achdem wir uns den angeborenen Verhaltensmuster gewidmet haben, die das Verhalten auf individueller Ebene bestimmen, wollen wir versuchen, das Interaktionsmuster zu analysieren, das sich bei der Begegnung unbekannter Menschen abspielt.
Die Grundstimmung bei der Begegnung zweier fremden Menschen ist die eines unbewußten Angstgefühls.
Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat bei vielen primitiven Völkern (unter anderem den Yanomani-Indianer in Brasilien, wie auch auf Bali und Mindanao) eingehende Beobachtungen angestellt [18]. Das überraschende Resultat dieser Beobachtungen ist, daß das Verhaltensmuster bei der Begegnung in allen Völkern, unabhängig von Rasse und Kultur, im Wesentlichen das gleiche ist, wenn man von den kulturbedingt unterschiedlichen Erscheinungsformen absieht. Dies bedeutet, daß es zum kollektiven Unbewußten gehört. Es ist in der Tat auch bei Kindern zu beobachten, bevor ein Lernprozeß angenommen werden kann.
Das Muster beinhaltet eine Selbstdarstellung (die aggressive Komponente) auf der einen Seite und kontaktstiftende Appelle (die affiliative Komponente) auf der anderen. Die Strategien des sozialen Umgangs, um diesem Angstgefühl zu begegnen, teilt Eibl-Eibesfeldt somit in zwei große Kategorien ein:
die agonalen Strategien, über die eine Person oder Personengruppe Dominanz über die andere zu erzielen strebt, und
die synagonalen oder affiliativen Strategien, die auf die Erhaltung oder Herstellung freundschaftlicher Beziehungen abzielen.
Eibl-Eibesfeldt schreibt dazu:
„Eine vergleichende Untersuchung von agonalen Auseinandersetzungen zwischen Gruppenmitgliedern zeigt, daß in den meisten Fällen der direkte physische Angriff auf einen Mitmenschen vermieden wird … Nur in kritischen Situationen, die keinen anderen Ausweg gestatten, z. B. bei Überraschung, kann es zum unvermittelten Angriff kommen.“
Ein Schlüssel zum Verständnis der affiliativen Strategien „ist die ...Tatsache, daß wir unseren Mitmenschen gegenüber mit einer Mischung von Zugewandtheit und angstmotivierter Scheu reagieren.“ Bei den affiliativen Strategien heißt dies: „Die Interakteure müssen, mit anderen Worten, alles vermeiden, was sowohl das Ansehen des Partners als auch den eigenen Status gefährdet.“
Die angstmotivierte Scheu ist in typischer Weise bei der Begegnung zweier fremder Menschen in einem Fahrstuhl deutlich zu beobachten: Ein freundlicher Blick genügt, um „das Eis zu brechen“ und ein gewisses Unbehagen, die unbewußte Angst aufzulösen.
Natürlich handelt es sich bei diesen Beobachtungen um nichts Neues, diese Strategien kann jedermann im Alltagsleben leicht erkennen.
Die in unserer Kultur übliche Begrüßung mit Händedruck bei gleichzeitigen Suchen nach Blickkontakt ist ein Beispiel für und kontaktstiftenden Appell und Selbstdarstellung; wenn der Gegenspieler dabei die Hand nur schwach drückt, signalisiert dies Unterwürfigkeit.
Ein weiteres Beispiel von Selbstdarstellung und Kontaktsuche ist der Austausch von Visitenkarten: Die Visitenkarte stellt dar, wer ich bin, die Überreichung die Kontaktsuche.
Das gleiche Muster spielt sich bei den Verhandlungen im Basar ab: Der Händler verlangt für seine Ware einen unrealistisch hohen Preis, der Käufer macht desgleichen mit einem zu niedrigen Angebot (die Selbstdarstellung: „Ich laß mich nicht übers Ohr hauen“), dann wird verhandelt und beide gehen mit dem Preis aufeinander zu (Kontaktsuche). Mit dem Abschluß des Geschäfts ist der Kontakt hergestellt – das heutige System der festen Preise in den Supermärkten mag wirtschaftlich sinnvoll sein, bedeutet aber gleichzeitig einen bedauerlichen Verlust des menschlichen Kontaktes zwischen Käufer und Verkäufer.
In der Diplomatie bei Staatsbesuchen kann man das gleiche Ritual beobachten: Nach der Abnahme der Militärparade (die Selbstdarstellung) singen oft Kinder Ständchen oder überreichen dem hohen Gast Blumen (kontaktsuchender Appell). Die Diplomatie ist die hohe Kunst und Strategie, dem angeborenen Verhaltensmuster der Interaktion gerecht zu werden. Dies gilt jedoch nicht nur für die Staatsdiplomatie, sondern auch für die Beziehungen im Alltagsleben; die Beispiele dieser Strategien sind unzählig.
Die wesentliche Erkenntnis dieser Beobachtungen von Eibl-Eibesfeldt ist vor allem die Tatsache, daß das Muster der Interaktion nicht kulturbedingt und erlernt ist, sondern einem angeborenen, instinktiven Verhalten entspricht, kulturabhängig ist nur die Form mit der dieses Muster in Erscheinung tritt. Dies zu wissen ist insofern wichtig, als ein Zuwiderhandeln gegen diese Regeln der Interaktion unvermeidbar zu Spannungen unter den Menschen führt.
Es ist interessant festzustellen, daß gemäß dem Evangelium und der Lehre Buddhas die Liebe zum Nächsten, genau besehen, gerade in der Überwindung dieses angeborenen Musters besteht.
Am John-Main-Seminar 1994 in London, an dem der Dalai Lama für christliche Geistliche eine Lesung und Interpretation des Evangeliums vornahm, wählte er folgende Worte Jesu Christi aus dem Markus-Evangelium (3, 31-35):
„Es kamen seine Mutter und seine Brüder und ließen Ihn rufen. Rund um Ihn war die Menge und die sagte: ‚Hier ist deine Mutter, deine Brüder und deine Schwestern sind draußen und suchen Dich.’ Doch er antwortete ihnen: ‚Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?’ Er wandte sich an alle Anwesenden und sagte: ‚Das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!’“
Der Dalai Lama deutete diese Worte in dem Sinne, daß wahre Empathie nicht mit einer Bindung einhergehen muß, denn die emotionale Bindung ist instabil, voreingenommen und kann nicht gleichmütig sein; sie impliziert die Gefahr der Parteilichkeit. Mit anderen Worten, die wahre Liebe muß den Dualismus des angeborenen Verhaltensmusters der menschlichen Begegnung zwischen einer aggressiven und einer affiliativen Komponente überwinden.
Dies ist in der Tat eine große Weisheit, in der sich Christus und Buddha treffen, die aber leider nur wenige Menschen erkennen und zu beherzigen imstande sind. Die Bedeutung dieser Meditation besteht darin, daß Weisheit nicht eine Verdrängung oder Verurteilung des angeborenen instinktiven Verhaltensmusters bedeutet, sondern seine Beherrschung oder Überwindung. Sie ist zudem eine Antwort auf die teilweise heftig geführte Kontroverse zwischen Psychologen und Verhaltensforscher (zum Beispiel zwischen Viktor Frankl und Konrad Lorenz über das Sexualverhalten).
Sofern und solange der Mensch diese Weisheit nicht erreicht hat, erscheint es demnach notwendig, daß er sich der angeborenen Verhaltensmustern bewußt ist und ihnen mit seiner Vernunft Rechnung trägt.
Der Pseudorationalismus unserer Zeit hat in diesem Zusammenhang einen großen Schaden angerichtet. Die Kultur des 18. und des 19. Jahrhunderts hatte hochentwickelte Formen des Umgangs unter Menschen gepflegt, die sogenannte „Kinderstube“, die eine wichtige Funktion in den Beziehungen unter den Menschen in der Gesellschaft hatte und hat.
In Unkenntnis der Tatsache, daß Regeln des höflichen Umgangs nichts mit Ethik oder Kultur zu tun haben, sondern einem angeborenen Verhalten Rechnung tragen und Schranken unter Menschen in den Begegnungen und Beziehungen abbauen, wurden diese Formen vom Pseudorationalismus als verlogen und ein Produkt der „korrupten, bourgeoisen Klassengesellschaft“ abgetan.
Statt diese Interaktionskultur allen Menschen zugänglich zu machen, wurde sie im Namen des Egalitarismus der kollektivistischen Ideologie, der „Gleichheit aller Menschen“, irrtümlicherweise als obsolet bezeichnet und in der Erziehung in Familie und Schule kurzerhand vernachlässigt, wenn nicht gar gänzlich abgeschafft — ein evolutionärer Rückschritt.
Wenn der Jüngere in der Straßenbahn dem Älteren den Sitzplatz anbietet, ist dies nicht nur eine Berücksichtigung seiner mutmaßlichen körperlichen Schwäche, sondern auch ein Signal des Respekts und des guten Einvernehmens unter den Generationen. Wenn der Mann an der linken Seite der Frau schreitet, ist es ein Zeichen des Schutzes und somit der Wertschätzung.
Dies sind alles Signale, die unbewußt die Interaktion unter Menschen positiv beeinflussen und einem besseren, einvernehmlichen Zusammenleben dienen.
Die Höflichkeitsformen haben somit eine eminent wichtige Funktion: Sie bauen die instinktive agonale Komponente bei der Begegnung unbekannter Menschen zugunsten der affiliativen ab, sie sind sozusagen das „Schmiermittel“ der menschlichen Beziehungen.
Dieser Mangel kommt zum Beispiel im Straßenverkehr verheerend zum Vorschein: Mehr Höflichkeit auf der Straße würde nicht nur Aggressionen abbauen und das Reisen angenehmer gestalten, sondern auch die Sicherheit fördern. Diese Erkenntnis scheint sich langsam durchzusetzen, zumindest was den Straßenverkehr betrifft, doch ersetzen große Plakataktionen am Straßenrand und Appelle auf Rücksicht im Verkehr nicht eine Kultur der Interaktion, die von Kind auf gepflegt und vorgelebt werden sein will.
Naturgemäß wird der Mensch in der modernen Massengesellschaft mit ihrer großen Mobilität immer mehr mit unbekannten Menschen, mit Fremden, konfrontiert und immer öfter diesem Angstgefühl ausgesetzt — eine wesentliche Ursache für eine Belastung der Menschen in unserer Zeit.
Um diesen Angstgefühlen zu begegnen, hat er zwei Strategien zur Verfügung: Die eine besteht daraus, Begegnungsrituale — Umgangsformen — zu entwickeln und erlernen, die andere, sich sozialen Gruppen anzuschließen.
Zur Hebung der Lebensqualität in der heutigen anonymen Massengesellschaft ist es somit dringend notwendig, sich an dieses angeborene, instinktive Verhaltensmuster zu erinnern und diese Fehlleistung des sogenannten Progressismus zu korrigieren.
Die aggressive Komponente der Interaktion kann als Auslösereiz für den Ausbruch von aufgestauten Aggressionspotentialen des verwöhnten Menschen in den Großstädten verantwortlich sein: Gewalttätigkeiten, die dann in den Gazetten oft als „sinnlos“ oder „ohne ersichtlichen Grund“ bezeichnet werden.
Der nicht ersichtliche Grund liegt in angeborenen Verhaltensmustern: die angstmotivierte Selbstdarstellung in einer anonymen Massengesellschaft, die zu Konflikten führt, die mit der Vernunft nicht gelöst werden können. Doch ist der Mensch lernfähig und kann, wenn er will, aus der Erfahrung die notwendigen Lehren ziehen. Einige Unternehmen haben dies bereits erkannt und führen über das Problem der innerbetrieblichen menschlichen Interaktion Seminare durch. Doch eine entscheidende Verbesserung ist nur dann zu erwarten, wenn dies von Kind auf zum allgemeinen Kulturgut wird.
In der Familie und der Schule muß die Bedeutung, aber auch der Nutzen kontaktsuchender Umgangsformen wieder erkannt und gefördert werden. Das kann nicht mit plakativen, moralisierenden Propagandaaktionen erreicht werden, sondern nur mit einem langwierigen, geduldigen Lernprozeß, als Ausdruck einer kulturellen Evolution, zu der der Mensch fähig ist.
Das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts hat eine stürmische Entwicklung und Verbreitung der audiovisuellen Kommunikation mit elektronischen Mitteln erlebt; was mit Radio und schwarz-weiß Fernsehen began, hat sich mit dem Internet fortgesetzt. In der Begeisterung über diese wahrlich phantastischen technischen Errungenschaften werden deren Grenzen als Mittel der Interaktion unter Menschen meist übersehen.
Die audiovisuellen Medien ermöglichen nur eine virtuelle, immaterielle Kommunikation und Interaktion, die Informationen gehen in nur einer Richtung und besitzen keine körperliche, gegenständliche Dimension, die ihre Botschaft zu einer menschlichen Erfahrung werden läßt: Eine CD kann nie einem Konzert, ein Film nie einer Theateraufführung gleichgesetzt werden. Dieser Unterschied wird deswegen nicht wahrgenommen, weil der Mensch außerordentlich lernfähig ist und anhand seines Erinnerungsvermögens lernen kann, beim Anhören einer Platte unbewußt die Erfahrung einzufügen, die er in bei einem Konzert schon gemacht hat und die das elektronische Medium nicht wiedergeben kann. Um dies zu können, muß er aber zuerst die Erfahrung des Konzerterlebnisses haben.
Die verhaltensbiologisch aber auch psychisch wirksame Kommunikation und Interaktion unter Menschen ist demnach nicht ein rein rationaler Vorgang, sondern fußt auf unendlich viele Sinneswahrnehmungen, vom Gesichtsausdruck und der Körpersprache bis zum Tonfall der Stimme und allen übrigen Wahrnehmungen, was was man gemeinhin als „Ausstrahlung“ zu definieren versucht. Zusammen lassen sie eine Information zu einer Botschaft werden, die man mit einem elektronischen Medium nicht übertragen kann.
Wenn sich der Mensch weitgehend auf eine virtuelle Kommunikation und Interaktion beschränkt, läuft er Gefahr, mangels Erfahrung nicht mehr zwischen der wahren und virtuellen Realität unterscheiden zu können, eine Vernachlässigung der nicht bewußten Ebene seiner Natur, die einer seelischen Verarmung mit verheerenden Folgen gleichkommt. Dieser Gefahr sind besonders Kinder ausgesetzt.
Die virtuelle Kommunikation sollte Kindern nicht verboten, sondern geleitet und zeitlich eingeschränkt werden.
Der Vorteil der neuen Medien liegt in der raschen, weltweiten Verbreitung von immer mehr Informationen, die im Dienste des Verstandes natürlich indirekt den Lernprozeß der Evolution beschleunigen können. Diese virtuelle Realität kann und darf jedoch niemals die reale, humane Dimension der Kommunikation ersetzen. Es bleibt zu hoffen, daß diese Einsicht rasch und weiterreichend bewußt wird.
18. Eibl-Eibesfeldt, Irenäus. Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung. München: Piper. 1967. und: Eibl-Eibesfeldt, Irenäus. Der vorprogrammierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten. Wien, Zürich, München: Molden. 1973.
|
Alexander von Wyttenbach: Die Vernunft als Untertan des Unbewussten.
Betrachtungen, herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Peter A. Rinck.
|