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Alexander von Wyttenbach:
Die Vernunft als Untertan des Unbewussten


Kapitel 6
Instinktgeprägte Interaktion

achdem wir uns den angeborenen Verhaltensmuster gewidmet haben, die das Verhalten auf individueller Ebene bestimmen, wollen wir versuchen, das Interaktionsmuster zu analysieren, das sich bei der Begegnung unbekannter Menschen abspielt.

Die Grundstim­mung bei der Begegnung zweier fremden Men­schen ist die eines unbewußten Angstgefühls.

Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat bei vielen primitiven Völkern (unter anderem den Yanomani-Indianer in Brasilien, wie auch auf Bali und Mindanao) eingehende Beobachtungen angestellt [18]. Das über­raschende Resul­tat dieser Beobachtungen ist, daß das Verhaltens­muster bei der Be­gegnung in allen Völkern, unabhängig von Rasse und Kultur, im Wesentlichen das gleiche ist, wenn man von den kulturbe­dingt un­terschiedlichen Erscheinungsformen absieht. Dies bedeutet, daß es zum kollektiven Unbewußten gehört. Es ist in der Tat auch bei Kindern zu beobachten, bevor ein Lernprozeß ange­nommen wer­den kann.

Das Muster beinhaltet eine Selbstdarstellung (die ag­gressive Komponente) auf der einen Seite und kontaktstif­tende Appelle (die affiliative Komponente) auf der anderen. Die Strate­gien des sozia­len Umgangs, um diesem Angstgefühl zu be­gegnen, teilt Eibl-Ei­besfeldt somit in zwei große Kategorien ein:

   die agonalen Strategien, über die eine Person oder Personen­gruppe Dominanz über die andere zu erzielen strebt, und
   die synagonalen oder affiliativen Strategien, die auf die Erhal­tung oder Herstellung freundschaftlicher Beziehungen abzielen.

Eibl-Eibesfeldt schreibt dazu:

„Eine vergleichende Untersu­chung von agona­len Auseinandersetzungen zwischen Gruppenmit­gliedern zeigt, daß in den meisten Fällen der direkte physische An­griff auf einen Mitmenschen vermieden wird … Nur in kritischen Situationen, die keinen anderen Ausweg ge­statten, z. B. bei Über­raschung, kann es zum unvermittelten Angriff kommen.“

Ein Schlüssel zum Verständnis der affiliativen Strategien „ist die ...Tatsache, daß wir unseren Mitmenschen gegenüber mit einer Mischung von Zugewandtheit und angstmotivierter Scheu reagie­ren.“ Bei den affiliativen Strategien heißt dies: „Die Interakteure müssen, mit anderen Worten, alles vermeiden, was sowohl das An­sehen des Partners als auch den eigenen Status gefährdet.“

Die Interaktion im Alltag

Die angstmotivierte Scheu ist in typischer Weise bei der Begeg­nung zweier fremder Menschen in einem Fahrstuhl deutlich zu be­obachten: Ein freundlicher Blick genügt, um „das Eis zu brechen“ und ein gewisses Unbehagen, die unbewußte Angst aufzulösen.

Na­türlich handelt es sich bei diesen Beobachtungen um nichts Neues, diese Strategien kann jedermann im Alltagsleben leicht er­kennen.

Die in unserer Kultur übliche Begrüßung mit Hände­druck bei gleichzeitigen Suchen nach Blickkontakt ist ein Beispiel für und kontaktstiftenden Appell und Selbstdarstellung; wenn der Gegen­spieler dabei die Hand nur schwach drückt, signalisiert dies Unter­würfigkeit.

Ein weiteres Beispiel von Selbstdarstellung und Kontaktsuche ist der Austausch von Visitenkarten: Die Visitenkarte stellt dar, wer ich bin, die Überreichung die Kontaktsuche.

Das glei­che Muster spielt sich bei den Verhandlungen im Basar ab: Der Händ­ler verlangt für seine Ware einen unrealistisch hohen Preis, der Käufer macht desgleichen mit einem zu niedrigen Ange­bot (die Selbstdarstellung: „Ich laß mich nicht übers Ohr hauen“), dann wird verhandelt und beide gehen mit dem Preis aufeinander zu (Kontaktsuche). Mit dem Abschluß des Geschäfts ist der Kon­takt hergestellt – das heutige System der festen Preise in den Su­permärkten mag wirtschaftlich sinnvoll sein, bedeutet aber gleich­zeitig einen bedauerlichen Verlust des menschlichen Kontaktes zwi­schen Käufer und Verkäufer.

In der Diplomatie bei Staatsbesu­chen kann man das gleiche Ri­tual beobachten: Nach der Abnah­me der Militärparade (die Selbst­darstellung) singen oft Kinder Ständchen oder überreichen dem ho­hen Gast Blumen (kontaktsu­chender Appell). Die Diploma­tie ist die hohe Kunst und Strategie, dem angeborenen Verhaltens­muster der Interaktion gerecht zu werden. Dies gilt jedoch nicht nur für die Staatsdiplomatie, son­dern auch für die Beziehungen im Alltagsleben; die Beispiele die­ser Strategien sind unzählig.

Die wesentliche Erkenntnis dieser Be­obachtungen von Eibl-Ei­besfeldt ist vor allem die Tatsache, daß das Muster der Interaktion nicht kulturbedingt und erlernt ist, sondern einem angeborenen, in­stinktiven Verhalten entspricht, kulturabhängig ist nur die Form mit der dieses Muster in Erscheinung tritt. Dies zu wissen ist insofern wichtig, als ein Zuwiderhandeln gegen diese Regeln der Interakti­on unvermeidbar zu Spannungen unter den Menschen führt.

Es ist interessant festzustellen, daß gemäß dem Evangelium und der Lehre Buddhas die Liebe zum Nächsten, genau besehen, gera­de in der Überwindung dieses angeborenen Musters besteht.

Am John-Main-Seminar 1994 in London, an dem der Dalai Lama für christliche Geistliche eine Lesung und Interpretation des Evangeliums vornahm, wählte er folgende Worte Jesu Christi aus dem Markus-Evangelium (3, 31-35):

„Es kamen seine Mutter und seine Brüder und ließen Ihn rufen. Rund um Ihn war die Menge und die sagte: ‚Hier ist deine Mutter, deine Brüder und deine Schwestern sind draußen und suchen Dich.’ Doch er antwortete ihnen: ‚Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?’ Er wandte sich an alle Anwesenden und sagte: ‚Das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!’“

Der Dalai Lama deutete diese Worte in dem Sinne, daß wahre Empathie nicht mit einer Bindung einhergehen muß, denn die emo­tionale Bindung ist instabil, voreingenommen und kann nicht gleichmütig sein; sie impliziert die Gefahr der Parteilichkeit. Mit anderen Worten, die wahre Liebe muß den Dualismus des angebo­renen Verhaltensmusters der menschlichen Begegnung zwischen einer aggressiven und einer affiliativen Komponente überwinden.

Dies ist in der Tat eine große Weisheit, in der sich Christus und Buddha treffen, die aber leider nur wenige Menschen erkennen und zu beherzigen imstande sind. Die Bedeutung dieser Meditation be­steht darin, daß Weisheit nicht eine Verdrängung oder Verurteilung des angeborenen instinktiven Verhaltensmusters bedeutet, sondern seine Beherrschung oder Überwindung. Sie ist zudem eine Antwort auf die teilweise heftig geführte Kontroverse zwischen Psycholo­gen und Verhaltensforscher (zum Beispiel zwischen Viktor Frankl und Konrad Lorenz über das Sexualverhalten).

Sofern und solange der Mensch diese Weisheit nicht erreicht hat, erscheint es demnach notwendig, daß er sich der angebore­nen Verhaltensmustern bewußt ist und ihnen mit seiner Vernunft Rech­nung trägt.

Vernachlässigung der Interaktionsmus­ter und ihre Folgen

Der Pseudorationalismus unserer Zeit hat in diesem Zusammen­hang einen großen Schaden ange­richtet. Die Kultur des 18. und des 19. Jahrhunderts hatte hochentwickelte Formen des Umgangs unter Menschen gepflegt, die sogenannte „Kinderstube“, die eine wichti­ge Funktion in den Be­ziehungen unter den Menschen in der Gesell­schaft hatte und ha­t.

In Unkenntnis der Tatsache, daß Regeln des höflichen Um­gangs nichts mit Ethik oder Kultur zu tun haben, sondern einem angebo­renen Verhalten Rechnung tragen und Schranken unter Menschen in den Begegnungen und Beziehungen abbauen, wurden diese For­men vom Pseudorationalismus als verlogen und ein Pro­dukt der „korrupten, bourgeoisen Klassengesellschaft“ abgetan.

Statt diese Interaktionskultur allen Menschen zugänglich zu ma­chen, wurde sie im Namen des Egalitarismus der kollektivistischen Ideologie, der „Gleichheit aller Menschen“, irrtümlicherweise als obsolet bezeichnet und in der Erziehung in Familie und Schule kur­zerhand vernachlässigt, wenn nicht gar gänzlich abgeschafft — ein evolutionärer Rückschritt.

Wenn der Jüngere in der Straßenbahn dem Älteren den Sitz­platz anbietet, ist dies nicht nur eine Berücksichtigung seiner mutmaßli­chen körperlichen Schwäche, sondern auch ein Signal des Respekts und des guten Einvernehmens unter den Generationen. Wenn der Mann an der linken Seite der Frau schreitet, ist es ein Zeichen des Schutzes und somit der Wertschätzung.

Dies sind alles Signale, die unbewußt die Interaktion unter Menschen positiv be­einflussen und ei­nem besseren, einvernehmli­chen Zusammenleben dienen.

Die Höf­lichkeitsformen haben somit eine eminent wichtige Funktion: Sie bauen die instinktive agonale Komponente bei der Begegnung un­bekannter Menschen zugunsten der affiliativen ab, sie sind sozusa­gen das „Schmiermittel“ der menschlichen Bezie­hungen.

Dieser Mangel kommt zum Beispiel im Straßenverkehr verhee­rend zum Vor­schein: Mehr Höflichkeit auf der Straße würde nicht nur Aggres­sionen abbauen und das Reisen angenehmer gestalten, sondern auch die Sicherheit fördern. Diese Erkenntnis scheint sich langsam durchzusetzen, zumindest was den Straßenverkehr be­trifft, doch er­setzen große Plakataktionen am Straßenrand und Appelle auf Rücksicht im Verkehr nicht eine Kultur der Interakti­on, die von Kind auf gepflegt und vorgelebt werden sein will.

Bedeutung des Interaktionsmusters in der Massen­gesellschaft

Naturgemäß wird der Mensch in der modernen Massengesell­schaft mit ihrer großen Mobilität immer mehr mit unbe­kannten Men­schen, mit Fremden, konfrontiert und immer öfter diesem Angstge­fühl ausge­setzt — eine wesentliche Ursache für eine Bela­stung der Menschen in unserer Zeit.

Um diesen Angstge­fühlen zu begegnen, hat er zwei Strategien zur Verfügung: Die eine besteht daraus, Begegnungsrituale — Um­gangsformen — zu entwickeln und er­lernen, die andere, sich sozia­len Gruppen anzuschließen.

Zur Hebung der Lebensqualität in der heutigen anonymen Mas­sengesellschaft ist es somit dringend not­wendig, sich an dieses an­geborene, instinktive Verhaltensmuster zu erinnern und diese Fehl­leistung des sogenannten Progressismus zu korrigieren.

Die aggressi­ve Komponente der Interaktion kann als Auslöse­reiz für den Ausbruch von aufgestauten Aggressionspotentialen des verwöhnten Menschen in den Großstädten verantwortlich sein: Ge­walttätigkeiten, die dann in den Gazetten oft als „sinnlos“ oder „ohne ersichtlichen Grund“ bezeichnet werden.

Der nicht ersichtliche Grund liegt in angeborenen Verhaltens­mustern: die angstmotivierte Selbstdarstel­lung in einer anonymen Massengesellschaft, die zu Konflikten führt, die mit der Vernunft nicht gelöst werden können. Doch ist der Mensch lernfähig und kann, wenn er will, aus der Erfahrung die notwendigen Lehren zie­hen. Einige Unternehmen haben dies be­reits erkannt und führen über das Problem der innerbetrieblichen menschlichen Interaktion Seminare durch. Doch eine entscheiden­de Verbesserung ist nur dann zu erwarten, wenn dies von Kind auf zum allgemeinen Kul­turgut wird.

In der Familie und der Schule muß die Bedeutung, aber auch der Nutzen kontaktsuchender Um­gangsformen wieder erkannt und gefördert werden. Das kann nicht mit plakativen, moralisierenden Propagandaaktionen erreicht wer­den, sondern nur mit einem lang­wierigen, geduldigen Lernprozeß, als Ausdruck einer kulturellen Evolution, zu der der Mensch fähig ist.

Elektronische Medien und menschliche Interaktion

Das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts hat eine stürmische Ent­wicklung und Verbreitung der audiovisuellen Kommunikation mit elektronischen Mitteln erlebt; was mit Radio und schwarz-weiß Fernsehen began, hat sich mit dem Internet fortge­setzt. In der Be­geisterung über diese wahrlich phan­tastischen tech­nischen Errun­genschaften werden deren Grenzen als Mittel der In­teraktion unter Menschen meist übersehen.

Die audiovisuellen Medien ermöglichen nur eine virtuelle, im­materielle Kommunikation und Interaktion, die Informationen ge­hen in nur einer Richtung und besitzen keine körperliche, gegen­ständliche Dimension, die ihre Botschaft zu einer menschlichen Er­fahrung werden läßt: Eine CD kann nie einem Konzert, ein Film nie einer Theateraufführung gleichgesetzt werden. Dieser Unter­schied wird deswegen nicht wahrgenommen, weil der Mensch au­ßerordentlich lernfähig ist und anhand seines Erinnerungsvermö­gens ler­nen kann, beim Anhören einer Platte unbewußt die Erfah­rung ein­zufügen, die er in bei einem Konzert schon gemacht hat und die das elektronische Medium nicht wiedergeben kann. Um dies zu können, muß er aber zuerst die Erfahrung des Konzerter­lebnisses haben.

Die verhaltensbiologisch aber auch psychisch wirksame Kom­munikation und Interaktion unter Menschen ist demnach nicht ein rein rationaler Vorgang, sondern fußt auf unendlich viele Sinnes­wahrnehmungen, vom Gesichtsausdruck und der Körpersprache bis zum Tonfall der Stimme und allen übrigen Wahrnehmungen, was was man gemeinhin als „Ausstrahlung“ zu definieren versucht. Zusammen lassen sie eine Information zu einer Botschaft werden, die man mit ei­nem elektronischen Medium nicht übertragen kann.

Wenn sich der Mensch weitgehend auf eine virtuelle Kommuni­kation und Interaktion beschränkt, läuft er Ge­fahr, mangels Erfah­rung nicht mehr zwischen der wahren und vir­tuellen Realität unter­scheiden zu können, eine Vernachlässigung der nicht bewußten Ebene seiner Natur, die einer seelischen Verar­mung mit verheeren­den Folgen gleichkommt. Dieser Gefahr sind be­sonders Kinder ausgesetzt.

Die virtuelle Kommunikation sollte Kindern nicht verboten, sondern geleitet und zeit­lich eingeschränkt werden.

Der Vorteil der neuen Medien liegt in der raschen, weltweiten Verbreitung von immer mehr Informationen, die im Dienste des Verstandes natürlich indi­rekt den Lernprozeß der Evolution be­schleunigen können. Diese virtuelle Realität kann und darf jedoch niemals die reale, humane Dimension der Kommu­nikation erset­zen. Es bleibt zu hoffen, daß diese Einsicht rasch und weiterrei­chend bewußt wird.


Fußnote

18. Eibl-Eibesfeldt, Irenäus. Grundriß der vergleichenden Verhaltensfor­schung. München: Piper. 1967. und: Eibl-Eibesfeldt, Irenäus. Der vor­programmierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten. Wien, Zürich, München: Molden. 1973.


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Alexander von Wytten­bach: Die Ver­nunft als Unter­tan des Un­bewuss­ten. Be­trach­tungen, her­aus­gegeben und mit einem Ge­leit­wort ver­sehen von Peter A. Rinck.
135 Seiten; €14,90 [DE]
BoD Norderstedt.
ISBN 978-3-7357-4122-6


Inhalt

Vorstellung

Geleitwort
Vorwort

Aphorismen

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14

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