ie Abfolge von spontanem Trieb, Appetenzverhalten, Triebhandlung und Endhandlung läßt sich beim Menschen deutlich im Bereich des Sexualverhaltens beobachten und nachvollziehen. Da der Sexualtrieb dem natürlichen Urzweck der Fortpflanzung dient, ist er einer der stärksten überhaupt.
Der Glaube, daß der Einfluß des Sexualinstinktes auf die Privatsphäre beschränkt sei, ist ein großer Irrtum, er beherrscht das gesamte Gesellschaftsleben des Menschen. Die bewußte Wahrnehmung des Einflusses dieser angeborenen verhaltensbiologischen Gesetze auf die Mann-Frau-Beziehung wird dadurch erheblich erschwert, daß sie nicht in ihrer reinen Urgestalt in Erscheinung treten, sondern im Wechselspiel mit anderen Kräften des menschlichen Seins stehen und durch diese verschleiert werden.
Die italienische Psychoanalytikerin Marina Valcarenghi meint dazu:
„Die Trennung des Instinktes vom Bewußtsein seines Wertes und der moralische Verruf, der daraus folgt, sind die Grundlage des untergründigen Charakters von all dem, was im Westen den Sex betrifft. Das Bewußtsein des intrinsischen Wertes des Instinktes und seine Bindung mit dem Sakralen war hingegen in den vorchristlichen Kulturen verwurzelt, und die Analogien zwischen diesem Ichbewußtsein und die moderne psychoanalytische Forschung sind in der Begegnung zwischen den phallischen Darstellungen dieser Kulturen und den Formen des Unbewußten der Träume unserer Patienten wiederzufinden“ [Übersetzung d.A.] [12].
Das sexuelle Verhalten des Menschen wird also nicht allein durch den Trieb, sondern auch durch die Psyche gesteuert, durch das Zusammenspiel oder die Spannung der beiden Jungschen unbewußten Archetypen des Animus und der Anima. Die Beziehung Mann-Frau wird weiter durch die Beziehung zu den Nachkommen kompliziert, aber auch durch rationale Aspekte wie soziale Einflüsse und wirtschaftliche Zwänge.
Alle diese Einflüsse sind jedoch kein überzeugender Grund, die sehr starke, allgegenwärtige, unbewußte Wirkung des reinen Instinktes auf das menschliche Verhalten zu übersehen. Es muß somit nicht erstaunen, daß eine harmonische Ehe oder Partnerschaft zwischen Mann und Frau wegen ihrer Komplexität eine sehr schwierige Aufgabe darstellt.
Daß die Kraft des Sexualtriebes durch rationale Faktoren nicht zu unterdrücken ist, wird durch unzählige Erscheinungen bewiesen, die in der Gesellschaft beobachtet werden können.
So haben in der Geschichte viele Gesellschaften aus ethischen und religiösen Gründen oder aus rationalen, hygienischen und sozialen Überlegungen, wiederholt und immer wieder erfolglos versucht, die nicht zufällig als den „ältesten Beruf“ bezeichnete Prostitution auszurotten. Da es auf Instinkte zurückgeht, macht das Phänomen der Prostitution keine Unterschiede vor Erziehung und Bildung und betrifft alle sozialen Schichten.
Besonders deutlich wird dies am Problem der Prophylaxe gegen Geschlechtskrankheiten, namentlich gegen AIDS, wo das rationale Wissen über die Gefahren oft nicht zu einem vernunftgeprägten Verhalten führt und epidemiologisch als wirksam anerkannte Maßnahmen gegen AIDS gesetzlich nicht getroffen werden können, weil sie in unserer „aufgeklärten“ Gesellschaft politisch noch an unüberwindbare kulturelle und moralische Hürden stoßen.
Ein weiteres Beispiel dieser These ist die Tatsache, daß trotz der Möglichkeiten der Schwangerschaftsverhütung viel Leid im Zusammenhang mit unerwünschten Schwangerschaften und Abtreibung entsteht. Wenn dieses Leid sogar hohe Geistliche trifft, die eigentlich von ihrer Bildung und Erziehung her besonders dagegen gewappnet sein sollten, dann muß es schon eine unbewußte Urkraft sein, die zur Überwindung aller Hemmschwellen führt.
Auf die seelischen Konflikte zwischen dem angeborenen Triebverhalten und den kulturbedingten normativen ethischen Gesetzen reagiert der Mensch wie sehr oft auf unzweckmäßige Weise. Statt den Trieb bewußt als natürliche Urkraft zu verstehen und mit ihr zurechtzukommen, sucht der Mensch irrtümlicherweise das Übel im Trieb selbst. Der Sexualtrieb als solcher wird, speziell für einige Kirchen, zur negativen Kraft, die es zu überwinden und besiegen gilt. Da nun stammesgeschichtlich angeborene, zur Arterhaltung vorgesehene Triebe höchstens beherrscht, jedoch niemals gezähmt werden können, kommt es aus kulturellen Gründen zu Verdrängungen und zu seelischen Spannungen und Nöten.
Die Feindlichkeit gegenüber der Sexualität geht oft im Gleichschritt mit einer allgemeinen, dem Wesen des Menschen widersprechenden Körperfeindlichkeit und ist ein Zug speziell monotheistischer Religionen.
Auffallend und nicht zufällig ist die Feststellung, daß in unserer Kultur die anatomischen Körperteile um die Fortpflanzungsorgane mit dem Zusatzwort „Scham“ assoziiert werden: Schambein, plexus pudendus und ähnlich Begriffe — bedeutet doch Scham (gemäß Lexikon) „ein Unlustgefühl, das auf das Bewußtsein zurückzuführen ist, daß etwas im Widerspruch mit den Wertvorstellungen steht“.
Bezeichnend für diese Wertvorstellungen sind auch die Schwierigkeiten vieler Eltern mit der Aufklärung ihrer Kinder über den natürlichen Fortpflanzungsvorgang. Es ist rein rational nicht zu erklären, daß ein von der Natur vorgesehener, zur Arterhaltung gedachter, angeborener Trieb ethisch als solcher gegen die menschlichen Wertvorstellungen verstößt und als schamerzeugend empfunden werden soll (Scham, die nicht mit dem notwendigen Schutz der emotionalen Intimsphäre in der Sexualität zu verwechseln ist).
Der Sexualtrieb, der dem übergeordneten Zweck der Arterhaltung dient, hat in der Tat eine transzendente, sakrale Dimension, die in einigen Kulturen und Religionen ihren Niederschlag gefunden haben. Dem Sexualbereich waren in der griechischen Mythologie, aber auch in anderen Mythologien und Religionen, spezielle Rituale gewidmet, mit denen die seelischen Spannungen, die durch den Konflikt zwischen sozialen Notwendigkeiten und Instinkten entstehen, abgebaut werden konnten. In den semitischen Kulturen des östlichen Mittelmeerraumes kannte man die heilige Hingabe im Tempel, zum Beispiel in Baalbek [13], ein religiöser Ritus junger Frauen und teilweise auch junger Männer, die sich nicht kannten – Hierodule oder Hierodulos, (altgriechisch: ἱερόδουλος (hierodoulos), von ἱερός (hieros, gottgeweiht) + δοῦλος (doulos, Diener). Es war ein unentgeltlicher Sexualakt, der es ermöglichte, vor dem Eintritt in das Eheleben mit der Sexualität auf der rein instinktiven, tierischen Ebene in Kontakt zu kommen. Die Sexualität wurde in diesen Kulturen noch als Naturerscheinung verstanden und in den Kunstwerken gelegentlich auch in ihrer derben Spontaneität dargestellt, wie sie zum Beispiel in den etruskischen Gräbern von Tarquinia, den Fresken von Pompeji oder auf altgriechischen Vasen zu sehen ist [14].
Der in unserer Zeit spannungsgeladene Umgang mit der Sexualität und den spontanen Kräften des Sexualtriebes erklärt auch, warum Störungen in Sexualbereich zu den häufigsten Ursachen gehören, die die Menschen zum Psychotherapeuten führen.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß gleich hinzugefügt werden, daß hier nicht der „Befreiung“ im Sexualverhalten, wie sie heute propagiert wird, das Wort gesprochen werden soll. Diese entspricht keineswegs einer echten Befreiung von kulturbedingten Spannungen zu einem natürlichen, instinktiven Erlebnis, sondern ist eine emotional überlagerte Überreaktion auf die triebfeindlichen, repressiven normativen ethischen Gesetze unserer Kultur und nicht ihre Überwindung.
Christa Meves hat zu Recht auf Fehlentwicklungen der Ideologie der „sexuellen Befreiung“ hingewiesen, wie sie z.B. von Kentler, Giese und Bornemann vertreten wurden [15]. Theorien, die auf Umfragen basieren und somit das Attribut der Wissenschaftlichkeit nicht verdienen und die sich zur Empfehlung versteigen, man solle schon in früher Kindheit die Kinder in Sexualtechniken, wie z.B. die Selbstbefriedigung, einweisen oder Inzest enttabuisieren. Man muß ihr beipflichten, wenn sie beanstandet, daß in einem solchen Zusammenhang der spezifisch menschliche, emotionale Aspekt der Sexualität völlig übergangen wird und dies zu späteren Störungen führen muß.
Marina Valcarenghi (a.a.O.) deutet diese Fehlentwicklung so:
„Die sexuelle Befreiung, die eines der Ziele der Protestbewegung der 60er und 70er Jahre war, jedoch gleich von der kulturellen Industrie beschlagnahmt wurde, hat die Körperlichkeit ans Licht gebracht, jedoch eher als Konsumobjekt, denn als Sitz der Instinkte, mehr als juridisches Objekt, denn als Gesetzgeber, so daß der Körper in den meisten Fällen unbewußt weiterhin Quelle der Sünde bleibt, während er im bewußten Leben als Statussymbol geliebt wird. Die hedonistisch-permissive Kultur, die die sexophobische Tradition überlagert, hat zu einem bestürzenden Resultat geführt, indem der Körper, ob als Kultobjekt oder Objekt der Scham, nach wie vor Ursprung eines Unbehagens bleibt.“
Für diese Ambivalenz gibt uns die Gegenwart viele Beweise. Über das Internet sind mit einem einfachen Klick unendlich viele pornographische Seiten zugänglich, die bis zur Perversion reichen; in allen Kiosken sind Sexzeitschriften erhältlich, die Aktfotos zeigen. Auch die Werbung benützt massiv die Sexualität, um ihren Botschaften Wirkung und Erfolg zu verschaffen.
Auf der anderen Seite stehen in vielen großen Museen (Britisch Museum in London, Louvre in Paris, Staatliche Graphische Sammlung in München als Beispiele) teilweise nicht einmal inventarisierte Sammlungen von erotischer Kunst unter Verschluß – dem Publikum nicht zugänglich. Auch die Sammlung der Erotikbücher der großen Bibliothèque Nationale in Paris bleibt dem Publikum verschlossen.
Heute noch erregt der berühmte, erst kürzlich im Louvre ausgestellte von Gustave Courbet gemalte Frauenakt L'Origine du Monde Anstoß beim Besucherpublikum und der Presse. Sogar die Archäologen als Forscher geben Anlaß zum Schmunzeln, wenn sie die ausgegrabenen Bordelle der Antike verschämt als „Fruchtbarkeitstempel“ bezeichnen. Man muß nur die etruskischen Gräber in Tarquinia und die Ausgrabungen in Pompeji besichtigen, um künstlerische Darstellungen eines freien Umgangs mit der instinktiven Sexualität zu finden.
Eine echte Befreiung kann nur als ein langsamer, kultureller Lernprozeß im natürlichen Umgang mit dem unbewußten Instinkt des Menschen stattfinden. Dieser Lernprozeß kann jedoch nur in Gang kommen, wenn man sich die angeborenen Kräfte des Sexualtriebes mit ihren unbewußten Implikationen unvoreingenommen vor Augen hält, und nicht, wenn sie möglichst verdrängt oder von der Kultur zu einem negativen Wert gemacht werden.
Sexualität ohne unerwünschte psychische Spannungen bedeutet nicht, auf Gefühle oder ethische, normative Gesetze und Verantwortungsgefühl im Sexualverhalten zu verzichten, sondern zu lernen, die von der Vernunft für notwendig erkannten normativen Gesetze im Einklang mit der Instinktwelt zu gestalten. Im Einklang mit der Natur ist ein spontanes, positives, emotionales Erleben der eigenen Körperlichkeit, wozu die Sexualität gehört.
Christa Meves (a.a.O.) formuliert es so:
„Es liegt genug Erfahrungswissen vor, welches uns als Erzieher befähigt, Kinder behutsam so zu leiten, daß sie weder prüde leibfeindlich noch sexuell abartig werden, sondern ihnen in der Beachtung dessen, was für sie in den einzelnen Reifestufen angemessen ist, den Weg in ein gesundes, reifes und glückliches Erwachsenensein zu ermöglichen.“
Aus der Feder einer gläubigen Katholikin sind diese Worte besonders bedeutungsvoll.
Dies bedeutet zusammenfassend, daß nicht der Sexualtrieb an sich unmoralisch sein kann, sondern nur wie verantwortungsvoll der reflektierende, lernfähige Mensch mit seiner Sexualität umgeht – und das ist ein grundsätzlicher Unterschied.
Die Urkraft des angeborenen Sexualtriebes des Menschen wurde von den Religionen erkannt und von den Herrschern und den Geistlichen zu ihren Zwecken und Nutzen als Machtinstrument auch mißbraucht.
Als Beispiel, das unseren Kulturkreis betrifft, seien die verschiedenen christlichen Kirchen erwähnt. Auf Druck der Geistlichkeit findet die puritanische Gesinnung in verschiedenen Staaten der USA noch heute sogar in der Gesetzgebung deutlich ihren Niederschlag, wo gewisse Sexualpraktiken, wie zum Beispiel oraler Sex, sogar unter Ehepartnern, von Staats wegen gesetzlich verboten und mit Gefängnisstrafen geahndet wurden – wie ein solches Gesetz allerdings praktisch durchgesetzt werden soll, bleibe dahingestellt.
Nicht nur die katholische Kirche, aber sie besonders, hat ihre Macht über ihre Gläubigen in wesentlichem Maße auf die Sexualmoral aufgebaut, nach der das Wahrnehmen und Ausleben des natürlichen, angeborenen Sexualtriebes, wenn es nicht primär der Zeugung dient, prinzipiell verwerflich sei. Das Ausleben eines spontanen, natürlichen, angeborenen Triebes wird damit zur Sünde. Man muß es sich vergegenwärtigen: jeder körperlich gesunde Mensch — ob Mann oder Frau — ist als biologisches, lebendiges Wesen während eines Großteils seines Daseins dem starken, spontanen sexuellen Triebpotential ausgesetzt. Wie auch immer er versucht es abzubauen, allenfalls durch Masturbation, sündigt er, kommt er mit den religiösen moralischen Normen in Konflikt und ist dem Dilemma der Doppelmoral ausgesetzt.
Was übrigens die Masturbation betrifft, hat Desmond Morris [16] die interessante Beobachtung gemacht, daß Tiere, die in Gefangenschaft leben und ihren Sexualtrieb nicht natürlich ausleben können, masturbieren.
Mit der moralischen Verurteilung eines normalen, angeborenen Triebpotentials hat die katholische Kirche ein Heer von Menschen mit Schuldgefühlen herangezüchtet, die sie dadurch seelisch in ihrer Macht hält, daß sie als einzige mit der Absolution eine Erleichterung von diesen Schuldgefühlen bieten kann — eine Macht, die sie während Jahrhunderten über viele Gesellschaften ausgeübt hat und die erst in der letzter Zeit angefangen hat, zusammenzubrechen und der Kirche zu entgleiten.
Auch wenn dies als anekdotische Entgleisung einzelner Geistlicher betrachtet werden kann, ist es doch erschreckend, wenn einem pubertierenden Jüngling bei der Beichte vom Priester allen Ernstes verkündet wird, mit der Masturbation würde er eine Erblindung riskieren. Oder wenn ein siebenjähriges (sic!) Mädchen vom Beichtvater davor gewarnt wird, im Bett mit der Hand ihren Geschlechtsteil zu berühren.
Dies ist meilenweit von den Worten Christa Meves entfernt.
Die in einer Zeit der möglichen Schwangerschaftsverhütung nicht mehr zeitgemäße Sexualmoral dürfte viele Gläubige von der katholischen Kirche entfernt haben.
Doch ist eine zum Machtinstrument umfunktionierte Sexualmoral mit erschreckenden Folgen weiterhin vielerorts verbreitet und hat nach wie vor eminente politische und soziale Bedeutung. Die Sexualität bestimmt noch heute das Leben der Gemeinschaften von Milliarden von Menschen in den patriarchalischen Gesellschaften, besonders in den islamischen. Hier sind die grausamsten Exzesse bis zu Todesurteilen wegen Untreue oder Ungehorsam in der Familie und die sexuelle Verstümmelung von Frauen Normalität.
Die Familie ist die wichtigste Zelle im Aufbau jeder menschlichen Persönlichkeit. Der Sexualinstinkt des Menschen mit seiner Funktion für die Fortpflanzung stellt die natürliche Kraft dar, auf die sich die Gesellschaft aufbaut, die sexuelle Anziehung zwischen den Partnern spielt als Antrieb zur Partnerwahl eine wichtige Rolle.
Daß die Familie in der heutigen Gesellschaft in einer Krise steckt, wird durch die hohe Scheidungsrate bewiesen, deren Ursachen und Gründe extrem vielschichtig sind, weil sie sämtliche Ebenen des komplexen menschlichen Seins berühren.
Diese Krise hat insofern gravierende Folgen, da die Funktion von Eltern und Familie zur gesunden Entwicklung der Nachkommen auch im wichtigen emotionalen Bereich unersetzbar bleibt und nur in diesem Rahmen möglich ist. Wenn aus einer Ehe oder Partnerschaft Nachkommen geboren werden, entsteht etwas Neues, die Gemeinschaft der Familie, die dem einzelnen Partner übergeordnet ist, was sowohl mit den religiösen als auch den sozialen Heiratsritualen in allen Gesellschaftsformen unterstrichen wird. Die Nachkommen bedürfen für ihr Wohl und ihre Entwicklung vor allem dieser Gemeinschaft.
Es ist somit interessant, eine Antwort auf die Frage zu suchen, worin die Ursachen dieses Versagens unserer Kultur bestehen. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle alle Aspekte und Probleme von Ehe und Familie zu betrachten; wir beschränken uns in diesem Zusammenhang auf einen Aspekt, die Reflexion nämlich, daß die kulturbedingten, normativen sozialen und moralischen Gesetze das Bewußtsein über die nicht zu unterdrückenden Kräfte des angeborenen Sexualtriebes des Menschen für das Verhalten in und um die Familie völlig verdrängt haben.
Eine unnatürliche Einstellung zum Wesen der Sexualität führt zu psychischen Spannungen, die das affektive Leben in der Partnerschaft belasten können. In Unkenntnis der angeborenen starken Triebhaftigkeit der Sexualität und des Zusammenhangs zwischen spontanem Potential, Reiz und Triebhandlung ist es zu einer Verwischung der Grenzen der beiden Pfeiler einer Beziehung gekommen, dem Instinkt und den Gefühlen.
Marina Valcarenghi meint dazu, es sei eine subtile Perversion, die in unserer Kultur Liebe und Sexualität eng miteinander verknüpft. Wie bereits gesagt, drängt der Trieb zur Arterhaltung den Menschen dazu, immer neue Sexualpartner zu suchen, ein Verhalten, das durch äußere Reize, wie sie heute in unserer Gesellschaft allgegenwärtig vorhanden sind, gefördert wird. Eine dauerhafte sexuelle Treue unter Lebenspartner ist demnach nur dann möglich, wenn sie auf einer harmonische affektive Basis, auf die Liebe — die auch Verantwortung bedeutet — aufbaut, was das Wesen des Menschen gegenüber dem Tier grundlegend unterscheidet.
Liebe als Geben und Nehmen unter Partnern ist eine menschliche schöpferische, emotionale Leistung, die imstande sein kann, eine gesunde Spannung aufrecht zu erhalten und damit ein harmonisches Ausleben des Sexualtriebes unter den gleichen Partnern zu ermöglichen. Eine solche Liebe ist jedoch eine für den Menschen sehr anspruchsvolle, lebenslängliche Aufgabe, der — leider — nicht alle gewachsen sind.
In der Vergangenheit gehörten in den höheren Gesellschaftsschichten die Mätressen zum guten Ton. Alle aktuellen Untersuchungen über das Sexualverhalten der Menschen kommen denn auch zu einem übereinstimmenden Ergebnis: die Mehrheit der Männer gibt zu, wenigstens einmal eine außereheliche Sexualbeziehung gehabt zu haben, bei den Frauen ist dieses Verhalten etwas weniger verbreitet, aber dank der Schwangerschaftsverhütung deutlich im Zunehmen begriffen.
Hier drängen sich zwei Feststellungen auf, nämlich, daß ein ungenügend ausgelebter Sexualinstinkt auch in vielen sonst tragfähigen Ehen ein äußerst häufiges Problem darstellt, und vor allem, daß diesem Problem mit dem rein moralischen Zwang zur Treue nicht beizukommen ist. Ohne die sexuelle Treue in der Ehe als ein anzustrebendes Idealziel in Frage stellen zu wollen, zeigt die Erfahrung, daß die Gemeinschaft der Familie, wenn sie von der Vernunft geleitet wird, auch bei unharmonischer Beziehung unter den Partnern soweit Bestand haben kann, daß sie für die Nachkommen ein besseres Umfeld bietet als geschiedene Eltern — sofern es nicht zu Gewalttätigkeiten kommt.
Es ist wenig zweckmäßig, bei einer gestörten sexuellen Partnerbeziehung ein Symptom, die Untreue, moralisch in den Vordergrund zu schieben, statt sich auf die wesentlichen Probleme zu konzentrieren. Nicht eine Fokussierung auf die Untreue oder eine unter Verdrängung der angeborenen Instinkte erkaufte Treue können die Familie zusammenhalten, die emotionale Untreue wie Lieblosigkeit, Mangel an Fürsorge oder gar Gewalt sind auch in Bezug auf das Umfeld, in dem die Nachkommen aufwachsen, viel wichtigere und moralisch weit gravierendere Begleiterscheinungen einer problematischen Ehe, als eine reine Triebhandlung wie ein außerehelicher Sexualakt — was nicht mit einer außerehelichen emotionalen, ständigen Beziehung zu verwechseln ist.
Anders ausgedrückt bedeutet dies, daß der Krise der Familie vor allem mit einer Entwicklung und Förderung der Liebesfähigkeit und Toleranz der Partner begegnet werden sollte und nicht mit Moralpredigten über Treue, denn Moralpredigten, die mit den Instinkten in Konflikt geraten, stellen eine eminente Gefahr für das seelische Gleichgewicht dar und führen zur Doppelmoral.
Unter den Gründen für eine falsche Partnerwahl darf — besonders bei jungen Menschen – mit hoher Wahrscheinlichkeit ein nicht genügend bewußter, relativierender Umgang mit dem Sexualtrieb angenommen werden: Man fühlt sich vom Partner sexuell angezogen und ist sich nicht bewußt, daß sexuelle Anziehung und Liebe nicht dasselbe sind, daß auf dem Instinkt allein keine menschliche Beziehung mit Bestand aufgebaut werden kann. Nur eine unverkrampfte, natürliche Einstellung zur Sexualität, ermöglicht es mit einer gesunden Erziehung, den Blick für die für eine stabile Partnerschaft wichtigeren Aspekte zu schärfen.
Studien über die Verhaltensbiologie der Fortpflanzung, namentlich im angelsächsischen Bereich, scheinen überraschende Resultate zu ergeben, die viele überlieferte Ansichten über das Sexualverhalten von Mann und Frau wesentlich ändern. Es erhärtet sich immer mehr die Annahme, daß nicht nur der Mann bei der Partnersuche oft instinktmäßig und unbewußt eine genetische Selektion trifft, sondern daß dies auch für die Frau zutrifft. Die Möglichkeit der Frau bei der sexuellen Beziehung unerwünschte Schwangerschaften zu verhüten und sich von Geschlechtskrankheiten zu schützen, hat zu radikalen Änderung ihres Sexualverhaltens geführt.
Der Erfolg beim weiblichen Publikum der von Männern aufgeführten Striptease-Shows sowie der Erfolg von Sexzeitschriften für Frauen bestätigen, daß die Frauen, wie die Männer, intensive, wenn auch unterschiedliche spontane Sexwünsche und Phantasien haben, die sie bis vor kurzem nicht ausleben konnten und durften, und somit verdrängten.
Dies bedeutet, daß biologisch Mann und Frau von Natur aus einem gleich starken Sexualtrieb ausgesetzt und instinktmäßig polygam sind und daß die Monogamie ein kulturelles Produkt der menschlichen Evolution ist.
Da der Sexualtrieb der Arterhaltung dient, ist es auch wenig einsichtig, daß Mann und Frau in ihrer Triebkraft ungleich ausgestattet sein sollten. Viel wahrscheinlicher erscheint, daß diese Annahme mit dem Aufbau vieler Gesellschaftsstrukturen in Verbindung gebracht werden kann. Die unzutreffende Annahme eines unterschiedlich starken Sexualtriebes von Mann und Frau spiegelt sich somit in der unterschiedlichen Stellung beider Geschlechter in der Mann-zentrierten Struktur der patriarchalischen Gesellschaft und dient ihrer Legitimierung.
In der westlichen Kultur ist dieses Gesellschaftsbild ins Wanken geraten und droht in einen entgegengesetzten Exzeß zu münden. Das Problem der Rolle von Mann und Frau in der Gesellschaft ist ein äußerst komplexes, oft ideologisch gefärbtes und heikles Thema in der zeitgenössischen Politik geworden.
Abgesehen vom Sexualtrieb bestehen zwischen Mann und Frau wichtige nicht nur seelische und kognitive Unterschiede. Bei der Beobachtung der Tierwelt stellt man fest, daß die Natur den männlichen und weiblichen Wesen in ihrer Funktion bei der Fortpflanzung unterschiedliche Aufgaben zuteilt, die sich nicht nur in der unterschiedlichen biologischen und körperlichen Beschaffenheit, sondern auch in einem angeborenen, unbewußten Verhaltensmuster niederschlagen müssen. So kann zum Beispiel bei einigen Müttern der Mutterinstinkt nach der Geburt des Kindes ihr Sexualverhalten gegenüber dem Vater erheblich verändern und zu Problemen führen.
Ein für die Gesellschaft bedeutender Aspekt der Verwöhnung ist im Sexualbereich zu beobachten. Beim Tier wird die Fortpflanzung von Rhythmen geregelt, die von den natürlichen Zyklen der Jahreszeiten abhängen. Wird dieser Rhythmus bei einem Tier in der Gefangenschaft gestört, kann eine Befruchtung unmöglich werden. Diese Rhythmen sorgen für das natürliche Gleichgewicht in der Arterhaltung. Der Sexualakt beim Menschen, als höher entwickeltem, reflektierendem Wesen, ist weit mehr denn ein ausschließlich von den Instinkten abhängiger, von der Natur geregelter Akt, er ist auch Ausdruck eines psychischen Vorgangs, eines Zusammenspiels von Körper und Seele, und wird vom kollektiven Unbewußten und der kulturellen Evolution mitgeprägt.
Die bereits erwähnte mißverstandene „Befreiung“ der Sexualität hat zu Fehlentwicklungen geführt, die als verhaltensbiologische Verwöhnung zu bezeichnen sind: Sex als Konsumgut.
Dies ist Dank dem Prinzip der doppelten Quantifizierung möglich, indem der die Sexuallust suchende Mensch durch immer stärkere Reize in die Lage versetzt wird, diese Triebbefriedigung auch bei geringem Antrieb zu erreichen. Diese Entwicklung wird durch eine boomende Sexindustrie und die Massenmedien mit ihrer Pseudoaufklärung massiv gefördert, die Pharmaindustrie leistet mit ihren „Wunderpharmaka“ ebenfalls ihren Beitrag dazu.
Es ist müßig, sich über die moralischen Aspekte dieser permissiven Entwicklung aufzuhalten. Wichtiger erscheint die Tatsache zu sein, daß damit eine weitere Störung der Ökonomie der Instinkte entsteht, die Unbehagen erzeugt.
Die körperfeindlichen moralischen Gesetze des Verstandes unserer Kultur haben die Harmonie dieser Verbindung zwischen Körper und Seele, die Harmonie zwischen Instinkt und Psyche gestört. Die Rebellion gegen die widernatürliche moralische Verurteilung und Tabuisierung des Sexualtriebes war in unserer Gesellschaft die bereits erwähnte, von den modernen Sexualtheoretikern gepredigte Befreiung des Sexualverhaltens, die anfänglich durch die Möglichkeit der Schwangerschafts- und Krankheitsverhütung erleichtert wurde.
Leider ist diese Entwicklung durch kein höheres Verantwortungsbewußtsein im emotionalen Bereich begleitet worden, was für die Entwicklung der Jugend negative Folgen hat. Die Sexualität wird im heutigen Umfeld schwergewichtig — wie die Psychoanalytikerin Varlcarenghi unterstrich – nur als ein Konsumgut betrachtet, wie dies uns täglich visuell in Fernsehen und Werbung vorgeführt wird, ein Phänomen, das in allen sozialen und kulturellen Schichten unserer Gesellschaft zu beobachten ist. Damit ist eine doppelte Moral entstanden: der Sexualtrieb wird zwar einerseits ethisch verurteilt, andererseits das sexuelle Lustgefühl aber hemmungslos gesucht. So entsteht die Verwöhnung: Das sexuelle Lustgefühl wird emotionslos auch bei geringem Antrieb, ohne Appetenzverhalten und Aufschub, nach dem Gesetz der doppelten Quantifizierung durch Erhöhung der Reize immer öfter gesucht, was eine Steigerungspirale der Instinkte in Gang setzt.
Die verbreitete Prostitution ist ein Beweis dafür, wie in der zeitgenössischen, aufgeklärten Gesellschaft zur hedonistischen Erreichung des Lustgefühls bei geringem Antrieb immer stärkere, an Perversion grenzende Reize nötig werden. Die Verwöhnung führt zu einer Störung der Verhaltensökonomie und zu psychischen Problemen.
Eine besonders gefährliche Form dieser Steigerungsspirale ist die bereits erwähnte, immer mehr über das Internet verbreitete Pornographie. Besorgniserregend sind die rapide Zunahme der Jugendlichen, die diese Seiten im Internet benützen, wie auch die immer brutaleren Darstellungen. Das Internet ermöglicht das Erreichen starker sexueller Reize, ohne das Triebpotential auf natürlichem Weg abbauen zu können, es handelt sich um kein reelles, sondern um ein virtuelles Erleben, das nicht von der körperlichen, sensorischen Erfahrung der Sexualität begleitet wird.
12. Valcarenghi, Marina. Una passione per due. La natura degli opposti nella personalità e nella relazione. Mailand: Tranchida. 1994.
13. Frazer, James George. The golden bough. Part IV: Adonis, Attis, Osiris. New York: University Books. 1961; und: Thubron, Colin. The hills of Adonis. A quest in Lebanon. Boston and Toronto: Little Brown. 1968. 120-121.
14. Dierichs, Angelika. Erotik in der Kunst Griechenlands. Darmstadt: Verlag Phillip von Zabern. 2008.
15. Meves, Christa. Manipulierte Maßlosigkeit. Freiburg: Herder Verlag. 1977.
16. Morris, Desmond. The causation of pseudofemale and pseudomale behaviour. Behaviour. 1955; 8: 46-56; und: The response of animals to a restricted environment. Symp Zool Soc London 1964; 13: 99-118.
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Alexander von Wyttenbach: Die Vernunft als Untertan des Unbewussten.
Betrachtungen, herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Peter A. Rinck.
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