eben den Kräften der Welten der Instinkte und des kollektiven Unbewußten mit seinen Archetypen ist der Mensch auch denen der eigenen, unbewußten Biographie ausgesetzt. Dies prägt entscheidend das Verhalten und die Interaktion des Menschen in seinem sozialen Umfeld. Mit diesen Bereich beschäftigt sich eine große Anzahl von Artikeln und Bücher, so daß hier nur einige für die Gesellschaft und der Politik relevante Aspekte angesprochen werden, zumal diese Seite der menschlichen Psyche dem zeitgenössischen Menschen eher bewußt ist. Die große Verbreitung der Psychotherapie zur Lösung vieler psychischer Probleme gibt Zeugnis davon.
Zentral in der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit im emotionalen Bereich ist das Problem des Selbstwertgefühls. Ein Urbedürfnis des Menschen ist die Liebe, nur die Liebe kann dem Menschen das Urvertrauen geben, das die Grundlage für ein menschlich ausgeglichenes, konstruktives Leben darstellt.
Die Begriffe der Jungschen Psychologie von Persona und Schatten haben nicht nur im Bereich der Psychotherapie eine grundlegende Bedeutung, sondern auch im Verhalten des gewöhnlichen Menschen in der Gesellschaft. Aus diesem Grunde soll diese Bipolarität hier erwähnt werden.
Im Rahmen seiner Sozialisation macht der Mensch die Erfahrung, daß es ihm nicht möglich ist, seine unbewußte Spontaneität unkontrolliert auszuleben. Die von der Kultur unerwünschten spontanen, unbewußten Regungen werden unterdrückt und somit verdrängt, sie werden zu einem, dem Menschen nicht bewußten Schatten.
Als Gegenpart pflegt und entwickelt er, mehr oder weniger bewußt, die Seiten seiner Persönlichkeit, die von der Umwelt rational erwünscht sind.
Er legt sich damit unbewußt eine Maske auf, die Persona (lateinisch = Maske): die Umwelt kann nicht die im Unbewußten verborgene, tiefere Persönlichkeit wahrnehmen, sondern nur die Persona. Das Spannungsfeld zwischen Persona und Schatten, die Bipolarität des Menschen wird umso stärker, je schwächer das Selbstwertgefühl ist. Der Schatten ist dem Einzelnen nicht bewußt zugänglich, sondern nur in seinen Erscheinungen: Im Wesentlichen ist unser Schatten das, was uns, in uns selber zuwider ist und wir auf andere projizieren.
Dieses Phänomen ist für das „überraschende“ Verhalten vieler Menschen verantwortlich, wenn „gute, unauffällige“ Familienväter sich an der eigenen Tochter vergehen oder wenn ein von der Gemeinde respektierter, tugendhafter Geistlicher dem Trieb folgend, auf sexuelle Abwege gerät.
Von besonderer Bedeutung ist dieses Phänomen, wenn sich angesehene, öffentliche Persönlichkeiten und Politiker schwerer Straftaten schuldig machen (zum Beispiel Korruption, Veruntreuung oder Falschaussagen). Dieser Gefahr sind in Politik und öffentlichem Leben besonders viele Menschen ausgesetzt, die sich für gute Sachen einsetzen: Mit diesem Einsatz versuchen sie unbewußt, ihren Schatten zu verbergen.
Der Dualismus von Persona und Schatten kommt in der Kunst, speziell in Literatur und Theaterkunst, immer wieder zum Vorschein, die Beispiele sind zahlreich.
Das aus der Literatur wohl bekannteste Paar dürften Goethes Faust und Mephisto sein, ein universales Meisterwerk der Dichtung, in dem dieses doppelte Gesicht des Menschen, der Dualismus von Persona und Schatten, Bewußtsein und Unbewußtes, in all seiner Vielfalt zur Darstellung kommt.
Als weiteres reizvolles Beispiel soll die Genialität von Lorenzo Da Ponte, dem Librettisten der Mozart-Opern, hervorgehoben werden. Don Giovanni und Leporello, Conte Almaviva und Figaro, aber auch Schikaneders Zauberflöte mit den Personen von Pamino und Papageno sowie Pamina und Papagena, stellen alle ein meisterhaftes Portrait der Protagonisten und ihrer Schatten dar. In Così fan tutte hat sich Da Ponte mit dem doppelten Rollentausch der Personen gar selber überboten. Dank der Vertonung dieser Texte, mit der dem Ohr schmeichelnden, liebenswürdigen, witzigen und dennoch tiefgründigen Musik Mozarts wurden diese Opern zu einer Sternstunde der Musik und der Kultur schlechthin.
Dieses Spiel mit der unbewußten Dualität des Menschen erklärt auch, warum völlig unwahrscheinlich anmutende Handlungen in Oper und Theater die Zuschauer immer wieder faszinieren und in ihren Bann zieht. Wenn man sich die Mühe macht die Theaterkunst unter diesem Gesichtspunkt zu analysieren, kann man verblüfft feststellen, wie der gleiche archetypische Literaturstoff über Jahrhunderte von verschiedenen Dichtern aufgegriffen und mit den unterschiedlichsten Überarbeitungen auf eine immer wieder ansprechende Art der Darstellung uns dargeboten wurde.
In einer Demokratie ist die Macht nur dann zu gewinnen, wenn der Machtsuchende ein Mensch ist, der sich so verhält, wie es von der Kollektivität gewünscht wird. Der Kandidat wird als Persona gewählt: dafür, wie er sein möchte und sich gibt – volksverbunden, debattierfähig, sozial, sportlich, telegen, Verteidiger der sozialen Gerechtigkeit, um nur einige Eigenschaften zu nennen.
Die große Anzahl angesehener, erfolgreicher Politiker, die in Skandale verwickelt sind, weil sie sich als korrupt erweisen oder sich im Privatleben unmoralisch verhalten — die Doppelmoral der Politiker — ist ein Ausdruck ihres Schattens. Ihr politischer Erfolg ist eine Begleiterscheinung des demokratischen Wahlverfahrens, denn der Wähler nimmt nur die Persona des Politikers wahr, sein Schatten bleibt dagegen verborgen.
Korrupte Politiker sind demnach eine natürliche Erscheinung der Mechanismen des Unbewußten, die in der Demokratie zum Vorschein kommen. Der Preis, den man für die Demokratie (oder auch nur eine Scheindemokratie) bezahlen muß, ist demnach leider hoch: Die Bürger lassen sich von den Politikern verführen, die ihnen eine Zukunft verheißen, die sie sich unbewußt wünschen, und wählen nicht Menschen, sondern ihre Masken.
Überraschenderweise wählen sie sie als Helden auch dann, wenn die Maske schon längst heruntergefallen ist und paradoxerweise lesen die gleichen Bürger, die solche Politiker gewählt haben, gierig ihre Skandalgeschichten in den Medien und zeigen sich dann betroffen und bestürzt.
Eine Verbesserung des demokratischen Systems kann nur durch ein größeres Bewußtsein und eine bessere Kenntnis dieses Phänomens des Unbewußten erreicht werden, damit die Bürger lernen kritischer zu sein und bei politischen Wahlverfahren mehr der Realität denn unbewußtem Wunschdenken zu folgen. Dies setzt allerdings eine Individuation in Sinne Jungs voraus.
Daß gerade heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, das Problem der doppelten Moral der Politiker moderner Demokratien besonders akut zutage tritt, ist in weitem Maße den Massenmedien zuzuschreiben. Da sie aus kommerzieller Notwendigkeit darauf angewiesen sind, die Gunst der Leser zu gewinnen, müssen sie das vermitteln, was die Masse der Leser erwartet und Emotionen erregt.
Dies ist nicht der wahre Mensch mit seinen Schatten, sondern was auf ihn projiziert wird. Die Projektion ist entweder der Inbegriff des Guten oder des Bösen, was dazwischen liegt, der wahre Mensch, der weder nur gut noch nur böse ist, ist für die Medien uninteressant. Solange Showstars oder Spitzensportler zu idealisierten Personae hochstilisiert werden, ist es noch harmlos und tolerabel.
Die Medien haben allerdings einen großen Einfluß auf die Gunst eines Politikers bei den Wählern. Besonders das Fernsehen ist in der Lage aus jedem Politiker eine Persona grata zur Persona non grata zu machen und umgekehrt.
Die zum Aufbau oder Abbau einer Politikerpersönlichkeit angewendeten Mittel sind probat und gut bekannt: hervorheben oder auslassen einer Aussage, aus dem Kontext entrissene und dadurch mißverständliche Zitate, tendenziöse Fragen um erwünschte Antworten zu bekommen, Verdächtigungen, Klatsch über das Privatleben.
Aus diesem Grund sind die Politiker in der Demokratie den Medien ausgeliefert und gezwungen das Spiel mitzumachen, denn profilierte Persönlichkeiten, die dazu nicht bereit sind, haben kaum politische Aufstiegs- und Wahlchancen. Selbst wenn dies ihnen bewußt wird, müssen Politiker hinnehmen, daß die Medien ihre Persönlichkeit zu einer Persona, einer Maske, verstellen (müssen).
Indem sie hemmungslos die Persona der Politiker geradezu züchten, statt nach ihrer wahren Persönlichkeit zu suchen, werden die Informationsmedien, die sich gerne hochtrabend als Gralshüter der Demokratie und der Moral aufspielen, in Tat und Wahrheit zu Totengräber der wahren Demokratie: Sie fördern die Regression der Massen. Die Gesellschaft braucht nicht Masken, sondern als Verantwortungsträger den wahren Menschen, mit seinen Tugenden und Schwächen.
Wichtig für den Politiker ist eine gute Politik — mit wem er ins Bett steigt, ist für den Bürger hingegen unbedeutend. Auch in diesem Zusammenhang ist die Kenntnis und ein größeres Bewußtsein des Phänomens seitens der Medienschaffenden die einzige Hoffnung, daß sie ihre Funktion in einer Demokratie verantwortungsvoller wahrnehmen können. In der letzten Publikation vor seinem Tode, hat der Philosoph Karl Popper zu Recht eine bessere Ausbildung und eine starke Standesorganisation der Medienschaffenden gefordert — mit einer internen deontologischen Kontrolle.
Besonderes Interesse als Ausdruck der menschlichen Bipolarität verdient es das Problem der Beziehung zwischen Macht und Sexualverhalten erneut aufzugreifen. Bei den Herrschern der Vergangenheit ist bekannt, daß sie neben der geehelichten Frau sehr oft Mätressen hatten.
Dies kann, zumindest teilweise, damit erklärt werden, daß die Ehen nicht aus Zuneigung zustande kamen, sondern aus der Opportunität von politischen Machtallianzen geleitet wurden. Doch auch von demokratisch gewählten Machthabern ist ausschweifendes Sexualverhalten bestens bekannt und weit verbreitet, die Beispiele sind zahllos.
Exemplarisch ist der Fall des New Yorker Gouverneurs Elliot Spitzer, der als Familienvater und als kompromißloser Saubermann gegen Kriminalität und Prostitution bekannt war und ertappt wurde, in Edelhotels mit Frauen Unsummen öffentlichen Geldes ausgegeben zu haben: Sein Schatten hat ihn eingeholt und seine Persona entlarvt.
Ähnlich ist der tiefe Fall des Weltbankpräsidenten und aussichtsreichen Kandidaten für die französische Präsidentschaft Strauss-Kahn, dem Sexskandale einer brillanten Karriere ein Ende setzten. Historisch bedeutungsvoll ist der Fall des mythischen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Mit einer intelligenten, sehr attraktiven Frau verheiratet, führte er daneben ein ausschweifendes Sexualleben, ohne sich der großen politischen Gefahren seines Verhaltens bewußt zu werden. Eine sexuelle Beziehung mit einer schönen deutschen Frau, die im Verdacht geriet mit der DDR-Staatssicherheitsdienst zusammenzuarbeiten, brachte das US-amerikanische FBI schier zur Verzweiflung.
Die Frage ist berechtigt, wie ein solches irrationales Verhalten hochintelligenter Menschen erklärt werden kann. Dies gelingt nur, wenn man seinen Schatten, seine tierische Natur in Erinnerung ruft. Man weiß, daß es in der Tierwelt männliche Leittiere, die Alphatiere gibt, die bestrebt sind möglichst vielen Nachkommen ihre Gene weiterzugeben, was der Arterhaltung dienlich ist.
Männer mit Macht als Alphatiere unterliegen demselben unbewußten stammesgeschichtlichen instinktiven Drang, möglichst viele Nachkommen zu erzeugen, und wirken auf Frauen besonders attraktiv und begehrenswert. Dieses Phänomen ist somit bei mächtigen Politikern als eine weit verbreitete natürliche Erscheinung mit einer großen Dunkelziffer zu verstehen.
Bemerkenswert ist auch die Beobachtung, daß ein solches irrationales Verhalten in der Öffentlichkeit nur dann zu einem Skandal wird, wenn es politische Gegner im Machtkampf aufgreifen, um den Gegner zu diskreditieren. Hier offenbart sich wieder die Bipolarität des Menschen, als ein mit Vernunft ausgestattetes, zur Tierwelt gehörendes Wesen.
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Alexander von Wyttenbach: Die Vernunft als Untertan des Unbewussten.
Betrachtungen, herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Peter A. Rinck.
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