Der Mensch gehört in der Tierwelt zur Art der Säugetiere. Wie alle Tiere hat er zwangsläufig biologische Bedürfnisse und ist im kollektiven Unbewußten mit angeborenen natürlichen Instinkten, Verhaltensmuster und Antrieben ausgestattet, die stammesgeschichtlich dem hohen Zweck der Arterhaltung dienen.
Der Mensch unterscheidet sich von den Tieren aufgrund seiner Vernunft und seinen kognitiven Fähigkeiten und verfügt über das Bewußtsein. Er lebt im Spannungsfeld zwischen kollektivem Unterbewußtsein und Vernunft, er ist ein bipolares Wesen. Das Bewußtsein des Todes ist die Ursache seiner Urangst.
Die verschiedenen arterhaltenden Instinkte wie Sexualinstinkt, Aggressionstrieb, Xenophobie und Tötungsinstinkt leiten menschliches Verhalten. In der Gemeinschaft spielt das angeborene Gruppenverhalten mit einem Leittier und dem Anpassungsdruck auf die Mitglieder der Gruppe als natürliche Überlebensstrategie eine wichtige Rolle zur Linderung der Urangst.
Das kollektive Unbewußte ist der Vernunft nicht direkt zugänglich und nur empirisch durch seine Wirkung zu beobachten. Die natürlichen Instinkte sind ethisch neutral, sie können beherrscht, jedoch nicht gezähmt werden.
Der Mensch ist in seinem Unbewußten lernfähig; die Evolution der Menschheit ist das Resultat eines Lernprozesses, der zwischen Instinkt und Vernunft stattfindet; die Vernunft ist das Werkzeug, das diesen Lernprozeß ermöglicht. Die Bildung von ethischen Normen ist das Resultat dieses von der Vernunft geleiteten evolutionären Lernprozesses.
Der Lernprozeß ist von den äußeren Anreizen abhängig, die lebenslang die anatomische Entwicklung des Gehirnes prägen — die sogenannte Plastizität des Gehirnes – und beginnt früh nach der Geburt.
Die enge Beziehung zur Mutter und die Erfahrung der Liebe in einer natürlichen Familie in den ersten Lebensjahren sind entscheidend für die Entwicklung des Selbstwertgefühls des Menschen. Die Jugendgewalt und Drogen sind das Resultat eines fehlenden Urerlebnisses der Liebe und Zuwendung im ersten Lebensabschnitt.
Das angeborene Gruppenverhalten (der Herdentrieb) kann zu sozial positivem Verhalten in der Gesellschaft verhelfen (Konfuzius), kann aber auch zu Fehlentwicklungen führen. Revolutionsführer und Diktatoren bauen ihren Erfolg mit ihren Mitläufern auf dieses Verhalten auf und können, wie Kommunismus, Nationalsozialismus und andere Ideologien zeigen, erlernte ethische Normen gegen die Vernunft außer Kraft setzen — eine Regression ins Tierische ist immer möglich.
Im Namen der christlichen Religion der Liebe wurden in der Geschichte die schlimmsten Verbrechen gerechtfertigt. Nur Menschen mit gesundem Selbstwertgefühl — die „Individuation“ von C.G. Jung — können gegen die Regression der Gesellschaft ins Tierische kämpfen und dagegen resistent sein. Politische Dissidenten geben ein Zeugnis davon.
Die Ideologien sind der erfolglose Versuch der Vernunft, das unbewußte Verhalten mit dem Verstand zu ändern. Eine Verbesserung des menschlichen Schicksals kann nicht von der Vernunft oder der Politik erzwungen werden, sondern ist nur dank des langwierigen Lernprozesses im Wissen der menschlichen Bipolarität möglich.
Menschliches Verhalten wird entscheidend von den von C.G. Jung definierten unbewußten Archetypen des kollektiven Unbewußten beeinflußt. So ist die Bewegung der Grünen die Artikulierung des Mythos des verlorenen Paradieses, die Antinuklearbewegung die des Prometheischen Bestrafungsmythos. Der Heldenmythos ist die Projektion und Identifikation des Menschen mit seinen Idealen. Diese Archetypen sind in allen Religionen zu erkennen.
Die Religion und die Schöpfungen der Kunst sind ein Mittel des bewußten Menschen, sich mit seinem Unbewußten und von der Vernunft nicht faßbaren Transzendenten auseinanderzusetzen und es darzustellen, um das Spannungsfeld zwischen Vernunft und Unterbewußtsein zu überbrücken; sie lindern die Urangst. Religion und Kunst sind ein Urbedürfnis des Menschen.
Das Studium der Geschichte und der Kulturen der Vergangenheit — die humanistische Bildung im weiteren Sinn — dient dem menschlichen Unbewußten als unersetzliche kulturelle Orientierung. Die heutige berufsorientierte, utilitaristische Schulbildung, die sich schwerpunktmäßig am Rationalen und Nützlichen orientiert, vergißt den „Nutzen des Unnützen“ und ist ein Grund für die Orientierungslosigkeit in der zeitgenössischen Gesellschaft.
Entscheidend für das Verhalten der Menschen ist das Naturgesetz des angeborenen, spontanen Energiezyklus. Beim Menschen wie bei den Tieren, bauen sich spontane Energiepotentiale auf, die der Arterhaltung dienen: Ein Nahrungsbedarf ist mit Unlustgefühl verbunden, es folgt die natürliche Anstrengung der Nahrungssuche; das Erreichen des Ziels (zum Beispiel die Nahrung) ist mit Lust verbunden. Die Endhandlung (die Nahrungsaufnahme) löst das Potential auf, es folgt eine Entspannung. Dieser Zyklus wiederholt sich immer wieder.
Die Möglichkeit des Menschen, den spontanen Energiezyklus frei ausleben zu können und im weiten Sinne kreativ zu sein, ist der Schlüssel zu einem verhaltensbiologisch ausgeglichenem, glücklichen Leben.
Der angeborene spontane Energiezyklus erklärt den im Mythos des Odysseus dargestellten unbewußten Drang des Menschen nach immer neuen Ufern. Da er dem Verstand nicht zugänglich ist, kann er ins Maßlose führen.
Die Möglichkeit das Lustgefühl des Erfolgserlebnisses im Energiezyklus mit immer geringerer Anstrengung zur erreichen, führt zur verhaltensbiologischen Verwöhnung, die als „Sucht“ unweigerlich in persönliche, aber auch in soziale und wirtschaftliche Krisen der Gesellschaft mündet. Krisen und Kriege sind im Menschen vorprogrammiert.
Energiezyklus und Verwöhnung erklären den unaufhaltsamen Ausbau des Versorgungsstaates und steigende Staatsausgaben genauso wie die Maßlosigkeit in der Wirtschaft und der Finanzwelt. Die Notwendigkeit des Wirtschaftswachstums zur Sicherung des Wohlstandes ist zum Dogma geworden. Vernünftiges Maßhalten kollidiert mit dem Trieb des unbewußten Energiezyklus.
Die demokratische, offene Gesellschaft ist der größte Schritt in der Evolution der Menschheit, sie bietet für den unbewußten Lernprozeß ein günstiges Umfeld und ermöglicht natürliche Konflikte mit den von der Vernunft geschaffenen Regeln unblutig zu lösen und erlaubt dem Menschen seine unbewußten Triebe friedlich in einer Zivilgesellschaft zu auszuleben.
Das Tierische und das Menschliche, Licht und Schatten, Sein und Schein bilden ein Spannungsfeld, das nicht aufgelöst werden kann. Eine Welt in Frieden ohne Kriege, Kriminalität, Folter und Ungerechtigkeit wird es nie geben. Weltverbesserer, die das Paradies auf Erden bringen wollen, bringen die Hölle. Realistisch anzustreben und erreichbar ist nur ein der Vernunft gehorchendes Gleichgewicht im Spannungsfeld zwischen Vernunft und Unbewußtem des Menschen.
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Alexander von Wyttenbach: Die Vernunft als Untertan des Unbewussten.
Betrachtungen, herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Peter A. Rinck.
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