uch wenn man davon ausgeht, daß der Mensch vom Unbewußten geleitet wird, darf man die Lernfähigkeit seines Unbewußten nicht übersehen. Die Lernfähigkeit des Menschen ist der Grundpfeiler der menschlichen Evolution.
Doch — wie lernt der Mensch? Mit seinen Hirnforschungen hat der spätere Nobelpreisträger Santiago Ramón y Cajal den Grundstein für unser beginnendes Verstehen komplizierter Hirnfunktionen gelegt.
Einen der besten Überblicke über seine Forschungen und Gedanken gab er 1894 in seiner Croonian Lecture an die Royal Society of London, wo er folgende Ansicht äußerte:
„Geistige Übung ermöglicht eine stärkere Entwicklung der Protoplasmasystems und der Nervenkollateralen im genutzten Gehirngebiet. Auf diese Weise können bereits bestehende Verbindungen zwischen Zellgruppen durch Vermehrung der endständigen Zweige der protoplasmatischen Anlagen und Nervenkollateralen verstärkt werden.“ [31]
Lange Zeit war dieses Postulat umstritten und nicht allgemein anerkannt, bis ein weiterer Nobelpreisträger, Eric Kandel, viele Jahrzehnte später bahnbrechende Erkenntnisse gewann, die für das Verständnis der Evolution der Menschheit einen großen Fortschritt darstellen [32].
Kandel unterschied zwischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Beim Kurzzeitgedächtnis interagieren die Nervenzellen auf externe Reize lediglich über chemische Botenstoffe. Wiederholt sich aber die äußere Anregung, verstärken sich ihre Synapsen, was zu einer dauerhaften Funktion beträgt — eine Voraussetzung des Lernens.
Diese Lernfähigkeit ist die Erklärung für die große Anpassungsfähigkeit des Menschen und bleibt bis ins hohe Alter erhalten. Seine „Plastizität“ erlaubt es dem Gehirns, sich anatomisch den Anreizen und den Anforderungen der Außenwelt anzupassen und damit zu „lernen“.
Jedermann hat die Erfahrung gemacht, daß Fähigkeiten die er sich einmal angeeignet hat (zum Beispiel ein Musikinstrument zu spielen oder eine Sportart zu betreiben) zwar bei Nichtgebrauch in Vergessenheit geraten, bei Bedarf jedoch rasch wieder abberufen werden können. Nichts ist für den Lernprozeß richtiger als der Volksspruch „Übung macht den Meister“, was auf die Mühen des evolutionären Lernprozeß hindeutet. Damit die anatomischen Anpassungen entstehen, müssen die Reize, die Informationen über längere Zeit wiederholt oder durch emotionale Erlebnisse verstärkt, das Gehirn erreichen. Einmalige emotionale Traumata und Katastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen, Kriege, Gewalt- und Morderlebnisse können durchaus den Menschen ein Leben lang im Gedächtnis prägen.
Der Musikunterricht gibt uns ein deutliches Beispiel dafür, wie sehr die Wiederholung wirkt. Man hat festgestellt, daß der Erfolg der Musikstudenten bei den Prüfungen direkt proportional zur Anzahl Übungsstunden ist und vom Alter abhängt, in dem das Studium begonnen hat. Dem Menschen ist somit die Möglichkeit gegeben, sein unbewußtes Verhalten zu prägen.
Er ist in der Lage Hemmschwellen gegen seinen Tötungsinstinkt aufzubauen; Voraussetzung für diesen Lernprozeß ist die Möglichkeit in einem Umfeld aufzuwachsen und leben zu können, in dem ein ansteckender Konsens der Gruppe darüber herrscht, daß man nicht töten darf. Ein Mensch der von Kindesalter an in einer Gesellschaft mit der Erfahrung aufwächst, daß Gewalt eine normale Überlebensstrategie darstellt und Totschlag zum Alltag gehört, wird diese Hemmschwelle trotz Verboten nicht aufbauen; äußerer von der Vernunft geleiteter Zwang reicht dazu nicht. In einer solchen Gesellschaft können erfahrungsgemäß kaum Ordnungskräfte aufgebaut werden, die tatsächlich willens wären das Tötungsverbot durchzusetzen. Viele Völker sind mit diesem Problem konfrontiert.
Die heutige Anschauung, die an eine mögliche Resozialisierung von Schwerverbrechern, besonders von gemeingefährlichen Sexualverbrechern und Wiederholungstätern glaubt, bleibt ein Wunschtraum. Wie stark der Einfluß der Indoktrinierung des Umfeldes mit seinem Gruppenverhalten auf das sich entwickelnde Gehirn sein kann, wird in Gemeinschaften deutlich, die Selbstmordattentäter hervorbringen: eine Beeinflussung des Unbewußten, eine Gehirnwäsche, die in der Lage ist, sogar den natürlichen Selbsterhaltungstrieb zu überwinden.
Die in fortgeschrittenen Zivilgesellschaften gesetzliche Ahndung des Mordes und Abschaffung der Todesstrafe ist nicht als Resultat eines Zwangs durch die Vernunft zu verstehen, sondern als Resultat eines kulturellen Lernprozesses und Ausdruck des erreichten Konsenses darüber im kollektiven Unbewußten der Bevölkerung.
Es ist allerdings zu unterstreichen, daß damit der Tötungsinstinkt im kollektiven Unbewußten nicht gezähmt ist und jederzeit wieder zum Vorschein kommen kann.
Eine weitere bedeutungsvolle Erkenntnis der Neurowissenschaft ist, daß die Anpassung der Anatomie des Gehirns sehr früh, bereits kurze Zeit nach der Geburt einsetzt, die Zuneigung der Mutter spielt in der Natur eine wichtige Rolle.
Experimente mit von der Mutter getrennten Affenbabys aus den sechziger Jahren haben gezeigt, daß sie neben dem Schoppen verzweifelt nach Kuschelersatz suchen und Verhaltensstörungen aufweisen.
Neue Beobachtungen bei Mäusen haben überraschende Ergebnisse gezeigt. Mäuse, die durch die Mutter besonders fürsorglich behandelt wurden, erwiesen sich in ihrem Verhalten im Vergleich zu vernachlässigten wesentlich reblausresistenter.
Diese physische Nähe und Fürsorge der Mutter hat bei den Mäusen zudem zu feststellbaren Veränderungen der Gene geführt, die an die nächste Generation vererbt werden.
Beim Kind beeinflußt die Liebe und Zuneigung der Mutter in dieser frühen Phase vor allem die emotionale Ebene und spielt bis zum dritten Lebensjahr eine entscheidende Rolle in der Heranbildung des Selbstwertgefühls des jungen Wesens, was natürlich sein Verhalten mitbestimmt.
Die Zuneigung und Führung durch den Vater in einem Alter, in dem das Kind sich mit der Außenwelt auseinanderzusetzen beginnt, trägt wesentlich zu einem stabilen seelischen, emotionalen und sozialen Gleichgewicht des Kindes bei. Zu den Werkzeugen zur Bildung des Gehirnes der Kleinkinder gehören auch anregende Spielzeuge. Leider produziert die Industrie oft Spielwaren, die vor allem die Erwachsenen ansprechen, die aber den Kindern nur geringe Gestaltungsmöglichkeiten bieten und sie schnell langweilen.
Zum Zeitpunkt der Einschulung sind im Gehirn des Kindes bereits wichtige Pflöcke für die Persönlichkeitsentwicklung für das ganze Leben gesetzt. Die heutige Familienpolitik, die im Sog der „Gender“-Ideologie, die den materiellen Wohlstand und die „Selbstverwirklichung“ beider Eltern zu Lasten der Bedürfnisse des Kindes fördert, zeugt von einer totalen Unkenntnis des menschlichen Wesens mit seinen unbewußten Bedürfnissen und vergißt, daß — wie in der Natur — auch für den Menschen die Sorge um die Nachkommen die wichtigste Aufgabe überhaupt ist.
Die Familie im traditionellen Sinn als Urzelle der menschlichen Gemeinschaft ist kein Kulturprodukt, sondern entspricht einer naturgegebenen Notwendigkeit für die Betreuung der Nachkommen – eine Betreuung, die so lange dauern muß, bis die Nachkommen in der Lage sind, sich alleine zu behaupten. Wenn man sie als überholt bezeichnet, vergißt man die Tatsache, daß die Betreuung der Nachkommen in der Tierwelt, zu der ja auch der Mensch gehört, seit Jahrtausende tief im kollektiven Unbewußten verankert ist und nicht einer Mode oder dem Zeitgeist entsprechen kann.
Dem Zeitgeist entsprechend stehen vor allem die heutigen Wunschvorstellungen an materiellen Gütern bei Erwachsenen im Vordergrund. Daß in unserer Gesellschaft ein unbewußtes Unbehagen gegenüber der Institution der Familie vorhanden ist, äußert sich in der Politik mit der Forderung nach Familien- und Kinderzulagen sowie Kindertagesheimen durch den Staat. Dabei wird übersehen, daß Bedürfnisse der Kinder im Bereich des Unbewußten und der Emotionen (mit anderen Worten nach Liebe durch Bezugspersonen) niemals mit Geld des Staates oder Institutionen wie Kinderkrippen gleichwertig befriedigt werden können.
Drogenkonsum, Gewaltbereitschaft und Hooliganismus der heutigen Jugend sind die Quittung einer Fehlentwicklung. Ein besonderes Problem für den emotionalen Lernprozeß der kommenden Generationen stellt die zunehmende Zahl von Scheidungskinder, Patchwork-Familien und wie erörtert, von alleinerziehenden Eltern dar, vom Wunsch homosexueller Paare nach Kinderadoption gar nicht zu sprechen. Die in der klassischen Familie enge fürsorgliche Bindung zwischen Eltern und Nachkommen — mit gemeinsamen Mahlzeiten — geht verloren, worunter die menschliche Bindungsfähigkeit als Erwachsener sich nur schlecht entwickeln kann; auch die natürliche Autorität der Eltern und der Erwachsenen leidet unter wechselnden Partnerbeziehungen.
Studien zeigen, daß Scheidungskinder allgemein zur Beliebigkeit ihrer affektiven Bindungen neigen, öfter unter Depressionen leiden und einem höheren Risiko von Ehescheidungen ausgesetzt sind, eine Hypothek, die sie das ganze Leben belastet. Man soll dabei natürlich die Vergangenheit nicht idealisieren, auch früher verlief in Familien das Zusammenleben oft nicht zum Besten. Meist erschwerten aber soziale und materielle Zwänge eine Scheidung und eine Trennung der Ehepaare, was die Eltern zu einem Modus vivendi der Toleranz zwang. Studien zeigen, daß eine nicht harmonische Familie — wenn keine Gewalt oder Alkoholismus im Spiel sind — für die Kinder immer noch vorteilhafter ist als der Schmerz einer Trennung der Eltern. Auch in der Vergangenheit gab es durch frühen Tod eines Elternteils alleinerziehende Eltern, doch ein Schicksalsschlag mit der entsprechenden Trauerverarbeitung, kann vom Kind besser verarbeitet werden als eine Trennung von Eltern im Streit.
Die Erziehung als Lernprozeß der Nachkommen ist ein unter Pädagogen und Experten höchst umstrittenes Kapitel, das wesentlich vom Zeitgeist geprägt wird und zu nie endenden, oft irrationalen politischen Auseinandersetzungen geführt hat und heute noch führt. Leider werden dabei die Erkenntnisse der verschiedenen psychologischen und naturwissenschaftlichen Studien der Forschung nicht zur Kenntnis genommen.
Wenn man den Lernprozeß, wie beschrieben, als dauerhafte Anpassung des Gehirns an äußere Anregungen versteht, wirft dies ein neues Licht auf die Anforderungen an die Erziehung. Wie auch bei den Tieren findet der Lernprozeß des Menschen nicht mit Anweisungen, sondern vor allem durch Nachahmung statt. Es ist damit eine große Herausforderung und Verantwortung für die Erwachsenen im allgemeinen und für die Eltern im besonderen, mit ihrer Zuneigung, Liebe und ihrem Verhalten dem Nachwuchs als Vorbilder zu dienen und ein optimales Umfeld und die notwendige Motivation für den Lernprozeß der Heranwachsenden zu bieten.
Man weiß, daß bei Tieren der Lernprozeß nur mit der Belohnung gefördert werden kann, man kann keinen Hund ohne eine Wurst in der Hand dressieren. Das ist beim Heranwachsenden nicht anders, die beste Förderung des Lernens ist eine Belohnung des Lernerfolges. Die herausragende Bedeutung der Vorbildfunktion der Eltern liegt auf der Hand. Daß es in unserer Gesellschaft ein Familienproblem gibt, wird in der Politik wahrgenommen. Will man unseren Nachkommen eine für das Leben bessere menschliche Grundlage liefern, kann nur eine Politik helfen, die nicht nur materielle Anreize, sondern auch sozial bessere Voraussetzungen für ein Familienleben schafft, das es den Eltern ermöglicht, den Kindern genügend Zeit zu widmen. Dies kollidiert heute leider mit der herrschenden „Gender“-Ideologie, die in der Erwerbstätigkeit die wichtigste Selbstverwirklichung sieht.
Neben der Familie hat mit der Einschulung auch das Bildungssystem eine wichtige Funktion in der Entwicklung des Menschen. Ein Pfeiler der schulischen Bildung ist die Sprach- und Lesekompetenz, denn, wie Carl Popper dies formulierte: „Gehirn macht Sprache, und Sprache macht Gehirn.“
Sprache ist eine Voraussetzung des abstrakten Denkens, die Klarheit in der Sprache ist die Klarheit der Gedanken. Um diese Kompetenz zu erreichen steht ein gründlicher, vertiefter Unterricht in der Muttersprache im Vordergrund.
In jeder Sprache liegt die Jahrhunderte zurückreichende Kultur eines Volkes verborgen. Nach wie vor bildet dabei für die westliche Kultur das Lateinische als Wurzel unserer Sprachen ein unterschätztes, unübertroffenes Mittel zur Förderung der Sprachkompetenz. Erst nach der Muttersprache können die heute notwendigen Kenntnisse der Fremdsprachen gelehrt werden.
Europäische Untersuchungen von Schülern haben einen erschreckender Mangel an Schreib- und Lesekompetenz ans Licht gebracht, und selbst die Sprachkompetenz der Medienschaffenden läßt heute mehr als nur zu wünschen übrig.
Einen zweiten Pfeiler zur Förderung der Entwicklung der menschlichen Gehirnfunktion bilden solide Grundkenntnisse der Mathematik. Auch hier sollen nicht zu viele, sondern vor allem solides Grundwissen und Kompetenzen vermittelt werden, die das mathematische Denken prägen.
Die zwei erwähnten Pfeiler der Bildung stellen das Rüstzeug dar, das den Menschen von den übrigen Lebewesen unterscheidet und den evolutionären Lernprozeß im Unbewußten ermöglicht. Fähigkeiten, die dem Menschen aber keine Orientierung geben kann, denn sein Denken und Verhalten wird von den Emotionen beeinflußt. Zugang zu seinem Unbewußten hat der Mensch nur in seinen Darstellungen und Offenbarungen. Eine schulische Ausbildung, die den heranwachsenden Jugendlichen nicht an die emotionale Ebene heranführt, ist einseitig und nicht menschenwürdig. Gerade in der Zeit einer Blüte der Wissenschaft und Technik darf auf die Orientierung des Menschen durch das Unbewußte mit seinen Gefühlen nicht verzichtet werden. Die humanistischen und künstlerischen Schulfächer sollten dabei eine unverzichtbare erzieherische Rolle spielen. Ganz allgemein gilt im heutigen Schulunterricht die Tendenz zu viel — wenn auch wünschenswertes — Wissen zu vermitteln, es werden zu viele Fächer gleichzeitig unterrichtet, was nicht ins Langzeitgedächtnis gespeichert werden kann.
Oft orientieren sich die Lehrprogramme zu sehr an die vermeintlichen Bedürfnisse des späteren Berufslebens. In einer Zeit der raschen Veränderung des Wissens wäre es wichtiger, Jugendlichen die Fähigkeit zu vermitteln, selbständig zu denken, zu beurteilen und zu wählen.
Die Entwicklung der Informationstechnologie mit der weltweiten Echtzeitübertragung von Informationen über das Internet stellt für die Menschheit eine Zeitwende dar, wie im 19. Jahrhundert die Erfindung der Dampfmaschine, die die Befreiung der Menschen von der körperlichen Arbeit eingeleitet hat.
Dieser rasche Fortschritt überfordert heute die meisten Menschen, doch dank ihrer Fähigkeit mit Unbekanntem umzugehen, sind sie in Zukunft sicherlich in der Lage, auch diese neue Situation zu meistern. Die neuen Technologien stellen effiziente Werkzeuge dar und sind, wie jedes Werkzeug, weder Segen noch Fluch, sondern — richtig angewandt — nur nützlich. Ihr Gebrauch will aber gelernt sein, denn sie bergen vielfältige Gefahren.
Hier soll an die Weisheit Buddhas erinnert werden, der die Sinnesempfindungen, die Wahrnehmung der Sinnesempfindungen, die Körperlichkeit, die Bewußtheit und die Regungen des Geistes als das Wesen des Menschen definiert hat, womit er auf intuitivem Wege die heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorwegnahm.
Entgegen der Theorie Descartes' stellt der Mensch eine Einheit von Körperlichkeit, Emotionen und Ratio dar. Es gibt kein rationales Denken ohne Phantasie und Beteiligung von Emotionen, also des Unbewußten, und keine Emotionen ohne Körpergefühle. Der Mensch lebt und kommuniziert mit seiner Umwelt nur mittels seiner Körpersinne und zwar nicht nur mit Hören und Sehen, sondern mit allen Sinneswahrnehmungen wie Riechen, Tasten, Hören und Körpersprache, die zur realen Kommunikation dazugehören.
Die audiovisuellen Medien ermöglichen nur eine beschränkte virtuelle, immaterielle Kommunikation und Interaktion: Die Informationen besitzen keine körperliche, gegenständliche Dimension, die sie zu einer Botschaft des Unbewußten und einer menschlichen Erfahrung werden lassen.
Solange Kinder und Jugendliche sich für kurze Zeit mit Computerspielen amüsieren oder ihre Neugier am PC befriedigen, ist wenig einzuwenden. Wenn sie aber regelmäßig mehrere Stunden am Tag vor dem PC, einem Handy, Tablet oder mit Computerspielen verbringen, gehen sie ein großes Risiko für die Entwicklung ihres Gehirnes ein.
Neueste Untersuchungen haben gezeigt, daß Kinder, die übermäßige Zeit vor Bildschirmen verbringen, einen kleineren Vorderhirnlappen entwickeln, eine besorgniserregende Erkenntnis.
Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind klar, ihre Sprachkompetenz verkümmert zum SMS und Computerjargon. Daß die heranwachsenden Generationen das Lesen eines Buches verlernen, ist ein weiterer fataler Verlust für ihre Entwicklung und Individuation.
Erschreckend und ein Beispiel des Realitätsverlustes ist die Antwort vieler Jugendlicher auf die Frage, wie viel Freunde sie hätten — die Antwort lautet, sie hätten hunderte von Freunden über Facebook gewonnen. Sie verwechseln dabei den Sinn des englischen Wortes „friend“ (Bekannter, seltener „Freund“) mit dem ähnlichen klingenden deutschen Begriff. Die sterilen und oberflächlichen Internet-Kontakte über Facebook entspricht nicht der wahren Interaktion unter Menschen, von Freunden. Sie lernen nicht mehr, was eine wahre Freundschaft unter Menschen in der Not bedeuten kann. Der Verlust des Bezugs zur Realität dürfte in der Regel wohl wichtiger sein als der Einfluß des Inhaltes der Spiele oder des Internets an sich. Der Ausdruck „Social Network“ ist dabei irreführend.
Nicht unerwähnt darf dabei auch bleiben, daß der Bildschirm ein gefährliches Suchtpotential hat. Noch gefährlicher wird es allerdings dann, wenn besonders Kinder und Jugendliche via Facebook mit Pornographie und Mobbing konfrontiert werden. Aus Deutschland ist ein Fall von pornographischem Mobbing gegen ein zwölfjähriges Kind bekannt, das es zum Selbstmord getrieben hat, wobei der Schuldige nicht identifiziert werden konnte.
Man kann sich Facebook als eine riesige Halle vorstellen, in die man über Internet eintritt und in der viele Menschen versammelt sind, die man nicht persönlich, also mit allen Sinnen, kennt. Verhängnisvoll ist dabei, daß man aus dieser Halle nie mehr austreten kann. Wenn man sich belästigt oder bedroht fühlt, kann man nicht mehr flüchten.
Besonders die Jugend, die zu Hause, im geborgenen Zimmer in diesen virtuellen Raum eintritt, ist sich dieser Gefahren nicht im Geringsten bewußt. Die Devise für Kinder und Jugendliche kann somit nur lauten: Bildschirm ja, aber nicht im eigenen Zimmer, sondern in einem gemeinsamen Raum, die Eltern müssen ihnen beim Gebrauch dieses außerordentlichen Werkzeugs helfen und beistehen. Die Zeit vor dem Bildschirm muß beschränkt werden, denn neue Untersuchungen haben gezeigt, daß eine übermäßige Benutzung der neuen multifunktionalen Handys mit Internet-Verbindung besonders bei Jugendlichen kognitive Schäden anrichten können.
Spätestens hier wird die Bedeutung der Familie für den Schutz des Nachwuchses vor den modernen Gefahren deutlich, mit Eltern die genügend Zeit ihren Kindern widmen müssen.
Es soll hier noch auf ein Phänomen hingewiesen werden, das sich besonders in den USA ausbreitet — die sich an Kinder wendende Werbung. Werbeagentur betreiben eine systematische Forschung über wie man Kinder ab dem zweiten Lebensjahr in ihren Konsumwünschen beeinflussen kann. Um das Konsumverhalten von Kinern zu beeinflussen, untersucht man mit Videokameras, wie Kinder, je nach ihrem Alter, auf verschiedene Werbung reagieren.
Wenn man bedenkt, daß kleine Kinder noch nicht in der Lage sind, Werbebotschaften kritisch zu beurteilen, entspricht dies einer Gehirnwäsche, die womöglich das ganze Leben konditioniert.
Ähnlicher Gefahren lauern in Computerspielen, die das Urteilsvermögen von kleinen Kindern überfordert. Die zunehmend bessere werdende digitale Technik bietet immer realistischere Darstellungen, die für das Kind die Unterscheidung zwischen realer und virtueller Welt erschweren. Solche das Gehirn des sich entwickelnden Kindes prägenden äußeren Reize erreichen heute ein erschreckendes Ausmaß, dessen zukünftige Folgen nicht abschätzbar sind.
Wichtig ist wahrzunehmen und zu wissen, daß eine Änderung des Verhaltens und eine Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens in der Gesellschaft nicht direkt mit aufgezwungenen Regeln der Vernunft zu erreichen ist, nicht mit Zwang, sondern nur durch den mühsamen Lernprozeß des Einzelnen auf der unbewußten Ebene seines Wesens.
Wie die Geschichte uns lehrt, wird es auf der Welt trotz der menschlichen Vernunft kaum gelingen, ideale Verhältnisse zu erreichen, denn im Unbewußten des bipolaren, im Spannungsfeld zwischen kollektiven Unbewußten und Vernunft lebenden Menschen lauern immer auch dunkle, tierische Anlagen, die der Vernunft nicht zugänglich sind und jederzeit an die Oberfläche treten können.
Die zahlreichen Genozide des letzten Jahrhunderts an den Armeniern und Juden oder auf den Philippinen und in Kambodscha, aber auch die organisierte Kriminalität in Mexiko mit über 30'000 Ermordeten und die zahlreichen grausamen Kriege der Gegenwart sind Beispiele der Möglichkeit des kollektiven Regression des Menschen ins Tierische.
Wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Lernprozeß des Gehirns schon kurz nach der Geburt einsetzt, wird verständlich, warum die Evolution der Menschheit so langsam fortschreitet, denn der Fortschritt findet im Rhythmus der Generationen statt, das Erlernte kann nur über die Generationen weitergegeben werden.
Ein weiteres Hindernis zur raschen Evolution der Zivilgesellschaft besteht darin, daß der Lernprozeß vor allem im kleinen Kreis, sozusagen im Stamm, stattfindet und das Erlernte nur langsam durch Ansteckung im Gruppenerlebnis zum allgemein akzeptierten, gesellschaftlichen Gut wird. Angesichts des rasanten wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, ist heutzutage vielen Menschen das Verständnis für den langsamen Rhythmus der geschichtlichen Abläufe abhanden gekommen.
Die Evolution eines Volkes von der Stammesgesellschaft — wie sie in vielen Entwicklungsländer noch heute herrscht — zu einer Demokratie, wie sie vor über 2000 Jahre von Perikles definiert und zur offenen Gesellschaft wurde, hat Jahrhunderte benötigt. In der offenen Gesellschaft ist ein allgemeiner Konsens über die Verhaltensregeln des menschlichen Zusammenlebens erreicht worden, die auf angeborene affiliative und kollaborative Instinkte zurückzuführen ist. Hier findet der beschriebene, angeborene Sinn für Gerechtigkeit, für „Fairneß“ in den Gesetzen ihren Ausdruck.
Im Zusammenhang mit den Religionen, wurde auf die Ideologien eingegangen, mit denen Politiker und Theoretiker mit Rezepten der Vernunft — zum Beispiel dem Marxismus-Leninismus — erfolglos mit grausamen Zwangsmaßnahmen die Welt verbessern wollten.
Dies ist heute leider nicht anders. Das Streben nach dem Paradies auf Erden im ewigen Frieden wird immer eine Utopie bleiben. Die UNO stellt lediglich einen wohlgemeinten, löblichen Versuch dar, einen weltweiten Konsens über Regeln eines besseren Zusammenlebens der Völker zu erreichen, ein Lernprozeß der Völker, der unendlich dauern wird. Wie die Untätigkeit der UNO anläßlich blutiger Bürgerkriege beweist, liegen zwischen ihren hohen Ansprüchen und der Realität Welten — die Doppelbödigkeit der internationalen Organisationen läßt an ihnen zweifeln.
31. Ramón y Cajal, Santiago. La fine structure des centres nerveux. London: Proc. R. Soc London B. 54: 444-467; 1894.
32. Kandel, Eric R. Biographical. In: Frängsmyr, Tore. Les Prix Nobel, The Nobel Prizes. Stockholm: The Nobel Foundation. 2001.
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Alexander von Wyttenbach: Die Vernunft als Untertan des Unbewussten.
Betrachtungen, herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Peter A. Rinck.
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