n der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert hat sich mit dem technischen Fortschritt eine Entwicklung fortgesetzt und beschleunigt, die bereits im vorangehenden Jahrhundert begonnen hatte und die ein Umfeld geschaffen hat, das mit dem angeborenen Instinktverhalten in Konflikt gerät: die rasch fortschreitende Verstädterung der Bevölkerung. Sie ging und geht einher mit der Entwurzelung vieler Menschen und wird vom Verlust der Möglichkeit begleitet, sich mit einer Gemeinschaft und einem Territorium zu identifizieren. Die als statisch und langweilig empfundene Geborgenheit der Dorfgemeinschaften wurde der Hoffnung auf eine Veränderung und eines besseren materiellen Lebens geopfert.
Diese Entwurzelung wurde durch schnellere Fortbewegungsmittel und die elektronische Kommunikationstechnologie gefördert, die Welt ist zu einem Global village geworden. Die Familie, die Berufswelt und der sonntägliche Gang zur Kirche, die bis vor kurzem kontaktstiftende und sozial integrierende Funktionen hatten, haben, auch wegen der geforderten beruflichen Mobilität, immer mehr an Bedeutung verloren. Die moderne Massengesellschaft zeichnet sich durch Entwurzelung und Auflösung der traditionellen Bindungen aus, hin zur Anonymität.
Stammesgeschichtlich notwendige soziale Bezugspunkte wurden verloren. Es war dabei unausweichlich, daß der moderne, isoliert und ohne Bindungen lebende Mensch vermehrt unter seiner Urangst leiden würde, ein Leiden das sich in Form eines nicht klar definierbaren, unbewußten Befindlichkeit eines Unwohlgefühls und einer Überforderung äußert: Der entwurzelte Mensch ist verunsichert. Die Auswüchse der Konsumgesellschaft sind lediglich ein unbedarfter Versuch diesen Gefühlen zu entfliehen.
Um dem Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit nachzuleben, wendet der Mensch in der modernen Massengesellschaft neue Strategien an: Als Ersatz für die verlorene Urform der Gesellschaft, werden neue Gemeinschaften gebildet. Der Mensch der modernen Großstädte hastet zwischen Familie, Arbeitswelt und Freizeitverein oder Club, zufällig getroffene Menschen werden nicht mehr wahrgenommen, geschweige denn gegrüßt, der Blickkontakt mit Unbekannten wird vermieden: Nicht umsonst spricht man von der Einsamkeit in der Masse. Einen Ausweg sollen elektronische sogenannte „gesellige Netze“ schaffen, Social networks, die allerdings einen handfesten wirtschaftlichen Hintergrund haben und keine direkten, „anfaßbaren“ im deutschsprachigen Sinne "sozialen" Gemeinschaften bilden. Es handelt sich um rein virtuelle, abstrakte Kontakte, die im Gegensatz zu den realen menschlichen Begegnungen mit dem Kontaktpartner keine physische, sinnliche Beziehung — zum Beispiel über die unbewußte Botschaft der Körpersprache — ermöglichen.
Daß das Leben in der modernen Massengesellschaft Probleme schafft, weil es nicht im Einklang mit dem angeborenen instinktiven Verhaltensmuster des Menschen steht, darf natürlich nicht zu der Simplifizierung verleiten, daß alle Probleme unserer Gesellschaft ausschließlich damit zu erklären seien, doch sind die Auswirkungen der Urangst auf das Verhalten des Menschen bei ihrer Deutung nicht zu übersehen und zu unterschätzen.
Mit anderen Worten, die Verhaltenslehre muß in die Betrachtungen der Vernunft mit einbezogen werden.
Um der Urangst des einsamen Menschen der Massengesellschaft zu begegnen, hat sich besonders in den großen Bevölkerungsballungen ein vielfältiges, kaum überblickbares Vereinsleben entwickelt, in dem Menschen mit gemeinsamen Neigungen und Vorlieben in Gruppen einen neuen Gemeinschaftssinn entwickeln können — Sport-, Kultur- und sonstige Vereine mit den unterschiedlichsten Zielen und Zwecken; gemeinnützige Vereinigungen stellen einen besonders positiven Aspekt dieses instinktiven Bedürfnisses nach Gemeinschaftssinn dar. Dasselbe Bedürfnis nach Gruppenerlebnis kann als die verhaltensbiologische Komponente des zunehmenden Erfolges religiöser oder pseudoreligiöser Sekten angesehen werden.
Ein soziales Problem stellt dagegen die Bildung von Randgruppen unserer Gesellschaft in teilweise gewalttätigen Banden dar, die sich oft jenseits der Gesetze bewegen, zum Beispiel die Skinheads. Eine bemerkenswerte Erscheinung der Regression in das instinktive Gruppenverhalten sind Sportanlässe oder Massenveranstaltungen von Jugendlichen wie Konzerte von Rockgruppen, bei denen sich die Anwesenden in einem intensiven Gruppenerlebnis mit dem jeweiligen Idol (dem Leittier) vollständig identifizieren, bis zum Verlust des Ichbewußtseins, der eigenen Identität. Auch in diesen Gruppierungen gilt ein ausgeprägter Normierungsdruck, der sich in einer angepaßten, uniformen Kleidung, Frisur, Sprache und Gestik äußert, bis hin zum Konsum von Modedrogen.
Gerade die Feststellung, daß es sich um Jugendliche handelt, die meistens normal in der Gesellschaft integriert sind, deutet auf eine starke instinktive Komponente dieses Verhaltens hin.
Besondere und für die modernen demokratischen Gesellschaften wichtige Gemeinschaften bilden die politischen Bewegungen und Parteien, die ebenfalls in ihrer Dynamik vom angeborenem Gruppenverhalten beeinflußt werden. Bei den meist kleinen Gruppierungen, die extreme politische Meinungen und Ideologien vertreten und damit starker Opposition ausgesetzt sind, ist das Zugehörigkeits- und Identifikationspotential mit der Gruppe sehr stark ausgeprägt, was zumindest teilweise ihre Tendenz zur Abgrenzung (ähnlich der Xenophobie) erklärt und ihre mangelnde Bereitschaft und Unfähigkeit zur politischen Zusammenarbeit und zum Kompromiß.
Ein typisches Beispiel dafür liefern die ökologischen Parteien, die "Grünen", in denen die "Fundis" jede politische Zusammenarbeit mit anderen Parteien verunmöglichen. Ganz allgemein kann angenommen werden, daß die Schwierigkeiten, einen politischen Konsens unter den Parteien zur Lösung der anstehenden Probleme zu finden, nicht nur in ideologischen Meinungsverschiedenheiten und handfesten Interessenkonflikten zu suchen sind, sondern auch darin, daß die Parteien zu einem Ersatz-Identifikationsobjekt innerhalb der anonymen Massengesellschaft geworden sind, die unter Anhängern zum Gruppenerlebnis werden und wegen des begleitenden Normierungsdrucks eine vorurteilslose, rationale und offene Auseinandersetzung mit den realen Problemen erschweren. Das übergeordnete Gemeinwohl bleibt hinter dem Parteienantagonismus zurück.
Innerhalb der Gruppe entsteht automatisch ein Normierungsdruck, um dank voraussehbarem Verhaltens ihrer Mitglieder die instinktive Urangst des einzelnen abzubauen, beziehungsweise Vertrauen aufzubauen. Dieser Druck auf das Verhalten schränkt einerseits die Freiheit des einzelnen ein, was als Belastung empfunden wird, hat aber gleichzeitig eine orientierende Funktion, die in der Geschichte der Menschheit durch die Religionen wahrgenommen wird. Die Anziehung der anonymen Massengesellschaft besteht im Gefühl der Befreiung vom Normierungsdruck, erfordert aber auch, daß sich jeder seine eigenen Verhaltensnormen schaffen muß, was viele Menschen psychologisch und kulturell überfordert.
Die Probleme dieser Gesellschaft entstehen aus dem Spannungsfeld zwischen der Verweigerung des Normierungsdrucks auf der einen Seite und der Überforderung vieler Menschen durch diese Befreiung auf der anderen. So entstehen in jeder Massengesellschaft Randgruppen, die ohne Normierungsdruck orientierungslos werden und psychologische, soziale und wirtschaftliche Probleme aufwerfen. Die Folgen dieser Orientierungslosigkeit treten besonders in den Großstädten deutlich ans Licht: grassierende Prostitution, Spielsucht, Drogenabhängigkeit, Vandalismus und Kriminalität sind Phänomene, die in den Massengesellschaften rapide zunehmen. Mit Polizei, Justiz und Repression können solche Fehlentwicklungen höchstens eingedämmt, jedoch nicht ausgemerzt werden, denn die Repression steigert nur noch die instinktiven Angstgefühle und fördert den Rückzug in die Gruppe.
Es ist eine Illusion der Politik zu glauben, man könne mit Prävention und sozialer Hilfe allein diese Randgruppen in die Gesellschaft integrieren. Man muß nach Maßnahmen suchen, die diesem angeborenen, instinktiven Angstgefühl Rechnung tragen und integrierend wirken. Gelöst werden können diese Probleme nur dann, wenn es gelingt, diesen Menschen ein Gefühl der Geborgenheit mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu ermöglichen, die imstande ist, auf sie einen positiven und konstruktiven Normierungsdruck auszuüben. Dazu braucht es die Schaffung von entsprechenden sozialen Rahmenbedingungen und Anreize.
Ähnlich der Entwicklung einer Entfremdung unter den einzelnen Menschen in der Massengesellschaft droht die politische Entwicklung immer mehr auch die traditionellen Staatsgemeinschaften aufzulösen.
Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts hat der technische Fortschritt mit der bis vor kurzem undenkbar erscheinenden Mobilität von Menschen, Waren und Informationen diese Entwicklung bis zur Internationalisierung der Gesellschaften beschleunigt fortgesetzt. Die offensichtlichste Erscheinung dieser Entwicklung ist die sogenannte Globalisierung der Wirtschaft: Produktion und Handel werden immer weniger durch Entfernung und Grenzen behindert, viele Unternehmen werden durch Fusionen immer größer und mächtiger und agieren auf dem weltweiten Markt. Inwieweit und in welchen Fällen diese Entwicklung der Wirtschaft auf lange Sicht heilbringend sein wird, kann nur die Zukunft weisen, eine gesunde Dosis Skepsis ist diesbezüglich angebracht.
Parallel zur Bildung größerer Wirtschaftsräume findet auch eine Bewegung hin zu größeren, auch politischen übernationalen Gemeinschaften, wie sie die Europäische Union darstellt. Ziel dieser Bewegungen ist es, mit der Zeit nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die politischen Grenzen abzubauen.
Ausgehend von der Annahme, daß eine solche historische Entwicklung nicht aufzuhalten sei, sollte sich der Mensch aber zumindest ernsthaft die kritische Frage stellen, inwiefern sie für die Befindlichkeit des Menschen gewinnbringend ist und unter welchen Bedingungen sie seine Lebensbedingungen, vom reinen materiellen Wohlstand einmal abgesehen, verbessern kann.
Es wäre unproduktiv, in dieser Entwicklung das Unheil der Menschheit zu erblicken, erfolgversprechender ist es, sich genau zu überlegen, welche möglichen Fehlentwicklungen mit institutionellen Maßnahmen korrigiert werden können und sollen.
Die Antwort auf die Frage ist nicht einfach. Die Entwicklung zu immer größeren menschlichen Gemeinschaften sollte auf jeden Fall im Einklang mit dem menschlichen Wesen stattfinden, nicht nur auf der emotionalen und kulturellen, sondern auch auf der verhaltensbiologischen Ebene. Die Schwierigkeit liegt in der unendlichen Vielfalt des menschlichen Seins, die es unmöglich macht, die verschiedenen Ebenen der menschlichen Natur und ihre Wirkungen sauber zu trennen und alle Variablen, die sein Verhalten beeinflussen, mit der Vernunft zu erfassen und in eine allgemeingültige Ordnung einzubringen.
Der Aufbau der Europäischen Union wie er sich am Anfang dieses Jahrhunderts darstellt, ist ein Paradebeispiel einer rationalistisch gedachten Konstruktion, die insofern nicht menschengerecht gestaltet wird, als sie das im kollektiven Unbewußten verankerte Bedürfnis nach Gruppenzughörigkeit der Völker nicht genügend berücksichtigt.
Auch in einem integrierten Europa muß der Mensch die Möglichkeit haben, in Gemeinschaften zu leben, die für ihn überschaubar bleiben und seinem Bedürfnis nach ethnischer und kultureller, aber auch territorialer Identifikation entgegenkommt. Es ist undenkbar, daß sich die Völker Europas zum Beispiel an olympischen Spielen jeweils mit dem Symbol der Europaflagge anstelle ihrer nationalen Fahne identifizieren könnten. Bei internationalen sportlichen Anlässen scheint der Nationalismus auf jeden Fall noch sehr gegenwärtig.
Wenn man die kulturellen, religiösen und ethnischen Unterschiede betrachtet, die etwa zwischen den nordwestlichen und den südöstlichen, mediterranen Völker bestehen, sollte man am besten ein Europa der Völker anstreben, ein Europe des Nations, wie dies De Gaulle formulierte. Um dies zu gewährleisten, sollten weitgehende politische Kompetenzen, sofern deren Zentralisierung nicht unbedingt notwendig ist, möglichst den einzelnen Völkern überlassen werden.
Handelspolitische Regulierungen dürfen nicht die Vielfalt der Lebensgewohnheiten der Bevölkerungen der verschiedenen Regionen Europas im Namen der Wirtschaftlichkeit oder des reinen Kommerzes zerstören und vereinheitlichen. Als ein negatives Beispiel unter vielen kann die Tendenz der EU-Behörden zitiert werden, mit Vorschriften im Ernährungssektor die Eßgewohnheiten der verschiedenen Völker zu vereinheitlichen: Es ist ein Unterschied, ob die elektrischen Steckdosen oder die Autonummernschilder in Brüssel zentralistisch vereinheitlicht werden oder aber die Käse- oder Weinproduktion, die alte Traditionen und Kultur widerspiegeln, eine Tendenz die wohl eher den Interessen der Großproduzenten mit ihren Lobbys entgegenkommt als einem Bedürfnis der Bevölkerung oder einer zwingenden wirtschaftlichen Notwendigkeit.
Die europäische Integration wird so lange politisch instabil bleiben und zu Spannungen und Unruhen unter den Völkern Anlaß geben, bis man zu unterscheiden lernt, was aus Vernunftgründen vereinheitlicht werden darf und soll und was nicht — mit anderen Worten, bis man die verschiedenen politischen Kompetenzen menschen- und verhaltensgerecht aufteilt.
Leider wurde es bisher von den Erbauern der EU unterlassen, ernsthaft und detailliert eine vertiefte ordnungspolitische Diskussion über die Zuteilung der Entscheidungskompetenz von unten nach oben an die verschiedenen Ebenen der Gemeinschaft zu führen; die Integration Europas wird von oben nach unten diktiert. Der eigentliche demokratische Souverän, die Völker Europas, hat kein Mitspracherecht.
Genau wie die Planwirtschaft ist auch die Planpolitik zum Scheitern verurteilt. Dieser Mißstand bei den europäischen Institutionen (denn um einen solchen handelt es sich zweifelsohne) ist nur mit einem humanistischen und biologischen Bildungsnotstand, einem Mangel an Kenntnissen über den Menschen zu erklären, eine ideologische Verblendung der herrschenden Classe politique. Ohne dies unbesehen auf die EU übertragen zu wollen, darf behauptet werden, daß die beneidenswerte politische Stabilität der Schweizerischen Eidgenossenschaft gerade auf einer äußerst sorgfältig austarierten und ständig überprüften Verteilung der politischen Entscheidungsmacht von der Gemeinde über den Kanton bis zur zentralen Regierung beruht, die jedem Bürger die Möglichkeit bietet, das Funktionieren einer politischen Gemeinschaft zu verstehen und sich mit einer überschaubaren Gemeinschaft zu identifizieren — vom Gefühl begleitet, über das eigene Schicksal mitzuentscheiden.
Nicht zufällig hatte schon Wilhelm Röpke, einer der geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft, am Schweizer Beispiel die Vorzüge des föderalistischen Gedankens erkannt, ein System, das zum Beispiel eine als einmalig zu bezeichnende politische Leistung vorzuweisen kann, die in Europa nicht die ihr gebührende historische Beachtung gefunden hat: die Lösung des Problems der Jurassischen Minderheit im Kanton Bern mit der Gründung eines neuen, politisch unabhängigen Kantons — eine Lösung, die nicht von oben diktiert, sondern vom Volk auf demokratischem, rechtsstaatlichem Weg getragen wurde.
Es kann damit abschließend angenommen werden, daß der Weg zur europäischen Integration, wie er zur Zeit eingeschlagen ist, nicht nur immer wieder auf politische und wirtschaftliche Hindernisse stoßen wird, sondern zusätzlich auf verhaltensbiologisch bedingte Abwehr.
|
Alexander von Wyttenbach: Die Vernunft als Untertan des Unbewussten.
Betrachtungen, herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Peter A. Rinck.
|