er unter anderen von Karl Popper bekämpfte Pseudorationalismus ist ein Unheil der Menschheit und Beweis für die kaum wahrgenommene Macht des kollektiven Unbewußten über den Verstand. Die pseudorationalistische Beweisführung geht von glaubhaften und den Verstand ansprechenden Hypothesen aus, die jedoch rational weder bewiesen oder beweisbar sind und die unkritisch zur absoluten Wahrheit erhoben werden: Die von Gelehrten herbeigeführten Hexenjagden in der frühen Neuzeit oder die heutigen Terroristenjagden sind schlagende Beispiele dafür.
Wenn solche Theorien eine Resonanz mit dem kollektiven Unbewußten erzeugen und von intelligenten Köpfen geschickt vertreten werden, wirken sie auf den Menschen oft äußerst verführend, weil sie eine vernunftbegründete Erklärung für eine unbewußte Befindlichkeit des Menschen bieten. Die Verfechter dieser Theorien sind sich meist über diesen Vorgang selber nicht bewußt, sie sind wahre, oft missionarische Gläubige, die den Kampf für ihre Ideen als hohe, ethische Mission verstehen.
Der Eifer dieser Missionare kann auch bei intelligenten Menschen so weit gehen und so unkritisch werden, daß man sie, in Unkenntnis des unbewußten Ursprungs ihres Verhaltens, in ihrem Irrglauben für denkunfähig halten könnte. In Wahrheit bewirkt das Unbewußte bei ihnen eine selektive Wahrnehmung der Informationen und übt eine Zensur über alle rationalen, der Ausgangshypothese widersprechenden Argumente aus, die eine rationale Auseinandersetzung verunmöglicht.
Auf der Suche nach der Goetheschen Wurzel des Menschen, stößt Jung auf das kollektive Unbewußte. Helmut Barz deutet dies auf folgende Weise:
„Jung sieht das Bewußtsein als einen Abkömmling des kollektiven Unbewußten an: Das kollektive Unbewußte ist dem Ich-Bewußtsein präexistent, es läßt das Bewußtsein des Individuums aus sich hervorgehen, es ist gewissermaßen dessen Mutterboden. Dieses Unbewußte äußert sich in Form von Symbolen. Symbol ist eine mit den Sinnen wahrgenommene Gestalt, die für den wahrnehmenden Menschen auf etwas hinweist, daß über sie selbst hinausgeht und das er ohne diese symbolische Gestalt nicht wahrzunehmen oder ausdrücken vermöchte.“ [19]
Die Symbole sind eine äußere Projektion des Unbewußten und gemäß Jung Ausdruck der Archetypen des kollektiven Unbewußten. Sie sind allen Menschen aller Zeiten gemeinsam, ohne dem Bewußtsein direkt zugänglich zu sein, außer in ihrer Projektionen.
Diese Gedanken sind nicht neu, denn schon früh in der Antike war die Bedeutung der Symbole als Projektionen des Unbewußten allgegenwärtig.
In der Geschichte der Menschheit haben Mythen und Religionen immer den Versuch dargestellt, das Spannungsfeld zwischen Bewußtsein und Unbewußtem zu überbrücken. Die Mythen der Griechen enthalten einen großartigen, unübertroffenen Reichtum an solchen Projektionen. Sie sind eine symbolischen Schilderung des kollektiven Unbewußten mit den Wechselwirkungen zwischen den Instinkten und der Psyche.
In faszinierender Weise hat die französische Gräzistin Jacqueline de Romilly [20] den Versuch unternommen, die Gründe für die überragende, universale Bedeutung der Leistungen der altgriechischen Kultur zu verstehen — insbesondere die des fünften Jahrhunderts v. Chr.
In ihren Ausführungen kommt sie zum Schluß, daß es eine Haltung des altgriechischen Geistes war, im alltäglichen, selbst im Trivialen, immer das den Verstand Transzendierende, Allgemeingültige zu suchen und darzustellen. Die in der Mythologie zum Vorschein kommende ständige Auseinandersetzung mit dem kollektiven Unbewußten und seinen Archetypen hat die Griechen zu einem der schöpferischsten Völker der Weltgeschichte gemacht, ohne deren geistigen Beitrag die Welt von heute anders, wahrscheinlich viel ärmer aussehen würde. Die Literatur und die Werke der Architektur und bildenden Künste, die uns aus dieser Zeit erhalten geblieben sind, dienen als unübertroffene Zeugen der Fähigkeit und der Freude an dieser Auseinandersetzung.
Leider ist in unserem von Wissenschaft und Technik dominierten Zeitalter das ganzheitliche, über das Unbewußte reflektierende Denken verloren gegangen. Es ist deshalb paradox und gleichzeitig vielsagend, daß gerade in der heutigen rationalistischen Zeit die Kunstwerke der Vergangenheit als Ausdruck des Unbewußten und des Religiösen in großen Mengen Menschen auch mit geringem Bildungsstand in ihren Bann ziehen.
Nicht von ungefähr verleitet die griechische Mythologie unzählige Psychologen zur Deutung der verschiedenen Mythen. Nur in diesem Zusammenhang ist der schwere kulturelle Schaden für das Abendland abzuschätzen, der mit der heutigen Geringschätzung und Vernachlässigung der Religion, der althergebrachten Geisteswissenschaften und der humanistischen Bildung einhergeht, mit deren Abschaffung in der vor-universitären Schulung — zugunsten einer berufsorientierten, rationalistisch-wissenschaftlichen Ausbildung — eine Bildungslücke entsteht, die im weiteren Verlauf des Lebens in der Regel nie mehr geschlossen werden kann. Viele der Fehlleistungen der vergangenen hundert Jahre zeugen von einem solchen Bildungsmangel.
Die UNESCO weist explizit auf dieses Debakel hin, als sie nach einer Konferenz zur kulturellen Bildung in Schulen zusammenfassend erklärte:
„Eine immer größer werdende Kluft zwischen kognitiver und emotionaler Verarbeitung im Bildungsumfeld verweist auf die Tatsache, daß heute ein größerer Schwerpunkt auf der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten liegt als auf emotionalen Prozessen. Laut Professor Antonio Damasio ist diese Betonung der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten, zum Nachteil des emotionalen Bereiches, ein Faktor für den Niedergang des moralischen Verhaltens der modernen Gesellschaft. Die emotionale Verarbeitung ist aber wesentlicher Teil des Entscheidungsprozesses und dient als Vektor für Handlungen, Ideen, das Anstellen von Betrachtungen und Fällen von Urteilen. Ohne emotionale Beteiligung würde jede Handlung, Idee oder Entscheidung nur auf rationalen Motiven beruhen … Moralisches Verhalten, als Basis menschlichen Handels, verlangt nach emotionaler Beteiligung.“ [21]
Der Verlust der von den Griechen gelebten Bereitschaft, sich mit dem Unbewußten und seinen Symbolen auseinander zu setzen, ist einer der wichtigsten Gründe für das heutige kulturelle Unbehagen.
C.G. Jung schreibt:
„Der moderne Mensch versteht nicht, wie sehr sein ‚Rationalismus’ (der seine Fähigkeit zerstört hat, auf numinose Symbole und Ideen zu reagieren) ihn der psychischen ‚Unterwelt’ preisgegeben hat. Er hat sich selbst vom ‚Aberglauben’ befreit (wenigstens glaubt er das), aber bei diesem Vorgang hat er seine geistigen Kräfte in einem erschreckend hohen Maß verloren. Seine moralische und geistig-seelische Tradition ist zerfallen, und er zahlt den Preis für diese Auflösung mit weltweiter Desorientierung und Zersetzung.“ [22]
Es wäre nun falsch, aus dieser Kritik des Rationalismus den Schluß ziehen zu wollen, daß der Mensch auf die Förderung von Wissenschaft und Technologie verzichten sollte, um sein Menschsein zu fördern. Ihre Verketzerung würde den Menschen nicht weiterbringen, sondern zurückwerfen.
Der Ausweg aus der jetzigen Misere beginnt vor allem mit dem Bewußtsein der Existenz des Problems: Der Mensch muß sich wieder auf das Vorhandensein der Instinkte und der geistigen Regungen seines Unbewußten besinnen, denn nur diese können ihm, über ihre Symbole, die notwendige Orientierung geben. Er muß wieder Freude an den Geisteswissenschaften entwickeln, ohne dabei die exakten Wissenschaften vernachlässigen zu müssen, denn beide Aspekte der menschlichen Natur, das Unbewußte wie die Ratio, sind ein Teil seines Seins, entsprechen seinen Bedürfnissen und können sich gegenseitig befruchten. Der Fluch des heutigen Menschen ist sein Hang zur rationalistischen Einseitigkeit.
Ein Universalgenie aus der Renaissance verdient unter diesem Gesichtspunkt die uneingeschränkte Bewunderung des geistig verarmten Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts: Leonardo da Vinci stellt die einmalige Harmonie eines Menschen dar, der seinen Verstand herausgefordert hat, ohne die Botschaften des Unbewußten zu vernachlässigen. Er hat uns Kunstwerke hinterlassen, die jeden sensiblen Menschen faszinieren, in denen er dem rational nicht Erfaßbaren, Transzendenten meisterhaft Ausdruck verliehen hat. Aus jedem seiner Werke spricht seine Ehrfurcht vor dem Geheimnisvollen des Universums und der menschlichen Existenz.
Doch gleichzeitig hat ihn die instinktive intellektuelle Neugier, trotz der damaligen Gefahren, unwiderstehlich angespornt, mit anatomischen Studien die Geheimnisse des menschlichen Körpers rational zu erforschen. Mit seinem rationalen Geist, gepaart mit einer großen Beobachtungsgabe für die Natur und seiner Phantasie, hat er heute noch bewundernswerte Ingenieurleistungen gezeigt. In ihm kamen alle Aspekte menschlichen Seins voll zum Ausdruck. Möge er eines Tages zum neuen Vorbild und Helden unserer Kultur werden!
Die Geschichte beweist, daß die Menschheit nicht ohne Mythen und Religionen auskommen kann. Es gibt keine Völker ohne Religionen. Viele Religionen sind zwar im Verlauf der Geschichte ausgestorben, doch sind sie immer wieder durch neue ersetzt worden. Der Mensch braucht die Mythen als eine symbolische Darstellung der Regungen des Unbewußten und Transzendenten.
Die Tempel, mit ihren Skulpturen, Malereien und Dekorationen, dienen als Objekte zur Projektion des rational nicht Faßbaren des eigenen Ichs. Die religiösen Rituale, so unterschiedlich sie in den verschiedenen Religionen auch sein können, dienen dem Zugehörigkeitsgefühl und sind ein unentbehrliches Medium, mit dem alle Menschen, auf welcher Bildungsstufe immer, sich mit dem eigenen kollektiven Unbewußten auseinanderzusetzen vermögen.
Ohne Transzendenz wird die Realität mit der Zeit trostlos und flach. Der Eindruck der Trostlosigkeit, den die osteuropäischen Länder unter dem kommunistischen Joch jedem Besucher aus dem freien Westen vermittelt wurde, war nicht so sehr dem niedrigen Lebensstandard zuzuschreiben wie der Unterdrückung der Religionsfreiheit, denn totalitäre Systeme ahnen, daß der religiöse Glauben ihre Macht bedroht.
Religion und Glauben stiften dem Menschen Hoffnung im Konflikt zwischen der Realität und den Regungen des Unbewußten, denn — wo und wenn es keine Gewißheiten gibt, hilft nur die Hoffnung, und diese wird durch den Glauben vermittelt.
Ein anschauliches Beispiel für die rituelle Auseinandersetzung mit den unbewußten Widersprüchen von Licht und Schatten, der Bipolarität des Menschen, bietet das hinduistische Volk in Bali. Bei ihren Dörfern am Hang der Vulkane symbolisiert der Berg über dem Dorf die guten Geister, das tiefer liegende Meer die bösen. Die Dorfgemeinschaft lebt zwischen einem oberen und einem unteren Tempel. Bei ihren religiösen Feiern beschwören sie mit ihren Ritualen zuerst die bösen Geister im unteren Tempel, um dann im oberen die Geister des Guten zu verehren, und setzen sich mit dem Spannungsfeld zwischen Vernunft und dem Unbewußten auseinander.
Der US-Amerikaner Joseph Campbell, der seine Forschungen der vergleichenden Mythologie gewidmet hat, hat dargestellt, daß die unbewußten Regungen des menschlichen Geistes sich in allen Religionen gleichen, obschon sie sehr unterschiedlich dargestellt werden können. Er zeigte, daß dieselben unbewußten archetypischen Strukturen in praktisch allen Kulturen und Religionen der Welt die gleichen sind [23].
Beeindruckend ist, wie in Indonesien die verschiedenen Religionen — vom Animismus in Sumatra zum Islam, Hinduismus, zur Minderheit der Buddhisten und verschiedener christlicher Religionen — weitgehend friedlich zusammenleben und das Gemeinschaftsleben der Gesellschaft prägen können. In Nepal ist es gar zu einer Symbiose von Hinduismus und Buddhismus gekommen.
Campbell hat auch festgestellt, daß sich die Religionen in ihren Zeremonien und Darstellungen im Laufe der Zeit verändern können. Beispielhaft dafür war in der Antike die griechische Mythologie, die nicht in einer Heiligen Schrift, sondern in literarischen Werken festgehalten wurde und die großartige, schöpferische Kultur der alten Griechen erklärt. Jenseits der Vernunft sind neben den Instinkten Kräfte am Werk, die maßgeblich eines Menschen Leben bestimmen, ohne daß sie dem Menschen bewußt wären.
Die Versachlichung des religiösen Rituals besonders der reformierten Christen ist sicherlich für die Abwendung der Gläubigen von der Kirche mitverantwortlich. Die Faszination der großartigen Rituale auf dem Petersplatz in Rom auf die Massen, auch auf Nichtgläubige, scheint diese Hypothese zu bestätigen.
In der westlichen, säkularisierten Welt mit der völligen Trennung von Kirche und Staat haben die christlichen Kirchen der Gegenwart an Fähigkeit verloren, ein religiöses Gruppenerlebnis zu vermitteln. Damit hat ihr gesellschaftlicher Einfluß abgenommen.
Besonders die katholische Kirche mit ihren unverrückbaren Gesetzen und Dogmen, dem Zölibats der Geistlichen, dem Ausschluß der Frauen vom Priesteramt und der nicht mehr der Evolution angepaßten Sexualmoral hat viel an Anhängerschaft eingebüßt. Schuld am Niedergang der christlichen Kirchen ist nicht das Evangelium als wunderbare Grundlage des Glaubens, sondern die Unfähigkeit der Amtskirche den Glauben zeitgemäß den wahren Bedürfnissen des Unbewußten der Menschen entsprechend zu vermitteln und zum Gemeinschaftserlebnis werden zu lassen.
Um ihre Machtstrukturen zu wahren, haben sich die Kirchen zu sehr dem Weltlichen zugewandt und die Vermittlung des Transzendenten vernachlässigt: weltliche Macht und der Glauben in die Transzendenz schließen sich gegenseitig aus. Die sogenannte Theologie der Befreiung ist ein Ausdruck einer solchen Verirrung innerhalb der katholischen Kirche. Es gibt keine kollektive Ethik der Gesellschaft, die mit den Mitteln der (religiösen) politischen Macht durchgesetzt werden kann. Allgemeine ethische Prinzipien können nur von einzelnen Menschen in die Gesellschaft und in die Politik getragen werden. Die Gesellschaft braucht gläubige Menschen, die Verantwortung gegenüber ihrem Gewissen tragen; Verantwortung bedeutet ja nichts anderes als auf Fragen des eigenen Gewissens und des Nächsten zu antworten.
Die Abwendung von der Religion ist mit der Zuwendung zu neuen, vom rationalistischen Geist getragenen heilbringenden Ideologien einhergegangen, die für eine ideale, friedliche Gemeinschaft einstehen, in der es weder Ungerechtigkeiten noch Mißstände gibt, und die die neuen Religionen darstellen. Um dieses Ideal zu realisieren, wird in einem Akt der Massenregression nicht vom grausamen Gebrauch der Staatsmacht zurückgeschreckt. Leider ist das ideologische totalitäre Gedankengut — der rationalistische Konstruktivismus — auch in den Demokratien zu beobachten, in denen Politik und Bürokratie immer stärker glauben, das unbewußte Verhalten entmündigter Bürger bestimmen zu müssen.
Das wichtigste vom Menschen benützte Mittel, um die unbewußten Regungen des Geistes symbolisch darzustellen und mitzuteilen, sind die großen Schöpfungen der Künste. Die großen literarischen Meisterwerke der Geschichte wie die Homerischen Epen, die Divina Commedia Dantes oder Goethes Faust sind großartige Botschaften der Seele, die aus dem Unbewußten schöpfen.
Alle Religionen haben mit Tempeln, Statuen und der Malerei ihre transzendenten Botschaften des Geistes den Völkern vermittelt. Bemerkenswert ist die Feststellung, daß Denkmäler, die im Namen von längst vergessenen Religionen entstanden sind — wie die des Alten Ägyptens oder der griechischen Mythologie — nach Jahrtausenden immer noch in der Lage sind, uns ihre universelle und ewige Botschaft zu vermitteln und uns zu faszinieren.
Dank ihrer Begabung und mit den von ihren kognitiven Fähigkeiten geschaffenen Werkzeugen schöpfen die Künstler aus ihren Wahrnehmungen und unbewußten Regungen Werke, die ewige, universell gültige Botschaften des Unbewußten sind.
Die Kunst ist für den Menschen unentbehrlich. Kunst und Religion sind eng verknüpft. Eine Chronik erzählt uns, daß im 13. Jahrhundert in Siena der Transport der Maestà von Duccio di Buoninsegna, einem wahren Meisterwerk der abendländischen Malerei, von der Werkstatt des Malers zum Dom mit einem großen Volksfest gefeiert wurde. In China wurde eine Flöte aus Tierknochen entdeckt, die vermutlich 5000 Jahre alt ist. Auch im antiken Griechenland und in der römischen Kultur spielten Musik und Tanz eine wichtige Rolle, sie scheinen eine universal verständliche Sprache des Unbewußten zu sein.
Das Theater ist eine großartige Errungenschaft der abendländischen Kultur, auf der Bühne können Licht und Abgründe der menschlichen Seele für alle zugänglich zur Darstellung kommen. In der massenhaften, meist kommerziellen Film- und Fernsehproduktion erreichen hingegen nur wenige ein derartiges Theaterniveau.
In unserer von immer neuen Technologien dominierten Gesellschaft wird die Notwendigkeit der Kunst als universale Botschaft des Unbewußten sehr oft nur oberflächlich wahrgenommen. Die meisten Schöpfungen der modernen Architektur werden nach ihrer Zweckmäßigkeit und ihrer rationalen und schnell vergänglichen Schönheit bewertet; man bewundert sie, ohne davon emotional ergriffen zu werden.
Das nicht zu unterdrückende Bedürfnis des Menschen nach Begegnung mit der Welt der Emotionen über die Kunst wird durch die Erfahrung bestätigt, daß trotz unserer „rationalen“ Zeit jedes Jahr weltweit Millionen von Touristen sich von den asiatischen Tempelanlagen, den antiken Bauwerken in Europa und dem Nahen und Mittleren Osten oder unseren Kirchen, Kathedralen und Abteien mit ihren Fresken unwiderstehlich angezogen fühlen.
Nach Macht strebende Menschen haben erkannt, daß sie die Urangst des Menschen zu ihren Zwecken nutzen kann, indem sie sich der Religion bedienen. Bis zu der von der Aufklärung eingeleiteten Trennung von Kirche und Staat war die Religion eng mit der Macht verbunden, entweder in der Form einer Theokratie oder einer Allianz der Geistlichkeit mit den Machtherrschern.
Im Namen der Religion und der Missionierung wurden mit einer Massensuggestion unzählige aus der Geschichte bekannte Eroberungskriege ausgetragen — beispielhaft sind die Kreuzzüge — und grausame Völkermorde begangen. Die Inquisition und die Heiligen Kriege des Islam, die Dschihad, mit der Einführung des islamischen Gottesstaates sind Beispiele der Verbindung von Macht und Religion. Das Versprechen der Machthaber, mit der Religion, neben dem Reichtum der Kriegsbeute, den Mitläufern Ruhm oder gar das Paradies, also einen Lohn auch nach dem Tode zu versprechen, ja zu garantieren, stellte eine mächtige Motivation dar.
Die Geschichte des Römischen Reiches zeigt uns aber auch, daß die Verbindung von Macht mit Religion, neben Krieg und Zerstörung, auch großartige Fortschritte der Zivilisation gebracht hat.
Eine etwas andere Grundlage im Unbewußten hat die politisch bedeutsame Heimatliebe, die ganze Völker vereinen kann. Diese findet ihre Wurzeln in der mit dem Territorialinstinkt verbundenen Gefühlssphäre und ist im allgemeinen, anders als der moderne mit Machtansprüchen begleitete Nationalgedanke, als Verteidigungsreflex der Eigenständigkeit der Gemeinschaft nach außen zu verstehen.
19. Barz, Helmut. Vom Wesen der Seele. Stuttgart: Kreuz Verlag. 1979. Neuauflage: Stuttgart: Verlag Opus Magnum. 2003. 38.
20. de Romilly, Jacqueline. Pourquoi la Grèce? Paris: Editions de Fallois, 1992.
21. Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation. Leitfaden für kulturelle Bildung (UNESCO – Road map for arts education). UNESCO-Weltkonferenz für kulturelle Bildung: Schaffung kreativer Kapazitäten für das 21. Jahrhundert. Lissabon, 6.-9. März 2006. Paris: Unesco. 2006. 5.
22. Jung, C.G. Der Mensch und seine Symbole. Olten und Freiburg im Breisgau: Walter Verlag. 1986. 94.
23. Campbell, Joseph. The Hero with a thousand faces. New York: Pantheon Books. 1949.
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Alexander von Wyttenbach: Die Vernunft als Untertan des Unbewussten.
Betrachtungen, herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Peter A. Rinck.
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