ie Gleichstellung von Mann und Frau ist in unserer Gesellschaft ein aktuelles und brisantes politisches Thema. Während der letzten hundert Jahre wurde die Gleichstellung von Mann und Frau vor dem Gesetz in vielen staatlichen Verfassungen aufgenommen.
Leider wurde die Gleichstellung zu einem ideologischen Postulat, und wo die Ideologie anfängt, hört die kritische Reflexion auf und herrscht der Pseudorationalismus. Der oft stark emotionsgeladene und militante Feminismus erkennt die Komplexität der Beziehung zwischen dem männlichen und dem weiblichen Element des menschlichen Wesens nicht — oder will sie nicht erkennen, gibt damit ihrer Argumentation einen Beigeschmack und und leistet dem Streben nach Gleichstellung einen schlechten Dienst.
Die feministische Kritik an der patriarchalischen Gesellschaft fängt mit einer groben historischen Fehldeutung an, wenn sie behauptet, diese sei ausschließlich ein Produkt der Unterdrückung der Frau durch den Mann. Die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau in der patriarchalischen Gesellschaft hatte in Urzeiten konkrete Gründe, denn die zur Arterhaltung notwendige Nahrungsbeschaffung — und die damit verbundene Revierverteidigung — waren mit großen Risiken verbunden und erforderten Kraft und körperlichen Einsatz.
Es war somit zur Arterhaltung durchaus notwendig und zweckmäßig, wenn sich die Mütter in ihrer Hütte als geschütztem Ort vor allem um die Nachkommen kümmerten, während der Mann außer Haus war. Ein Kind ist bei und nach seiner Geburt vor allem auf den Schutz der Mutter angewiesen ist; die Rolle des Vaters gewinnt erst dann an Bedeutung, wenn das Kind anfängt, sich mit der Umwelt auseinander zu setzen.
Die Behauptung, diese Rollenverteilung sei von jeher nur einer kulturbedingten Unterdrückung der Frau durch den Mann zuzuschreiben, verkennt die natürlichen Gegebenheiten und die Notwendigkeit, aus der sie entstanden ist.
Richtig ist hingegen, daß diese ursprüngliche, strikte Rollenverteilung beim heutigen Stand der Zivilisation und des Fortschritts nicht mehr einer Notwendigkeit entspricht und einer Beeinträchtigung der Entfaltung der Frau gleichkommt. Sie hat nicht nur für die Frau, sondern auch für den Mann Nachteile für die Entwicklung der Persönlichkeit.
In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts haben in den westlichen, offenen Gesellschaften große Umwälzungen in Bezug auf die Rolle von Mann und Frau stattgefunden, deren Ausmaß allgemein kaum richtig wahrgenommen wird. Die Rolle der Frau in der Familie und in der Gesellschaft hat sich tiefgreifend verändert und die traditionell überlieferte Ordnung weitgehend in Frage gestellt, eine Entwicklung die durch die Möglichkeiten der Schwangerschaftsverhütung und der damit verbundenen Verhaltensveränderung im Sexualleben der Frau gefördert wurde.
Die beispiellose wirtschaftliche Expansion der Nachkriegsjahre hat die Nachfrage nach Arbeitskräften erhöht; steigende Ansprüche an Wohlstand und Konsum in Familie und Gesellschaft haben den Eintritt der Frauen in den Arbeitsprozeß der Wirtschaft begünstigt oder gar erzwungen.
Obschon die Gleichstellung von Mann und Frau ein zu befürwortendes Ziel darstellt, haben jedoch die feministischen Bewegungen ideologische Züge angenommen, die diesem komplexen Problemkreis nicht gerecht werden und den Prozeß sogar fehlleiten können.
Diese Bewegungen gehen in ihren Forderungen nach Gleichstellung von der Annahme aus, Mann und Frau seien, von der biologischen Funktion der Fortpflanzung einmal abgesehen, gleich — eine Annahme die zu undifferenziert ist.
Die oben bereits zitierte Psychoanalytikerin Marina Valcarenghi hat eine der schärfsten Analysen des männlichen und des weiblichen Prinzips des Menschen gemacht, die dieses Problem sehr differenziert betrachtet.
Ausgehend von den Theorien Jungs über Animus und Anima und über die Interpretationen von Marie-Louise von Franz [17] erörtert Valcarenghi in einer Analyse die drei Aktivitäten, die den Menschen charakterisieren: die Denktätigkeit, das Gefühl und der Instinkt.
Anders als in der klassischen Psychoanalyse definiert sie als Denktätigkeit die komplexe und vielfältige Art zu denken, die Gedanken untereinander zu verknüpfen und zu verbinden und sie mit der Erfahrung in Kontakt zu bringen.
Als Gefühlstätigkeit versteht sie die verschiedenen Möglichkeiten mit der Welt der Gefühle in Verbindung zu treten und sie auf die Ebene des Verhaltens zu reflektieren.
Mit Instinktaktivität meint sie das Triebpotential mit der Spannung, die zu ihrem Abbau führt. Sie unterscheidet dabei männliche und weibliche Aktivitäten, legt aber großen Wert auf die Feststellung, daß, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, beide Aktivitäten in Mann und Frau gleichzeitig vorhanden sind. Das bedeutet auch, daß der Mann seine weiblichen und die Frau ihre männlichen Aktivitäten fördern und weiterentwickeln können.
Das Spannungsfeld zwischen dem männlichen und dem weiblichen Prinzip ist in allen Mythen und Religionen der Kulturgeschichte immer ein zentrales Thema gewesen. C.G. Jung hat es mit dem Prinzip des Animus und der Anima näher untersucht und definiert.
Auf der Theorie Jungs aufbauend, ist Marina Valcarenghi einen wesentlichen Schritt weitergegangen. Mit männlichem und weiblichem Prinzip meint sie zwei unterschiedliche und komplementäre Arten des Menschen, sich zu artikulieren, nicht nur im Bereich der Gefühle, sondern auch im Bereich der Instinkte und des Denkens, die alle zusammen das Sein des Menschen ausmachen.
Von dieser Anschauung ausgehend sollen im folgenden die Bipolarität der Denkaktivität, der Gefühlsaktivität und der Instinktaktivität untersucht werden. Eine etwas ausführlichere Auseinandersetzung mit diesen Unterschieden lohnt sich vor allem deshalb, weil es die Augen auf die ideologischen Abwege der Politik und vieler der gegenwärtigen Frauenbewegungen öffnet.
Die archetypische Bedeutung der Begriffe des Männlichen und Weiblichen kann man auch als das Penetrative und das Rezeptive definieren; beide sind, wenn auch mit unterschiedlichen Modalitäten, bei Männern und Frauen zu treffen.
Das männliche Denken ist linear, es analysiert, unterscheidet, trennt, katalogisiert und definiert mit dem Ziel eines logisch-deduktiven Verstehens; es grenzt das Beobachtungsobjekt ab, versucht es zu durchdringen und zu besitzen, es sucht eine Verbindung zwischen Ursache und Folge herzustellen. Es baut eher auf — oder zerstört, als es wahrt. Es ist dem sequentiellen Arbeiten des Computers ähnlich.
Das weibliche Denken geht hingegen nicht von der Analyse des Einzelnen aus, sondern von der Betrachtung des Ganzen; es durchdringt nicht, sondern es findet nach innen statt, es nimmt das Ganze in sich auf. Das Objekt des Denkens verschwindet im Untergrund, wird verarbeitet und taucht mit den gezogenen Schlüssen auf verschlungenen Wegen plötzlich wieder auf. Die Wahrnehmungen werden sozusagen gespeichert, um wieder eine Analogie mit dem Computer herzustellen.
Männliches Denken sieht in einem Apfel die Schale, das Mark, das Kernhaus, die Samen; es weiß, daß das Mark süß schmeckt und eßbar ist, daß die Samen der Fortpflanzung dienen. Weibliches Denken sieht den Apfel als Ganzes, als sinnlich ansprechend, gut schmeckend, als begehrenswert.
Der Unterschied ist auch in der Art aufzuzeigen, wie ein Mann und eine Frau einem Fremden einen Weg auf unterschiedliche Weise erklären. Männliches Denken tönt etwa so:
"Fahren Sie etwa einen Kilometer weiter, biegen Sie nach dem Bahnübergang rechts ab, dann ist es die erste Straße links".
Beim weiblichen Denken tönt es anders:
"Fahren Sie ein Stück weiter, bei einem weißen Haus mit einer alten Eiche davor, biegen Sie rechts ab, dann die schmale Straße links".
Der Mann denkt logisch sequentiell, wogegen die Frau die verschiedenen Wahrnehmungen unbewußt aufnimmt (das Haus, seine Farbe, die Eiche, der schmale Weg) die ihr dann am Schluß für die Erklärung dienen.
Diese von Valcarenghi beschriebenen Unterschiede stimmen übrigens weitgehend mit den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung überein. Es ist entscheidend zu wiederholen, daß diese Denkarten nicht streng an das biologische Geschlecht gebunden sind, sondern in beiden Geschlechtern vorkommen. So ist, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß beim Mann das weibliche, und bei der Frau das männliche Denken durchaus vorhanden und kann gefördert werden.
In das Bild von Mann und Frau, das in der Kultur unserer Gesellschaft herrscht, paßt auch das falsche Stereotyp, Männer seien vor allem rational und Frauen emotional. Tatsächlich sind Männer und Frauen ähnlich Gefühlen unterstellt, nur gibt es eine männliche und eine weibliche Art der Gefühle, die — analog der Denkart — in unterschiedlichem Maße bei beiden zu finden ist.
Männliches Gefühl ist zielorientiert und wird dementsprechend organisiert, es aktiviert Energien, drängt zum Handeln, sich selber ins Spiel zu bringen und für das Erreichen des Ziels auch persönliches Risiko auf sich zu nehmen. Dies wird neuerdings mit dem Begriff der emotionalen Intelligenz definiert.
Weibliches Gefühl ist bewahrend, mehr dem Sein als dem Tun zugewandt, eher kontemplativ, darauf ausgerichtet einen Wert an sich darzustellen.
Valcarenghi verdeutlicht dies sehr einprägsam mit Bildern aus Religion und Mythologie. Beim Bildnis der Pietas steht Christus, der den Tod aus Liebe zu den Menschen akzeptiert, denen er sein Leben geopfert hat. Sein Gefühl ist zum Motor seines Lebens, seiner missionarischen Tätigkeit geworden.
Am Fuß des Kreuzes kommt ein anderes Gefühl zum Ausdruck: der Schmerz der Frauen, der einfach in seiner vollen Intensität da ist und dennoch eine große Kraft, die des Trostes und der Pietas, des Pflichtgefühls gegenüber der Familie, ausstrahlt.
In der griechischen Mythologie wird diese Bipolarität zum Beispiel mit den Figuren des Odysseus und der Penelope dargestellt. In diesem Fall kommt nicht nur die Komplementarität des männlichen und des weiblichen Gefühls zur Darstellung, sondern auch, daß beide Ausdruck einer großen Kraft sind: Sowohl Odysseus als auch Penelope haben während ihrer langen Trennung eine große, innere, emotionale Kraft bewiesen, die sich bei der Vereinigung als synergisch erweist.
Die Kunstgeschichte liefert uns unzählige Zeugnisse davon, welche Meisterwerke die Spannung zwischen Mann und Frau geschaffen hat.
Dem faszinierenden Problem des Gefühls bei Mann und Frau auf den Grund gehen zu wollen, führt in unserem Zusammenhang zu weit, wichtig ist vor allem, sich dessen im klaren zu sein, daß Männer und Frauen in gleicher Weise Gefühlen ausgesetzt sind, und analog dem Denken, im Menschen eine Bipolarität der Gefühle vorhanden ist.
Dies ist deshalb wichtig, weil Denken und Fühlen untrennbare Inhalte menschlichen Seins sind, die sich gegenseitig bedingen, und auch, weil diese Bipolarität das Verhalten der Menschen in der Gesellschaft, zusammen mit dem Instinkt, maßgeblich beeinflußt.
Von seltenen Ausnahmen abgesehen, zum Beispiel dem 4,5 Millionen zählenden Volk der Minangkabau auf Sumatra, sind fast alle Gesellschaften aus den bereits erwähnten historischen Gründen nach einem patriarchalischen Muster aufgebaut. Dieses Muster findet in vielen, vor allem monotheistischen Religionen ihren Niederschlag; besonders fanatisch sind in dieser Hinsicht die islamischen Gesellschaften.
Eine besonders beispielhafte frauenverachtende, grausame und schwer auszurottende Sitte einiger islamischer Länder in Afrika und dem Nahen Osten ist die der Beschneidung oder Verstümmelung des Geschlechtsteils der Frauen. Die Sitte ist so tief in diesen Kulturen verwurzelt, daß die Mütter, aus rational nicht zu rechtfertigenden Gründen, ihre Töchter dazu anhalten, sich dieser Verstümmelung zu unterziehen.
Auch wenn man unsere „aufgeklärte“ Gesellschaft genau betrachtet, besteht kein Zweifel darüber, daß in ihr das männliche Denken dominant und bestimmend ist und höher eingestuft und bewertet wird als das weibliche: Es besteht immer noch eine patriarchalische Mentalität. Diese ist dadurch gekennzeichnet, daß der Mann nur das männliche Denken entwickelt und fördert und das weibliche völlig vernachlässigt, und umgekehrt, daß bei den Frauen das männliche Denken in Erziehung und Ausbildung vernachlässigt wird.
Die Dominanz nicht nur der Männer, sondern des männlichen Denkens ist in unserer Gesellschaft für viele verheerende Erscheinungen verantwortlich. Das männliche logisch-sequentielle Denken neigt unter anderem zu Ideologien mit totalitärem Anspruch und zum rationalistischen, materialistisch betonten Wahn des Machbaren, wie es heute in Politik und Gesellschaft vorherrscht. Das Destruktive des männlichen Denkens steht auch hinter den politischen Machtkämpfen und Krieg.
Solange die patriarchalische Gesellschaftsform akzeptiert blieb, führte diese Ungleichheit kaum zu Konflikten unter den Geschlechtern, denn der mit dem männlichen Denken verbundene Machtanspruch der Männer war unbestritten. Mann und Frau hatten ihre vordefinierten Rollen zu erfüllen.
Doch mit den sozioökonomischen Umwälzungen der Gesellschaft hat sich der Machtanspruch der Frauen mit den feministischen Bewegungen immer stärker bemerkbar gemacht und zu Konfrontationen geführt. Dieser Kampf ist noch lange nicht ausgefochten.
In den fortgeschrittenen, industrialisierten Gesellschaften westlicher Kultur dürfte heute das Prinzip der Gleichstellung von Mann und Frau in der Theorie kaum bestritten sein. Daß jedoch dieses Postulat noch weit entfernt von seiner Durchsetzung ist, hat damit zu tun, daß die Bipolarität beider Geschlechter, von Mann und Frau, wenig bekannt und, vor allem, zu wenig bewußt ist, was den Kampf der Feministinnen fehlleitet.
Statt für eine Aufwertung des weiblichen Denkens in unserer Gesellschaft zu kämpfen, wollen die Feministinnen beweisen, daß sie im männlichen Denken genauso gut sind wie die Männer. Für ihren Kampf bedienen sie sich ausschließlich der Werkzeuge des männlichen Denkens.
Nicht zufällig unterdrücken viele erfolgreiche, prominente Politikerinnen ihre Weiblichkeit, was oft in ihrer äußeren Erscheinung, vom verbissenen Gesichtsausdruck bis zur Kleidung und Frisuren (meist eher männlich), als unbewußte Botschaft zum Ausdruck kommt.
Hier liegt der kapitale Fehler der Frauenbewegungen: Sie bemühen sich vor allem, die Männer im männlichen Denken zu übertreffen, was unbeabsichtigte negative Folgen nach sich zieht. Dadurch wird nämlich das wünschbare, sogar notwendige Ziel der Aufwertung des weiblichen Prinzips in der Gesellschaft klar verfehlt. Statt zu Synergien zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen kommt es zwischen Männern und Frauen zu einem Konkurrenzkampf, der allzu oft in offene Konfrontation mündet.
Besonders in den USA macht sich dadurch eine steigende Verunsicherung der Männer in ihrer Rolle bemerkbar, die sich als Krise in der Familie äußert. Die gesellschaftliche Gleichstellung der Frau setzt zweifelsohne die Förderung ihres männlichen Denkens in Erziehung und Bildung der Frau voraus, was jedoch nicht auf Kosten des weiblichen gehen sollte.
Die Förderung des männlichen Denkens der Frau reicht zur Überwindung der mannzentrierten Gesellschaft nicht aus. Um dieses Ziel zu erreichen, muß symmetrisch dazu auch das weibliche Denken im Mann gefördert werden, denn nur dadurch können sich Mann und Frau besser verstehen und harmonisch zusammenleben und, jeder in seiner Rolle, zusammen wirken.
17. Zum Beispiel: von Franz, Marie-Louise. Animus and anima in fairy tales. Edited by Daryl Sharp. Toronto: Inner City Books. 2002.
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Alexander von Wyttenbach: Die Vernunft als Untertan des Unbewussten.
Betrachtungen, herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Peter A. Rinck.
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