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Alexander von Wyttenbach:
Die Vernunft als Untertan des Unbewussten


Kapitel 13
Die Verblendung des Machbaren

ie atemberaubenden Fortschritte und Errungenschaften der Wissen­schaft, Forschung und Technologie haben die Illusion des Men­schen genährt, er sei ein vernünftiges Wesen, das imstande ist alle Probleme der Mensch­heit mit rationalen Methoden zu meistern — der Mensch ist dem Wahn des Machbaren verfallen.

Er verdrängt und weist die Tatsache weit von sich, daß er in der Tat durch sei­ne Instinkte und Archetypen, sein kollektives Unbe­wußte, das der bewußten Kontrolle der Vernunft entgeht, total be­herrscht und geleitet wird. Völlig zu Unrecht wehrt sich der Mensch gegen eine solche Feststellung, denn gerade die Instinkte mit ihrer von der Schöpfung vorgesehenen, transzendenten Funk­ti­on der Arterhaltung im kollektiven Unbewußten, als der Vernunft un­zu­gäng­li­cher Hort der Regungen des Geistes und des Göttlichen, machen ihn zum höch­sten Wesen auf Erden.

Das fehlende Bewußtsein über diesen Tatbestand hat ihn zum Materialisten werden lassen, wie er sich uns heute präsentiert und hat ihn der Orientierung durch sein Unbewußtes beraubt. Diese Orientierungslosigkeit stellt gerade in der Gegenwart mit den durch die Möglichkeiten der modernen Technologie weltweiten Umwäl­zungen eine große Bedrohung dar. Eine wahre Verbesse­rung der Conditio humana ist nur dann zu erwarten, wenn sich der vernünf­tige Mensch seines kollektiven Unbewußten und seiner In­stinkte bewußt wird und in seinem Denken und Handeln berücksich­tigt.

Die größte Bedrohung kommt von immer neuen, heilverspre­chenden, nur der Vernunft gehorchenden Ideologien, die verkün­den, man könne alle Probleme der Gesellschaft mit rationalen Ur­sachen erklären und mit rational erdachten Maßnahmen (und mit öffentlichem Geld) lösen — Ideen, die die verhängnis­volle Eigen­schaft besitzen, auf den Menschen äußerst verführerisch zu wir­ken. Die Geschichte lehrt uns, daß die Menschheit trotz ihrer Ver­nunft immer von einer Katastrophe zur anderen gewandert ist, von Krieg zu Krieg, von Völker­mord zu Völkermord, von Revolution zu Re­volution. Nicht zu Unrecht be­zeich­net Karl Popper die Ge­schichte, wie sie uns in den Schulen gelehrt wird, als eine Aufzäh­lung der menschlichen Verbrechen, eine Feststellung, die uns dazu bewegen sollte, endlich unsere Kenntnisse der Verhaltensforschung und der Tiefenpsychologie, der Seele in ihrer Bedeutung für die Mensch­heit zu wür­di­gen und zu berücksichtigen. Die Evolution findet zwi­schen Instinkt und Ver­nunft statt, der Verstand ist ein Werkzeug für diesen Lernprozess. Ohne diesen Lernprozess auf der unbewußten Ebene ist kein wahrer Fortschritt möglich.

Hierbei muß man allerdings klar erkennen: Die Evo­lution ist ein langsamer und steiniger Weg der kleinen Schritte. So wünschens­wert dies auch er­scheinen mag, mögliche Hürden können nicht übersprungen werden; der Prozeß er­for­dert Ausdauer und Geduld. Daß der wissenschaftliche und technische Fort­schritt sich exponen­tiell beschleunigt hat, läßt den modernen Menschen ver­ges­sen, daß die Zeitrechnung des Lernprozesses der Evolution sich nicht in Jah­ren oder Legislaturen mißt, sondern in Generationen und sogar in Jahr­hun­der­ten. Mit der steigenden Le­benserwartung der Men­schen hat sich die Evolu­tion eher verlang­samt als beschleunigt.

Die Demokratie, eine Idee, die zu Perikles Zeiten entstanden ist, hat Jahr­tau­sende benötigt, bis sie die westliche Welt erobert hat. Sie ist eine Er­run­gen­schaft, die nicht hoch genug eingeschätzt wer­den kann, denn sie stellt die beste Voraussetzung dar, um den anzu­strebenden Lernprozess richtig zu er­mög­lichen. Die Entstehung der offenen Gesellschaft zeigt uns, daß echter Fort­schritt in der Evolu­tion der Menschheit mög­lich ist.

Vom Instinkt zur Psyche

Wie bereits ausgeführt, stellen für die Tierwelt und den Men­schen die im kol­lek­ti­ven Unbewußten verankerten angebore­nen Instinkte und Verhaltensmuster das stammesgeschichtliche ele­mentare Ge­rüst dar, das zur Erhaltung der Art vor­pro­gram­miert ist. Der Mensch als höheres Wesen birgt jedoch in seinem Unbe­wußten, ne­ben den Instinkten, wesentlich mehr: die Psyche mit ih­rer Ge­fühls­­welt (daß auch die höheren Tiere Gefühle empfinden ist wahr­­schein­lich, allerdings nicht unumstritten).

Wie bei den Instinkten muß man auch in der Gefühlswelt den Anspruch auf endgültige, beweisbare Antworten auf die vielen Fra­gen verzichten. Man muß sich damit begnügen, die Fakten zu be­obachten und allenfalls zu deuten.

Schon David Hume hat auf den Einfluß der Gefühle auf menschliches Denken hingewiesen. Der Mensch kann zwar in der Forschung des Lebendigen weit fortschreiten, eine wissenschaftli­che Erklärung des Phänomens Leben ist ihm jedoch mit rationalen Mitteln verschlossen. Die Studien C.G. Jungs über die menschliche Seele haben aus diesem Grund erwartungsgemäß zu einem Glau­bens­krieg zwi­schen seinen Anhängern und Gegnern geführt. Jung selber hat die­sen Krieg vorausgesehen, als er schrieb:

„Ich kann nur hoffen und wünschen, daß niemand Jungianer wird. Ich vertrete ja keine Doktrin, sondern beschreibe Tatsachen und schlage gewisse Auf­fas­sun­gen vor, die ich für diskussionswür­dig halte … Ich verkünde keine fertige und abgeschlossene Lehre, und ich perhorresziere ‚blinde Anhänger’“. [29]

In seinen Erinnerungen schreibt er im Sinne Poppers:

„Eine wissenschaftliche Wahrheit war für mich eine für den Au­genblick be­frie­di­gende Hypothese, aber kein Glaubensartikel für alle Zeiten.“

Wenn man diese Einschränkungen beherzigt, liefern neben der Ver­hal­tens­for­schung Beobachtungen und Theorien der Tiefenpsy­chologie des kollektiven Unbewußten eine äußerst nützliche Hilfe, um das Verhalten der Menschen zu verstehen, eine Hilfe die unver­zichtbar erscheint, wenn man die Phänomene unserer Gesell­schaft, die Summe der einzelnen Individuen, analysie­ren will. Die Tragö­die einer siebzig Jahre dauernden grausamen kommunisti­schen Un­terdrückung der unbewußten Regungen der Völker zur Bildung des „neuen, so­zi­ali­stischen Menschen“ sollte Beweis und Mahnung ge­nug sein, daß man das Unbewußte der Menschen nicht vergewalti­gen kann. Daß auch durchaus in­tel­li­­gente Men­schen der rationali­stischen Verführung erliegen können, sagt viel aus, über die Einsei­tigkeit der Weltanschauung unserer Zeit.

„Der Mensch kann nicht lange im bewußten Zustande oder im Bewußtsein verharren; er muß sich wieder ins Ichbewußtsein flüchten, denn darin liegt seine Wurzel.“ (Goethe an Riemer am 5. August 1810).

Psychologische Typen und Orientierungsfunktionen

Die unterschiedlichen Haltungen der verschiedenen Men­schen zur Außen- und Innenwelt bezeichnet Jung als Extraversion und Intro­version. Über den extro­vertierten Men­schen schreibt Jung:

„Das seelische Leben dieses Typus spielt sich gewissermaßen außerhalb seiner selbst, in seiner Umgebung ab. Er lebt in und mit den andern; der Umgang mit sich selber ist ihm unheim­lich.“

Über den Introvertierten sagt er:

„Der Umgang mit sich selbst ist ihm Ver­gnü­gen. Seine Welt ist ein sicherer Hafen, ein ängstlich ummau­erter Garten vor aller Öffentlichkeit und zudringlicher Neu­gier geborgen. Seine eigenen Ge­sell­schaft ist ihm die beste.“

Hinzu kommt seine weitere Unterscheidung, die der Orientie­rungsfunktionen, die dazu dienen sich bewußt mit der Welt ausein­andersetzen, wovon je eine beim Einzelnen eine bevorzugte Rolle spielt — die Hauptfunktion, die anderen aber ebenfalls je­dermann zugänglich sein können. Nach Jung sind diese Funk­ti­o­nen: das Denken, das Fühlen, die Empfindung und die Intuition.

„Der Empfindungsvorgang stellt im wesentlichen fest, daß et­was ist, das Den­ken, was es bedeutet, das Gefühl, was es wert ist, und die Intuition ist Ver­mu­ten und Ahnen über das Woher und das Wo­hin.“

Denken und Fühlen sind entgegengesetzte Funktionen, genau­so wie Emp­fin­dung und Intuition. Mit anderen Worten bestimmt die Bedeutung dieser Funk­ti­onen für das einzelne Individuum wie es sich verhält (diese Funktionen sind bei den Introvertierten, wie bei den Extravertierten zu beobachten). Die Zu­wen­dung zu einer min­derentwickelten Funktion und zur unbenutzten Ein­stel­lung bedeu­tet eine Erweiterung des Bewußtseins durch Hinwendung zum Un­bewußten. Es ist unnötig zu betonen, daß diese schematische Jung­sche Klas­si­fi­zie­rung nicht in reiner Form zu verstehen ist, son­dern daß in der Realität die unterschiedlichsten Kombinationen vorzu­finden sind.

Diese zwei Menschentypen wurden bereits in der Antike unter­schieden und mit den Philosophen Plato und Aristoteles identifi­ziert. Der Dichter Heinrich Heine drückt dies so aus:

„Plato und Aristote­les! Das sind nicht bloß die zwei Systeme, sondern auch die Ty­pen zweier verschiedener Menschennaturen, die sich seit undenkli­cher Zeit, unter allen Kostümen, mehr oder minder feindselig ent­gegenstehen ... Schwär­me­ri­sche, mystische, platonische Naturen offenbaren aus den Ab­grün­den ihres Gemütes die christlichen Ide­en und die entsprechenden Symbole. Praktische, ordnende, aristo­telische Naturen bauen aus diesen Ideen und Sym­bolen ein festes System, eine Dogmatik und einen Kultus.“ [30]

Sich an diese Erkenntnisse zu erinnern ist insofern wichtig, als im allgemeinen das Psychische reduzierend mit dem Bewußten gleichgesetzt wird. Der Grund für diese Tendenz liegt darin, daß das Unbewußte der direkten Beobachtung nicht zugänglich ist, sondern nur aufgrund seiner Auswirkungen gegenständlich ge­macht werden kann. Heutzutage wird dadurch das Unbewußte sel­ten oder nie zur Erklärung — posi­tiver oder negativer — Erscheinun­gen in unserer Ge­sell­schaft heran­gezogen, obschon es entscheidend ist.

So will man sozial unver­trägliches Verhalten wie Kriminalität oder Sucht­ver­hal­ten ausschließlich mit äußeren, rational erfaßbaren Umständen, wie Armut oder „verwahrloste soziale Verhältnis­se“ — was das auch immer be­deuten soll — erklären, womit man sich der Illusion hingibt, alle Probleme aller Menschen unserer Ge­sellschaft ließen sich mit Ge­setzen, staatlicher, psychologischer, so­zi­aler Hil­fe von außen, letztlich allein mit finanziellen Mitteln lö­sen.

Typologien und Demokratie

Neben den angeborenen instinktiven Verhaltensmustern wie dem Grup­pen­ver­hal­ten mit seinem Normierungsdruck hat auch das Un­bewußte und die Typo­logie der Menschen eine eminente Bedeu­tung für das Zusammenleben, na­ment­lich in der Demokratie. Es ist eine Illusion zu glauben, daß der Wähler an der Urne verstandes­mäßig entscheiden würde. Seine Entscheidungen werden vorwie­gend vom Unbewußten geleitet.

Winston Churchill soll einmal gesagt haben, daß ihn im Parla­ment zwar viele Reden überzeugt haben, ihn jedoch nie umge­stimmt hätten. Wie dies während des Naziregimes tragisch zutage getreten ist, beeinflußt die politi­sche Pro­pa­gan­da die Bürger nicht direkt über die Richtigkeit der vorgebrachten Ar­gu­men­te — die leicht rational hätten widerlegt wer­den können — sondern nur in­di­­rekt über die Stimmung und das Gruppenverhalten, das die Propa­ganda bei den Wählern zu erzeu­gen vermag. Vor allem extraver­tierte, kommuni­kative Menschen kommen in den politischen Par­teien und bei den Wählern gut an — Menschen, die also im allge­meinen eine geringere Nei­gung haben, mit sich selber umzuge­hen, zu reflektieren und selbst­kritisch zu sein.

Nur so kann man verstehen, warum oft mittelmäßig gebildete, nicht besonders fä­hi­ge Menschen, die sich oft selber widerspre­chen, bei den Wahlen sehr er­folg­reich sein können. Dem deutschen Politiker Kurt Biedenkopf wird folgende Aussage zugeschrie­ben:

„Systeme, in denen die einzige formale Qualifikation auch für höchs­te Ämter darin besteht, mehrheitsfähig zu sein, haben eine einge­baute Tendenz zur Mittelmäßigkeit.“ (Feuil­leton der Süddeut­schen Zeitung vom 25/26. Oktober 1987).

Glücklicherweise gibt es einige erfolgreiche Politiker, die das rich­tige Maß zwischen Extraversion und Introversion zu pflegen wis­sen und damit das Mittelmaß zu überschreiten.


Fußnoten

29. Jung, Carl Gustav. Briefe. Band II. Olten: Walter-Verlag. 1972. 9.
30. Heine, Heinrich. Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Zweites Buch, Kapitel 4. 1835.

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Alexander von Wytten­bach: Die Ver­nunft als Unter­tan des Un­bewuss­ten. Be­trach­tungen, her­aus­gegeben und mit einem Ge­leit­wort ver­sehen von Peter A. Rinck.
135 Seiten; €14,90 [DE]
BoD Norderstedt.
ISBN 978-3-7357-4122-6


Inhalt

Vorstellung

Geleitwort
Vorwort

Aphorismen

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14

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