ie atemberaubenden Fortschritte und Errungenschaften der Wissenschaft, Forschung und Technologie haben die Illusion des Menschen genährt, er sei ein vernünftiges Wesen, das imstande ist alle Probleme der Menschheit mit rationalen Methoden zu meistern — der Mensch ist dem Wahn des Machbaren verfallen.
Er verdrängt und weist die Tatsache weit von sich, daß er in der Tat durch seine Instinkte und Archetypen, sein kollektives Unbewußte, das der bewußten Kontrolle der Vernunft entgeht, total beherrscht und geleitet wird. Völlig zu Unrecht wehrt sich der Mensch gegen eine solche Feststellung, denn gerade die Instinkte mit ihrer von der Schöpfung vorgesehenen, transzendenten Funktion der Arterhaltung im kollektiven Unbewußten, als der Vernunft unzugänglicher Hort der Regungen des Geistes und des Göttlichen, machen ihn zum höchsten Wesen auf Erden.
Das fehlende Bewußtsein über diesen Tatbestand hat ihn zum Materialisten werden lassen, wie er sich uns heute präsentiert und hat ihn der Orientierung durch sein Unbewußtes beraubt. Diese Orientierungslosigkeit stellt gerade in der Gegenwart mit den durch die Möglichkeiten der modernen Technologie weltweiten Umwälzungen eine große Bedrohung dar. Eine wahre Verbesserung der Conditio humana ist nur dann zu erwarten, wenn sich der vernünftige Mensch seines kollektiven Unbewußten und seiner Instinkte bewußt wird und in seinem Denken und Handeln berücksichtigt.
Die größte Bedrohung kommt von immer neuen, heilversprechenden, nur der Vernunft gehorchenden Ideologien, die verkünden, man könne alle Probleme der Gesellschaft mit rationalen Ursachen erklären und mit rational erdachten Maßnahmen (und mit öffentlichem Geld) lösen — Ideen, die die verhängnisvolle Eigenschaft besitzen, auf den Menschen äußerst verführerisch zu wirken. Die Geschichte lehrt uns, daß die Menschheit trotz ihrer Vernunft immer von einer Katastrophe zur anderen gewandert ist, von Krieg zu Krieg, von Völkermord zu Völkermord, von Revolution zu Revolution. Nicht zu Unrecht bezeichnet Karl Popper die Geschichte, wie sie uns in den Schulen gelehrt wird, als eine Aufzählung der menschlichen Verbrechen, eine Feststellung, die uns dazu bewegen sollte, endlich unsere Kenntnisse der Verhaltensforschung und der Tiefenpsychologie, der Seele in ihrer Bedeutung für die Menschheit zu würdigen und zu berücksichtigen. Die Evolution findet zwischen Instinkt und Vernunft statt, der Verstand ist ein Werkzeug für diesen Lernprozess. Ohne diesen Lernprozess auf der unbewußten Ebene ist kein wahrer Fortschritt möglich.
Hierbei muß man allerdings klar erkennen: Die Evolution ist ein langsamer und steiniger Weg der kleinen Schritte. So wünschenswert dies auch erscheinen mag, mögliche Hürden können nicht übersprungen werden; der Prozeß erfordert Ausdauer und Geduld. Daß der wissenschaftliche und technische Fortschritt sich exponentiell beschleunigt hat, läßt den modernen Menschen vergessen, daß die Zeitrechnung des Lernprozesses der Evolution sich nicht in Jahren oder Legislaturen mißt, sondern in Generationen und sogar in Jahrhunderten. Mit der steigenden Lebenserwartung der Menschen hat sich die Evolution eher verlangsamt als beschleunigt.
Die Demokratie, eine Idee, die zu Perikles Zeiten entstanden ist, hat Jahrtausende benötigt, bis sie die westliche Welt erobert hat. Sie ist eine Errungenschaft, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, denn sie stellt die beste Voraussetzung dar, um den anzustrebenden Lernprozess richtig zu ermöglichen. Die Entstehung der offenen Gesellschaft zeigt uns, daß echter Fortschritt in der Evolution der Menschheit möglich ist.
Wie bereits ausgeführt, stellen für die Tierwelt und den Menschen die im kollektiven Unbewußten verankerten angeborenen Instinkte und Verhaltensmuster das stammesgeschichtliche elementare Gerüst dar, das zur Erhaltung der Art vorprogrammiert ist. Der Mensch als höheres Wesen birgt jedoch in seinem Unbewußten, neben den Instinkten, wesentlich mehr: die Psyche mit ihrer Gefühlswelt (daß auch die höheren Tiere Gefühle empfinden ist wahrscheinlich, allerdings nicht unumstritten).
Wie bei den Instinkten muß man auch in der Gefühlswelt den Anspruch auf endgültige, beweisbare Antworten auf die vielen Fragen verzichten. Man muß sich damit begnügen, die Fakten zu beobachten und allenfalls zu deuten.
Schon David Hume hat auf den Einfluß der Gefühle auf menschliches Denken hingewiesen. Der Mensch kann zwar in der Forschung des Lebendigen weit fortschreiten, eine wissenschaftliche Erklärung des Phänomens Leben ist ihm jedoch mit rationalen Mitteln verschlossen. Die Studien C.G. Jungs über die menschliche Seele haben aus diesem Grund erwartungsgemäß zu einem Glaubenskrieg zwischen seinen Anhängern und Gegnern geführt. Jung selber hat diesen Krieg vorausgesehen, als er schrieb:
„Ich kann nur hoffen und wünschen, daß niemand Jungianer wird. Ich vertrete ja keine Doktrin, sondern beschreibe Tatsachen und schlage gewisse Auffassungen vor, die ich für diskussionswürdig halte … Ich verkünde keine fertige und abgeschlossene Lehre, und ich perhorresziere ‚blinde Anhänger’“. [29]
In seinen Erinnerungen schreibt er im Sinne Poppers:
„Eine wissenschaftliche Wahrheit war für mich eine für den Augenblick befriedigende Hypothese, aber kein Glaubensartikel für alle Zeiten.“
Wenn man diese Einschränkungen beherzigt, liefern neben der Verhaltensforschung Beobachtungen und Theorien der Tiefenpsychologie des kollektiven Unbewußten eine äußerst nützliche Hilfe, um das Verhalten der Menschen zu verstehen, eine Hilfe die unverzichtbar erscheint, wenn man die Phänomene unserer Gesellschaft, die Summe der einzelnen Individuen, analysieren will. Die Tragödie einer siebzig Jahre dauernden grausamen kommunistischen Unterdrückung der unbewußten Regungen der Völker zur Bildung des „neuen, sozialistischen Menschen“ sollte Beweis und Mahnung genug sein, daß man das Unbewußte der Menschen nicht vergewaltigen kann. Daß auch durchaus intelligente Menschen der rationalistischen Verführung erliegen können, sagt viel aus, über die Einseitigkeit der Weltanschauung unserer Zeit.
„Der Mensch kann nicht lange im bewußten Zustande oder im Bewußtsein verharren; er muß sich wieder ins Ichbewußtsein flüchten, denn darin liegt seine Wurzel.“ (Goethe an Riemer am 5. August 1810).
Die unterschiedlichen Haltungen der verschiedenen Menschen zur Außen- und Innenwelt bezeichnet Jung als Extraversion und Introversion. Über den extrovertierten Menschen schreibt Jung:
„Das seelische Leben dieses Typus spielt sich gewissermaßen außerhalb seiner selbst, in seiner Umgebung ab. Er lebt in und mit den andern; der Umgang mit sich selber ist ihm unheimlich.“
Über den Introvertierten sagt er:
„Der Umgang mit sich selbst ist ihm Vergnügen. Seine Welt ist ein sicherer Hafen, ein ängstlich ummauerter Garten vor aller Öffentlichkeit und zudringlicher Neugier geborgen. Seine eigenen Gesellschaft ist ihm die beste.“
Hinzu kommt seine weitere Unterscheidung, die der Orientierungsfunktionen, die dazu dienen sich bewußt mit der Welt auseinandersetzen, wovon je eine beim Einzelnen eine bevorzugte Rolle spielt — die Hauptfunktion, die anderen aber ebenfalls jedermann zugänglich sein können. Nach Jung sind diese Funktionen: das Denken, das Fühlen, die Empfindung und die Intuition.
„Der Empfindungsvorgang stellt im wesentlichen fest, daß etwas ist, das Denken, was es bedeutet, das Gefühl, was es wert ist, und die Intuition ist Vermuten und Ahnen über das Woher und das Wohin.“
Denken und Fühlen sind entgegengesetzte Funktionen, genauso wie Empfindung und Intuition. Mit anderen Worten bestimmt die Bedeutung dieser Funktionen für das einzelne Individuum wie es sich verhält (diese Funktionen sind bei den Introvertierten, wie bei den Extravertierten zu beobachten). Die Zuwendung zu einer minderentwickelten Funktion und zur unbenutzten Einstellung bedeutet eine Erweiterung des Bewußtseins durch Hinwendung zum Unbewußten. Es ist unnötig zu betonen, daß diese schematische Jungsche Klassifizierung nicht in reiner Form zu verstehen ist, sondern daß in der Realität die unterschiedlichsten Kombinationen vorzufinden sind.
Diese zwei Menschentypen wurden bereits in der Antike unterschieden und mit den Philosophen Plato und Aristoteles identifiziert. Der Dichter Heinrich Heine drückt dies so aus:
„Plato und Aristoteles! Das sind nicht bloß die zwei Systeme, sondern auch die Typen zweier verschiedener Menschennaturen, die sich seit undenklicher Zeit, unter allen Kostümen, mehr oder minder feindselig entgegenstehen ... Schwärmerische, mystische, platonische Naturen offenbaren aus den Abgründen ihres Gemütes die christlichen Ideen und die entsprechenden Symbole. Praktische, ordnende, aristotelische Naturen bauen aus diesen Ideen und Symbolen ein festes System, eine Dogmatik und einen Kultus.“ [30]
Sich an diese Erkenntnisse zu erinnern ist insofern wichtig, als im allgemeinen das Psychische reduzierend mit dem Bewußten gleichgesetzt wird. Der Grund für diese Tendenz liegt darin, daß das Unbewußte der direkten Beobachtung nicht zugänglich ist, sondern nur aufgrund seiner Auswirkungen gegenständlich gemacht werden kann. Heutzutage wird dadurch das Unbewußte selten oder nie zur Erklärung — positiver oder negativer — Erscheinungen in unserer Gesellschaft herangezogen, obschon es entscheidend ist.
So will man sozial unverträgliches Verhalten wie Kriminalität oder Suchtverhalten ausschließlich mit äußeren, rational erfaßbaren Umständen, wie Armut oder „verwahrloste soziale Verhältnisse“ — was das auch immer bedeuten soll — erklären, womit man sich der Illusion hingibt, alle Probleme aller Menschen unserer Gesellschaft ließen sich mit Gesetzen, staatlicher, psychologischer, sozialer Hilfe von außen, letztlich allein mit finanziellen Mitteln lösen.
Neben den angeborenen instinktiven Verhaltensmustern wie dem Gruppenverhalten mit seinem Normierungsdruck hat auch das Unbewußte und die Typologie der Menschen eine eminente Bedeutung für das Zusammenleben, namentlich in der Demokratie. Es ist eine Illusion zu glauben, daß der Wähler an der Urne verstandesmäßig entscheiden würde. Seine Entscheidungen werden vorwiegend vom Unbewußten geleitet.
Winston Churchill soll einmal gesagt haben, daß ihn im Parlament zwar viele Reden überzeugt haben, ihn jedoch nie umgestimmt hätten. Wie dies während des Naziregimes tragisch zutage getreten ist, beeinflußt die politische Propaganda die Bürger nicht direkt über die Richtigkeit der vorgebrachten Argumente — die leicht rational hätten widerlegt werden können — sondern nur indirekt über die Stimmung und das Gruppenverhalten, das die Propaganda bei den Wählern zu erzeugen vermag. Vor allem extravertierte, kommunikative Menschen kommen in den politischen Parteien und bei den Wählern gut an — Menschen, die also im allgemeinen eine geringere Neigung haben, mit sich selber umzugehen, zu reflektieren und selbstkritisch zu sein.
Nur so kann man verstehen, warum oft mittelmäßig gebildete, nicht besonders fähige Menschen, die sich oft selber widersprechen, bei den Wahlen sehr erfolgreich sein können. Dem deutschen Politiker Kurt Biedenkopf wird folgende Aussage zugeschrieben:
„Systeme, in denen die einzige formale Qualifikation auch für höchste Ämter darin besteht, mehrheitsfähig zu sein, haben eine eingebaute Tendenz zur Mittelmäßigkeit.“ (Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 25/26. Oktober 1987).
Glücklicherweise gibt es einige erfolgreiche Politiker, die das richtige Maß zwischen Extraversion und Introversion zu pflegen wissen und damit das Mittelmaß zu überschreiten.
29. Jung, Carl Gustav. Briefe. Band II. Olten: Walter-Verlag. 1972. 9.
30. Heine, Heinrich. Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Zweites Buch, Kapitel 4. 1835.
|
Alexander von Wyttenbach: Die Vernunft als Untertan des Unbewussten.
Betrachtungen, herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Peter A. Rinck.
|