u Beginn des 21. Jahrhunderts bietet uns ein Blick über die Menschheit und die Umwelt auf unserem Planeten ein besorgniserregendes Bild. Der Zusammenbruch der kommunistischen Ideologie bedeutete das Ende der unbewußt orientierenden Konfrontation zwischen den freien offenen Gesellschaften und den kommunistischen Diktaturen.
Die westlichen Staaten sind nach einer Phase des stürmischen Wirtschafts- und Wohlstandwachstums in eine nie dagewesene Schuldenfalle und wirtschaftlichen Krise geraten. Eine maßlose Ressourcenausbeutung und Umweltbelastung bedroht unseren Planeten. Die Entwicklungs- und Schwellenländer werden von unzähligen sozialen Unruhen, Kriegen und Terrorismus gebeutelt. Da drängt sich die banale Feststellung auf, daß der Mensch nicht von der Vernunft geleitet wird. Die westliche Welt ist orientierungslos, in der übrigen, unterentwickelten, namentlich islamischen Welt, breitet sich als Gegenpol und orientierende Kraft, der religiöse Fundamentalismus und zerstörerische Terrorismus aus.
Es stellt sich die Frage, wo die Welt der westlichen, offenen Gesellschaften eine neue Orientierung, einen neuen Weg finden kann. Dafür gibt es nur eine Antwort: gemäß dem Sokratischen „kenne dich selbst“ muß der Mensch zu seinem Unbewußten mit seinen Regungen zurückfinden.
In unserer angeblich so aufgeklärten Zeit wird als erstes eine wichtige Tatsache vergessen oder verdrängt, nämlich, daß der Mensch primär eine Tierart ist, die zur Gattung der Säugetieren gehört, mit all den damit verbundenen biologischen und physiologischen Bedürfnissen. Wie die übrigen Tiere ist der Mensch mit einem kollektiven Unbewußten und stammesgeschichtlich angeborenen Instinkten, Verhaltensmustern und Energiepotentialen ausgestattet, die die Natur zum Zweck der Arterhaltung vorgesehen hat und die unbewußt sein Leben leiten. Doch als höchstes Wesen der Tierwelt verfügt er zusätzlich über eine Ratio und kognitive Fähigkeiten, die ihn zu einem bewußten und lernfähigen Wesen machen.
Die Tatsache, daß das Unbewußte der Vernunft nicht zugänglich ist, verleitet ihn dazu, sein Verhalten als vernunftgeleitet zu betrachten. Tatsächlich benützt der Mensch seine Vernunft, um sein unbewußt bedingtes Verhalten mit Argumenten der Vernunft zu erklären und zu rechtfertigen. Die Forschungen der Verhaltenslehre, der Tiefenpsychologie, der Neurowissenschaften und der Genetik haben wichtige Erkenntnisse gewonnen, die menschliches Verhalten deuten und erklären können — Erkenntnisse, die aber von der Allgemeinheit der Menschen nicht wahrgenommen werden.
Anstatt einer offenen Kommunikation und eines Austausches der Erkenntnisse zwischen den verschiedenen erwähnten Forschungsrichtungen, herrscht eine Abschottung und nicht die wünschbare Interdisziplinarität. Dies ist insofern bedauerlich, als die Wahrnehmung der verschiedenen unbewußten Ebenen und Kräfte, die menschliches Verhalten leiten, die Lernfähigkeit und Evolution der Menschheit fördern und beschleunigen könnte. Viele Probleme unserer Gesellschaft und der Menschheit könnten im Lichte dieser Kenntnisse besser verstanden und nachhaltiger gelöst werden.
Die nun folgenden Überlegungen haben nicht den Anspruch einer Wissenschaft lichkeit, sondern dienen ausschließlich dazu, Brücken zwischen dem vorhandenen Wissen zu bauen. Bei der Analyse werden einige überraschende Einsichten möglich.
Es muß natürlich unterstrichen werden, daß der Mensch unendlich komplex und vielschichtig ist und damit eine umfassende Analyse seines Wesens kaum denkbar wird. So ist eine Trennung von Instinkt, Emotionen und Vernunft nur als Kunstgriff zum besseren Verständnis möglich. Die verschiedenen Ebenen des Unbewußten interagieren und überschneiden sich, womit unvermeidlich wird, daß gewisse Gesichtspunkte und Deutungen an verschiedenem Stellen der Betrachtungen wiederholt aufgegriffen werden. Es ist auch nicht möglich, alle mit dem menschlichen Unbewußten zusammenhängenden Verhaltensaspekte umfassend zu analysieren; es geht nur darum, das menschliche Spannungsfeld zwischen der Vernunft und seinem kollektiven Unbewußten, die Bipolarität des Menschen aufzuzeigen — sozusagen Hermann Hesses „Steppenwolf“, ein Spannungsfeld, das auch die Evolution der Menschheit antreibt.
Last, but not least: Mein Dank an Prof. Peter A. Rinck für seine fruchtbaren Anregungen und freundschaftliche Unterstützung.
Alexander von Wyttenbach
Mondacce, Minusio; Schweiz
April 2014
|
Alexander von Wyttenbach: Die Vernunft als Untertan des Unbewussten.
Betrachtungen, herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Peter A. Rinck.
|