entral, gar entscheidend, in der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit ist das unbewußte Problem des Selbstwertgefühls. Voraussetzung für das Selbstwertgefühl ist, was Erich Fromm als Urerlebnis der Liebe des Kindes bezeichnet: Geliebt zu werden, nur weil man existiert, nur weil man da ist, ohne daß vom Kind eine Gegenleistung erwartet wird [26].
Dieses Urerlebnis kann das Kleinkind nur von der eigenen Mutter erfahren. Die Grundlage des Selbstwertgefühls ist diese Bezeugung der Zuneigung und zwar bereits sehr früh nach der Geburt. Die meisten psychologischen Probleme gehen auf einen Mangel an Selbstwertgefühl zurück und beeinflussen entscheidend lebenslang das Verhalten aller Menschen.
Fatalerweise sind die Eltern nur dann fähig dem Kind dieses Erlebnis der Urliebe zu vermitteln, wenn sie es selbst erfahren haben — mit anderen Worten, ein als Kind erlebter Mangel an Liebe wird von den Eltern auf die eigenen Kinder übertragen, ein Circulus vitiosus, der oft ohne fachmännische Unterstützung über die Generationen schwer zu durchbrechen ist. Aus diesem Grund stellt es ein allgegenwärtiges Problem dar.
Neben dem Urerlebnis der Liebe spielen auch verschiedene andere Erlebnisse des Kindes eine wichtige Rolle für das spätere Verhalten des erwachsenen Menschen. Zu erwähnen sind hier der Umgang und die Rollenverteilung unter den Eltern wie auch der Rang unter den Familienmitgliedern. Sich diese Probleme vor Augen zu halten ist bei der Beurteilung des Verhaltens der Menschen sehr hilfreich, nicht nur in der Familie, sondern auch in der Politik.
Ein Problem für das heranwachsende Kind ist der Dualismus zwischen Schein und Sein der Erwachsenen. Das Kind lernt vor allem durch Nachahmung und sieht in den Eltern und den Erwachsenen seine Vorbilder. Daß die Eltern ihrer Aufgabe als Vorbilder für ihre Kinder und für die Jugend oft nicht gewachsen sind, ist das Hauptproblem der Erziehung: Elterndefizite werden zu Defiziten der neuen Generationen.
Ähnliches spielt sich in der Schule auch in der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ab. Lehrer, die sich unter Mißachtung der notwendigen Rangordnung zu sehr als „Kumpel“ der Schüler verstehen, verlieren rasch ihre Autorität und Funktion als Vorbilder — eine Tatsache, die schon Platon in seiner Politeia (Der Staat) kritisiert hat.
Negativ wirkt sich eine autoritäre Erziehung nur dann aus, wenn sie doppelbödig ist, wenn beim Erziehenden ein deutlicher Widerspruch zwischen Sein und Schein, Persona und Schatten — zwischen Worten und Taten — besteht, wofür Kinder und Jugendliche ein empfindliches Sensorium besitzen. Echte, wertungsfreie Liebe zum Kind ist das einzige Gegenmittel gegen dieses Dilemma – Liebe, die dazu führen kann, daß die Erwachsenen trotz ihrer Schwächen als Vorbilder akzeptiert werden können.
Es ist bekannt, daß viele extreme politische Meinungen vertretende Politiker — öfter als gemeinhin wahrgenommen wird — mit zerrüttenden oder zumindest emotional unharmonischen familiären Verhältnissen und/oder einem ungelösten Eltern-Kinder-Konflikt aus ihrer Jugend zu tun hatten, und zwar besonders dann, wenn bei den Erwachsenen der Gegensatz Sein und Schein offensichtlich ist.
Oft rebellieren sie und werden Mitglieder extremer Protestbewegungen. Die 68er-Bewegung war ein Protest der Jugend gegen die konservative Haltung der Nachkriegsgeneration, deren einziges, an sich verständliches Anliegen der Aufbau des Wohlstandes aus den Trümmern des letzten Weltkrieges war. Ihre Idee der „antiautoritären Erziehung“ war jedoch ein fatale Fehlentscheidung.
Extrem linke Politiker stammen oft aus sehr konservativen Elternhäusern. Die Protestparteien sind ganz allgemein ein Auffangbecken für Menschen mit großen Defiziten in ihrem Selbstwertgefühl, das sie mit der Mitarbeit in einer politischen Gruppe zu einem Gefühl der Geborgenheit hin zu kompensieren suchen. Da die Motivation zu ihrer politischen Haltung unbewußter Natur ist, also vom Betroffenen nicht bewußt wahrgenommen wird, sind sie in der Regel mit vernünftigen Argumenten kaum umzustimmen. Aus der Verbindung dieser unbewußten (Protest-) Stimmung mit dem Archetyp des verlorenen Paradieses entstand zum Beispiel die Bewegung der Grünen. Bezeichnend für solche Protestbewegungen ist, daß sie zwar berechtigte Kritik an den Zuständen üben, aber selten konstruktiv wirken. Der Grund liegt darin, daß um konstruktiv zu sein, Selbstwertgefühl eine wichtige Voraussetzung ist.
Mangelndes Selbstwertgefühl und schwaches Selbstbewußtsein sind der Boden, auf dem der Herdentrieb gedeiht. Der Mensch versucht, diese Mängel mit dem Gruppenerlebnis zu kompensieren und überwinden.
Jung meint dazu:
„Ein Gruppenerlebnis findet auf einem tieferen Bewußtseinsniveau statt, als wenn es individuell erlebt wird. Es ist nämlich eine Tatsache, daß, wenn viele Menschen zusammenkommen und sich in einem gemeinsamen Gemütszustand vereinigen, eine Gesamtseele aus der Gruppe hervorgeht, welche unter dem Niveau des Einzelnen steht. Wenn eine Gruppe sehr groß ist, entsteht eine Art gemeinsamer Tierseele.“
Und über das Gruppenerlebnis äußert Jung: „Es ist auch viel leichter zu erreichen, denn das Zusammensein von vielen hat eine große Suggestivkraft. Der Einzelne in der Menge wird leicht ein Opfer seiner Beeinflußbarkeit. Es braucht nur etwas zu passieren, zum Beispiel ein Vorschlag, der die ganze Masse für sich hat, dann ist man auch dabei, auch wenn es unmoralisch ist. In der Masse empfindet man keine Verantwortlichkeit, aber auch keine Furcht.“ [27]
Der Mensch kann sich wie ein Tier verhalten. Auf Menschen mit Defiziten an Selbstwertgefühl (mit geringer Jungscher Individuation) üben politische Bewegungen und Organisationen mit einem missionarischen Glauben eine große Anziehungskraft aus. In einer Gruppe unter Gleichgesinnten fühlen sie sich geborgen, gemeinsame, hohe Ideale stärken das Ich-Gefühl und helfen das eigene Unvermögen zu verdrängen. Weltanschauungen, Ideologien und von der Religion oktroyierte Normen führen zur Unterdrückung von spontanen unbewußten Regungen, die verdrängt werden müssen.
Politische Ideologien, die mit totalitären Methoden ein bestimmtes Verhalten aufzuzwingen versuchen, indem sie spontane Regungen des Unbewußten unterdrücken, können bis zur völligen Verdrängung des eigenen Ichs, des eigenen Gewissens führen: Es ist die Tragödie der Mitläufer, die sich unter den Diktaturen für die scheußlichsten Verbrechen hergeben. Diese Unterdrückung der eigenen Regungen zugunsten einer Religion oder politischen Ideologie wird bei der Bevölkerung durch den Normierungsdruck des im Instinkt verankerten Gruppenverhaltens der Masse, den Herdentrieb, gefördert. Der Spruch der Pazifisten-Bewegung: „Stell dir vor es gibt Krieg, und niemand geht hin“ illustriert deutlich diese Zweideutigkeit.
Die Erkenntnis der möglichen Regression des Menschen ins Tierische ist nicht neu. In den Bekenntnissen des Augustinus ist folgende Schilderung seines Schülers Alypius zu lesen.
Einige seiner Kommilitonen hatten ihn gegen seinen Willen zu einem grausamen Gladiatorenkampf geschleppt:
„Es war gerade die Zeit, in der die grausamen und tödlichen Spiele veranstaltet wurden. Er [Alypius] sagte zu ihnen: ‚Wenn ihr auch meinen Körper an diesen Ort zerrt und dort auszuharren zwingt, so könnt ihr doch meinen Geist und meine Augen nicht auf jene Darbietungen richten. Ich werde zwar anwesend sein, aber trotzdem abwesend, und ich werde auf diese Weise stärker sein als ihr und die Spiele.’“
Sie nahmen ihn trotzdem mit, um zu sehen ob er das bewerkstelligen könnte.
„Sie betraten das Theater ... Die Begeisterung der Zuschauer war grenzenlos, die Stimmung am Siedepunkt. Alypius schloß die Augen … doch als das ganze Volk plötzlich während des Kampfes aufschrie und der Schrei an sein Ohr drang, wurde er neugierig, und in der Überzeugung er könne alles, was er zu Gesicht bekomme, gering achten und geistig bewältigen, öffnete er die Augen … Da wurde er schwerer verwundet als der Gladiator, den er hatte sehen wollen ... und litt erbarmungswürdiger als der, dessen Sturz jenen Schrei ausgelöst hatte ... und seine Augen geöffnet hatte... In dem Moment, da er nämlich das Blut sah, zog er das ungeheuerliche Geschehen in sich hinein und konnte sich davon nicht abwenden, sondern nahm den Wahnsinn gierig auf, wußte nicht was ihm geschah, fand Gefallen an dem verbrecherischen Kampf und wurde trunken nach Blut. Er war ... einer aus der Masse, in die er geraten war ... Er schaute, schrie, geriet außer sich und nahm einen Wahnsinn nach Hause, der ihn antrieb ... zurückzukehren ... und dabei andere mit sich zu ziehen.“ [28]
Die politischen Parteien und Bewegungen sind wichtige, von Gruppengefühl begleitete Gemeinschaften der Demokratien. Bei den meist kleinen Gruppierungen, die extreme politische Meinungen und Ideologien vertreten und damit starker Opposition ausgesetzt sind, ist das Zugehörigkeits- und Identifikationspotential mit der Gruppe besonders stark ausgeprägt, was, zumindest teilweise, ihre mangelnde Bereitschaft und Unfähigkeit zur politischen Zusammenarbeit erklärt. Ganz allgemein kann angenommen werden, daß die Schwierigkeiten, unter den Parteien einen politischen Konsens zur Lösung der anstehenden Probleme zu finden, nicht nur in sachlichen oder ideologischen Meinungsverschiedenheiten und handfesten Interessenkonflikten zu suchen sind. Ihre Ursache liegt auch darin, daß die Parteien zu einem Ersatz-Identifikationsobjekt innerhalb der anonymen Massengesellschaft werden. Sie liefern Anhängern mit geringem Selbstwertgefühl ein Gruppenerlebnis und erschweren wegen des begleitenden Normierungsdrucks eine vorurteilslose, rationale und offene Auseinandersetzung mit anderen Meinungen und realen Problemen, was das übergeordnete Gemeinwohl hinter dem Parteienantagonismus treten läßt.
Aus diesen Betrachtungen wird deutlich, daß viele negative Erscheinungen des Gruppenverhaltens in der Gesellschaft wie ideologischer, politischer Fanatismus, sei es von rechts und von links, gewalttätige Massenkundgebungen, Vandalismus und Hooliganismus nur sehr beschränkt mit politischen und polizeilichen Mitteln bekämpft werden können.
Ein Verbot solcher Bewegungen und Parteien löst nicht das eigentliche Problem. Da das Gruppenverhalten seinen Nährboden im Unbewußten des einzelnen Menschen hat, ist ein Verbot lediglich eine Bekämpfung der Symptome.
Es ist eine ideologische Mode geworden, jedes Fehlverhalten der Bürger der „Gesellschaft“ anzulasten. Damit kommt man politisch gut an, kann doch jeder damit seine eigene Verantwortung entlasten. Zu Recht hat die Genfer Philosophin Jeanne Hersch darauf hingewiesen, daß das Wort „Gesellschaft“ eine Fiktion sei, gebe es doch nur einzelne Menschen, die, zusammen, eine Gesellschaft bilden – und für die einzelnen Menschen sind das Selbstwertgefühl und die Individuation Jungs entscheidend.
26. Fromm, Erich. The art of loving. Harper: New York. 1956. deutsche Übersetzung: Die Kunst des Liebens. Frankfurt am Main. 1956.
27. Jung, C.G. a.a.O.
28. Augustinus. Bekenntnisse. 6,8 (13).
|
Alexander von Wyttenbach: Die Vernunft als Untertan des Unbewussten.
Betrachtungen, herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Peter A. Rinck.
|