht es ihm aber, vernunftgemäß mit ihnen umzugehen.
Aus den Beobachtungen der Verhaltensforschung kann also festgestellt werden, daß der Mensch wie jedes Tier mit angeborenen Trieben, Instinkten und Verhaltensmuster ausgestattet ist. Diese entwickeln Spontanpotentiale und lösen stammesgeschichtlich programmierte Muster und Verhaltensabläufe aus, die, wie wir sehen werden, einer natürlichen Gesetzmäßigkeit folgen und auf das Verhalten des Menschen einen nicht wahrgenommenen unbewußten Einfluß ausüben.
Die Bedeutung dieses Aspektes der menschlichen Natur stößt auf zum Teil vehemente Ablehnung und auf Kritik seitens vieler Wissenschaftler an der Verhaltensforschung, einzig und allein, weil der moderne rationalistische, säkularisierte Mensch sich gegen alles wehrt, was sich einer rationalen Erfassung und Messung entzieht — kann doch das kollektive Unbewußte mit seinen Instinkten nicht direkt, sondern nur in seiner Wirkung beobachtet werden. Der Versuch alles rational verstehen und erklären zu wollen, verleitet den Menschen zu einer unzulässigen Vereinfachung und Reduktion der menschlichen Komplexität auf das Erfaßbare und Messebar und mündet in die rationalistische Überheblichkeit, die unsere Gegenwart kennzeichnet.
Ohne die Bereitschaft zu ganzheitlichem Denken verkümmert damit die Philosophie — die Liebe zur Weisheit mit ihrer Demut und Ehrfurcht gegenüber dem Unerklärbaren und Transzendenten — zur bloßen Ideologie.
Karl Popper [4], der Philosoph des kritischen Rationalismus, vertritt die Meinung, daß jede These als Arbeitshypothese so lange Gültigkeit besitzt, bis sie falsifiziert wird und durch eine bessere ersetzt wird, die wiederum falsifiziert werden kann, denn Wahrheit ist nichts Endgültiges, sondern ein immerwährender Suchprozeß Wenn Kritiker behaupten, die Hypothesen der Verhaltensforscher seien nicht wissenschaftlich restlos bewiesen und deshalb unbedeutend oder gar unzulässig, müssen sie sie auch falsifizieren können. Soweit bekannt, ist dies bis heute nicht der Fall gewesen, denn niemandem ist es bis heute gelungen, rein rationale Erklärungen für menschliches Verhalten zu finden. Interessanterweise ist die Einsicht, daß menschliches Verhalten mit rationalen Mitteln allein nicht zu erklären ist, am ehesten den Ökonomen bewußt, weil sie das spontane Verhalten der Menschen in der Ökonomie beobachten und täglich mit der Erfahrung konfrontiert werden, daß dieses von der Vernunft nie genau vorausgesehen oder erklärt werden kann — daß ihre Prognosen sich meistens als falsch erweisen.
Jedes Lebewesen der Erde ist ein Wunder der Schöpfung: „Auch das kleinste Katzentier ist ein Meisterwerk“, hat schon Leonardo da Vinci erklärt.
Alle Instinkte, die der Arterhaltung dienen, sind ein integrierender Bestandteil dieses Wunders und ermöglichen den Fortbestand aller Lebewesen, den die Vernunft nicht gewährleisten könnte. Es gibt kein einziges, überzeugendes Argument, das beweist, daß diese Naturgesetze nicht nur für die Tiere, sondern genauso auch den Menschen prägen. Die von der Natur vorgesehenen Instinkte und Verhaltensmuster haben somit die transzendentale, sakrale Dimension der gesamten Schöpfung, die wahrgenommen und respektiert werden muß. Neben der Theorie, die menschliches Verhalten als Ausdruck eines rationalen Lernprozesses verstanden wissen will, lauern dem Verständnis der transzendenten Dimension neue Gefahren.
Die neueste genetische Forschung verführt die Wissenschaftler dazu, alles mit den Genen erklären zu wollen, eine willkommene neue Möglichkeit, menschliches Verhalten wissenschaftlich rational erklären zu können. Natürlich ermöglichen uns die Resultate der Genforschung wichtige neue Einsichten, doch sind auch diese nur ein Teil der Wahrheit, denn die Natur ist zu komplex, um einfache, rationale Erklärungen zuzulassen.
Man darf auch nie vergessen, daß die Natur Evolution ist, in der Materielles und Immaterielles mit nicht voraussehbaren Wirkungen zusammentreffen, "Geist" als Energie und "Materie" stellen eine untrennbare Einheit dar.
Beim Studium der Arbeiten von Konrad Lorenz, Bernhard Hassenstein, Desmond Morris, Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Felix von Cube und Dietger Alshuth wird deutlich, daß in der Natur, besonders in der höheren Tierwelt, angeborene Triebe, Instinkte und Verhaltensmuster am Werk sind, die einer Gesetzmäßigkeit folgen, die auch beim Menschen beobachtet werden kann.
Als wesentliches Merkmal der angeborenen Triebe gilt es hervorzuheben, daß sie als spontane Kräfte in Erscheinung treten, sie entwickeln Spontanpotentiale. Reize führen bei vorhandenem Triebpotential zur Triebhandlung. In diesem Zusammenspiel zwischen Triebstärke, also der Bereitschaft zur Triebhandlung, und dem Reiz, der sie auslöst, besteht das Prinzip der doppelten Quantifizierung. Mit anderen Worten, die Summe der beiden Faktoren bleibt immer gleich: Eine hohe Triebstärke reagiert auf einen schwachen Reiz, eine geringe Bereitschaft kann durch Verstärkung der Reizstärke zur Triebhandlung führen. Die Theorie, daß gewisse Verhaltensweisen des Menschen wie bei den Tieren durch spontane Potentiale ausgelöst werden, erscheint umso wahrscheinlicher, als sich die Natur der Lebewesen uns als ein metastabiles, nach Gleichgewicht suchendes System offenbart. Die Arterhaltung kann unmöglich durch ein rein reaktives Verhalten der einzelnen Komponenten gewährleistet werden, Arterhaltung ist eine Energieleistung.
Dieser Ablauf der Spontanpotenziale der Triebe soll im Folgenden als spontaner instinktiver Energiezyklus bezeichnet werden.
Die Spontaneität der Triebe führt zu einem stammesgeschichtlich verankerten Programm, das gemäß der Verhaltensforschung folgendermaßen zusammengefaßt werden kann: Zuerst baut sich eine wachsende Triebstärke auf (das Spontanpotenzial). Das Tier verspürt wachsenden Hunger oder sexuelles Bedürfnis, ein Zustand der mit Unlustgefühlen verbunden ist.
Es folgt das Appetenzverhalten: Die erste Phase besteht nach Hassenstein [5] darin, daß das Lebewesen durch sein Verhalten die Begegnung, mit den Gegenständen (Nahrung, Nistmaterial) oder Lebewesen, auf die sich der betreffende Antrieb (die Bereitschaft) bezieht, wahrscheinlicher macht. Die zweite Phase besteht in der gezielten Annäherung an den Gegenstand oder das Lebewesen, auf das das Verhalten zugeschnitten ist.
Ursprünglich dürfte das „erwartete“ Appetenzverhalten — das Laufen, Werben, Erkunden — den durchschnittlichen Anforderungen einer natürlichen Umwelt angepaßt sein. Zweck und Ziel des Appetenzverhaltens ist es, die Triebhandlung zu ermöglichen: das Fressen, Paaren, Kämpfen. Die Aktivitäten der Triebhandlung münden in die Endhandlung: Stillung des Hungers, oder Durstes, Sieg über den Gegner, Begattung. Die Triebhandlung ist mit Lust verbunden, die Endhandlung löst das Triebpotential auf und führt zu einem Zustand der Entspannung. Die Instinktbewegungen des Appetenzverhalten (Laufen, Scharren, Werben) und der Triebhandlung (Saugen, Beißen, Begatten), die Konrad Lorenz als Werkzeuginstinkte bezeichnet, besitzen ihre eigene Spontaneität. Sie sind bei jeder Tierart angeboren und dem Umfeld angepaßt angelegt.
Dieser Vorgang wiederholt sich immer wieder gemäß den Bedürfnissen der Natur zur Erhaltung der Art und des natürlichen Gesamtgleichgewichtes.
Im Gegensatz zum Menschen der früherer Zeiten ist das Appetenzverhalten, wie das Suchen der Nahrung oder das Laufen um ein Tier zu finden und zu erbeuten, für den Menschen der Gegenwart in der Regel überflüssig geworden, es wurde zur selektiven Wahrnehmung abgeändert: Wandern wir mit Hunger in einer Straße, suchen wir mit dem Blick ein Lebensmittelgeschäft oder ein Eßlokal.
Dies hat zur Folge, daß der moderne Mensch viele Werkzeuginstinkte nicht mehr abruft, um seine Triebpotentiale abzubauen. Viel unerwünschtes Verhalten des zivilisierten Menschen ist in einem Ungleichgewicht in der Ökonomie des Instinktlebens zu suchen, was Unlustgefühle und Unzufriedenheit hervorruft; der zivilisierte Mensch braucht andere Herausforderungen und Aufgaben. Die Möglichkeit des Menschen, bei nur geringer Triebstärke ohne das Anrufen des Appetenzverhaltens, die Triebhandlung und die Endhandlung mit der damit verbundenen Lust herbeizuführen, führt zum Begriff der Verwöhnung.
Wie ausgeführt, besteht das Sein des Menschen aus Instinkten, einer unbewußten Welt mit seinen Emotionen und seinem Verstand, die alle untrennbar zusammenwirken und eine Einheit bilden. Diese Aspekte des menschlichen Seins zu unterscheiden ist also nur als Kunstgriff zulässig, wenn er dem Versuch dient, mit dem Verstand der Wahrheit näherzukommen. Daß im kollektiven Unbewußten angeborene Instinkte und Verhaltensmuster verankert sind, ist eine nicht widerlegte und widerlegbare Tatsache. Unbestreitbar ist auch, daß stammesgeschichtlich vorgesehene Instinkte nicht gezähmt oder „abgeschafft“ werden können. Ohne Integration dieses Aspektes bleibt eine Deutung menschlichen Verhaltens unvollständig, was den Lernprozeß der kulturellen Evolution nachhaltig behindert. Die Lernfähigkeit des Menschen kommt darin zum Ausdruck, daß er, im Unterschied zu den Tieren, im Wissen der Existenz unbewußter, angeborener instinktiver Anlagen, mit diesen so umzugehen lernt, wie das von einem höheren Wesen erwartet werden darf: auf menschliche Art.
Es muß wiederholt und unterstrichen werden, daß angeborene Triebe, Instinkte und Verhaltensmuster nicht in ihrer reinen Form, sondern im Zusammenspiel mit den anderen unbewußten Kräften des menschlichen Seins wirken und in Erscheinung treten, ein Hinweis der wichtig ist, um die Verhaltensforschung nicht in unzulässiger Weise zu einer alles erklärenden Ideologie werden zu lassen: sie soll sich darauf beschränken, nur einige, wenn auch wichtige Aspekte menschlichen Verhaltens zu erklären. Diese Aspekte prägen die Geschichte der Menschheit und die Gesellschaftspolitik entscheidend mit und sind stärker als der Verstand.
Eine Auseinandersetzung mit der ganzen Vielfalt der menschlichen Instinkte und seines Unbewußten würde zu weit führen und ist nicht der Zweck dieser Überlegungen. Interessant ist es, sich vor allem mit einigen im Vordergrund stehenden, gesetzmäßigen instinktiven Verhaltensweisen zu beschäftigen, die das Leben in der menschlichen Gesellschaft stark prägen und beeinflussen.
1. Jung, Carl Gustav. Die Dynamik des Unbewussten. Olten: Walter. 1967. 153.
2. von Cube, Felix; Alshuth, Dietger. Fordern statt Verwöhnen. Die Erkenntnisse der Verhaltensbiologie in Erziehung. München: Piper. 2010.
3. Lorenz, Konrad. Über tierisches und menschliches Verhalten. Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre. Gesammelte Abhandlungen in zwei Bänden. München: Piper. 1992.
4. Popper, Karl. Logik der Forschung. Wien. 1934.
5. Hassenstein, Bernhard. Funktionsschaltbilder als Hilfsmittel zur Darstellung theoretischer Konzepte in der Verhaltensbiologie. Zool. Jb. Physiol. 1983; 87: 181-187.
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Alexander von Wyttenbach: Die Vernunft als Untertan des Unbewussten.
Betrachtungen, herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Peter A. Rinck.
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