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Alexander von Wyttenbach:
Die Vernunft als Untertan des Unbewussten


Kapitel 3
Der Aggressionstrieb

iner der wichtigsten angeborenen Triebe ist der natürliche Ag­gressionstrieb. Eine Auseinandersetzung mit diesem Trieb beim Menschen ist naturgemäß ein heikles Unterfangen, da man rasch mit ethischen Fragen konfrontiert wird.

Methodisch ist es sehr schwierig, mit dem Instrument der For­schung einen ange­borenen Trieb abschließend zu bewerten. Da die Beweisführung nur auf deduk­tive Methoden zurückgrei­fen kann, muß sie umstritten bleiben. Es ist somit naheliegend, daß sich irrat­ionale, kulturelle, teil­weise werten­de Ansichten in die Diskussi­on einschleichen, die nicht den Kriteri­en des kritischen Rationalis­mus genügen. Zudem kommen bei der menschlichen Aggres­sion neben dem reinen Trieb auch noch ande­re unbewußte, der rationa­len Er­fassung entzogene Faktoren zum Tragen. Es ist schwie­rig, diesen Trieb von den ande­ren Kräften zu trennen.

Wegen dieser Schwie­rigkeiten a priori die Existenz eines ange­borenen Aggressionstrie­bes mit seinem instinkt­iven Zyklus in­ Fra­ge zu stellen, ist jedoch nicht fundiert. Die An­nahme eines solchen ange­borenen Triebes beim Menschen — als durch schlüssige Beob­achtung erhärtete Arbeitshy­pothese im Sinne Karl Poppers — hat bis zu seiner Falsifizierung somit ihre Berechti­gung.

Als Erklärung für die Aggression führen die Gegner der Triebtheorie die Frustrations-Aggressionstheorie sowie die Lern­theorie an — keine dieser Theorien steht jedoch im Gegensatz zur Triebtheorie oder schließt sie aus. Die Frustration kann sehr wohl als Auslösereiz bei vorhandener instinktiver Spontanbereitschaft zur Aggression führen und dem Gesetz der doppelten Quantifizie­rung folgen. Dies scheint sich durch die Feststellung zu bestätigen, daß nicht jeder Zustand der Frustration zu aggressiven Handlun­gen führen muß.

Die Gefahr, die Aggression nur auf diese Theorie zu reduzieren liegt in der ideologischen Illusion, man könne prä­ventiv durch Ver­meidung der Frustrationen aggressiven Handlun­gen zuvorkom­men. Ganz abgesehen davon, daß es realistischerweise kaum mög­lich sein dürfte, alle Menschen vor jeglichen Frus­trationsgefühlen zu bewahren, hätte man damit sicher nicht das Ag­gressionsproblem gelöst. Doch Gefahren einer Unterschätzung der Triebtheorie lau­ern auch bei der Lerntheorie.

Der Mensch als lern­fähiges Lebewesen kann durch Vorbilder von Aggression und Gewalt dazu animiert werden, diese nachzuah­men. Das kann sowohl durch reale menschliche Vorbilder gesche­hen (in der Familie, in der Schule oder in der Gesellschaft), als auch, leider immer häufi­ger, durch virtuelle Darstellungen über die modernen Medien wie Kino, Fernsehen und Internet. Gerade seine rationalen Fähigkeiten können den Menschen Mittel liefern, um seine spontanen Aggres­sionen besonders grausam auszuleben.

Ohne die Bedeutung und Notwendigkeit einer Prävention gegen diese Gefahren abstreiten zu wollen, verkennen diese Theorien die wesentliche Eigenschaft der Triebe und Instinkte, nämlich daß sie spontane Aktionspotentiale aufbauen, die jedes Lebewesen abbau­en sollte. Die Beseitigung möglicher Reize allein schafft noch nicht das Aggressionspotential ab. Es gilt hier wiederum festzuhalten, daß die Aggression als an­geborener Trieb in der Natur nicht Selbst­zweck ist, sondern daß sie in ihrer Urform dem Zweck der Erhal­tung der Art dient, einem höheren, übergeordneten, die Ver­nunft transzendierenden Zweck.

Man kann mit Konrad Lorenz einer Meinung sein, daß es in der Natur nicht das sogenannte Böse gibt. Alles in der Natur hat seinen tiefe­ren Sinn, auch dann, wenn es uns nicht immer leicht fällt, ihn ratio­nal zu verstehen und zu erfassen. Man unterscheidet vorerst in der Natur eine extraspezifische und eine intraspezifische Aggressi­on. Von Bedeutung für unser Thema ist nur die intraspezifi­sche oder artspezifische Ag­gression.

Aggression und das sogenannte Böse

Klarheit in den Begriffen ist auch Klarheit in den Ideen.


Das lateinische Wort ag­gredi bedeutet an eine Sache herange­hen, eine Sa­che anpacken. Es fällt den meisten Menschen schwer zu verstehen, daß Ag­gression nicht notgedrungen einen destrukti­ven Zug haben muß, sondern auch einen rein agonalen (grie­chisch: agon = Wett­streit; Kampf im Leben) haben kann, der der Natur und dem Men­schen dienlich ist.

Eibl-Eibesfeldt verweist darauf, daß dabei durchaus agonale Tu­genden wie Mut, Ritterlichkeit und Treue geschätzt werden. Daß man seinen Freund nicht im Stich läßt, beschreibt die Kampfpart­nerschaft, auf die sich diese Redewendung bezieht. Und wenn wir uns in Aufgaben verbissen, dann ist das sicher nicht schlecht.

Eibl-Eibesfeldt weist auch darauf hin, daß der Wettstreit in der Natur sehr oft ritualisiert wird, was bedeutet, daß es im artspezifi­schen Wett­streit zu einem Sieger und einem Verlierer kommen kann, ohne daß letzterer zu Schaden kommen muß, und daß trotz­dem das von der Natur angestrebte Ziel, wie die Erstellung ei­ner Rangordnung und der überlebensnotwendigen Organisation der Gruppe, erreicht werden kann.

Ein Beispiel einer ritualisierten agonalen Aggression unter Menschen ist der Wahlkampf in einer Demokratie: Es gibt Sieger und Verlierer, ohne daß die Verlierer physisch zu Schaden kom­men.

Es soll an dieser Stelle wiederholt werden, daß der ago­nale Ag­gressionstrieb dem eingangs beschriebenen Ablauf von Triebbereit­schaft, Appetenzverhalten, Triebhandlung und Endhand­lung folgt — mit dem Übergang von einem Unlust- zu einem Lustge­fühl.

Viele Kritiker unterstellen der Verhaltensfor­schung, mit der Triebhaftigkeit der Aggression, Krieg, Folter und jegliche Grau­samkeit, zu denen Menschen fähig sind, ethisch zu rechtfertigen. Hierzu gibt es keine Grundlage.

Kritiker der Verhaltensforschung haben sich in die Behauptung verstiegen, Lorenz wolle mit seiner Theorie der natürlichen Ag­gression die Naziverbrechen rechtfertigen — was jeder Grundlage entbehrt. Denn auch hier gilt, daß der Mensch dank seiner kulturell­en Evolution durchaus in der Lage ist, zu lernen und seine Ag­gressivität zu beherrschen oder zumindest in vernünftige Bahnen zu lenken.

In seinem Buche „Das sogenannte Böse“ schreibt Lorenz [11]:

„Wir haben guten Grund, die intraspezifische Aggression in der gegenwärtigen kulturhistorischen und technolo­gischen Situation der Menschheit für die schwerste aller Gefahren zu halten. Aber wir werden unsere Aussichten, ihr zu begegnen, gewiß nicht da­durch verbessern, daß wir sie als etwas Metaphysi­sches und Unab­wendbares hinnehmen, vielleicht aber dadurch, daß wir die Kette ihrer natürlichen Verursachung verfolgen. Mit anderen Worten müssen wir der Tatsache des natürlichen Aggressi­onstriebes ins Auge schauen und versuchen seine destruktiven Fol­gen zu verhin­dern. Mit der ethisch verbrämten Vogel-Strauß-Einstellung, daß der stammesgeschichtlich angeborene Aggressi­onstrieb nicht sein darf und unterdrückt werden soll, weil er böse ist, sind die mit ihr verbundenen Probleme nicht zu lösen.“

Aggression als Urkraft der Evolution

Bevor wir auf einige spezifische, uns besonders interessierende Formen der Aggression eingehen, die für den Menschen gesell­schaftsrelevant sind, soll versucht werden, den Begriff der Aggres­sion etwas genauer zu analysieren.

Wenn man das Wort Aggression im erwähnten etymologischen Sinn des aggredi — an die Sache her­angehen, die Sache anpacken — versteht, dann liegt es nahe, diesen Trieb der natürlichen Energie der Urkraft gleichzusetzen, die den Menschen in seiner Evolution nach vorne treibt.

Evolution bedeutet gemäß der Definition Hayeks einen Lern­prozeß, der zwischen Instinkt und Vernunft stattfindet. Die destrukt­ive Aggression kann, im moralischen Sinn, als die schädliche Offenbarung einer evolu­tionären Urkraft verstanden werden, die auch positive Ziele anstre­ben kann.

Wenn wir nun annehmen, daß die Evolution des Men­schen ei­nem angeborenem Aktionspotential, einem stammesge­schichtlich verankerten Trieb zuzuschreiben ist, liegt es nahe, die­sem dieselbe Gesetzmäßigkeit wie die anderer instinktiver Zy­klen zuzuordnen: spontanes Anwachsen eines Aktionspotentials, Anstrengung, Errei­chen des Zieles und von Lust begleitetes Er­folgserlebnis, gefolgt von der Entspannung.

Das Leben des Menschen besteht so aus einer Reihe von Abfol­gen des spontanen Energiezyklus, deren spontane energetische Dy­namik sich der Vernunft entzieht.

Nach der durch einen Erfolg erreichten Ent­spannung baut sich spontan ein neues Aktionspotential auf, ein Drang, neue Ziele an­zustreben und die Lust des Erfolgserlebnisses zu suchen. Im Men­schen sind, mit anderen Worten, angeborene, spontane Energien am Werk, die ihn zu einem aktiven, schöpferi­schen Wesen machen können.

Wie im Kapitel über die Verwöh­nung bereits erwähnt, entsteht hier für den Menschen eine unlösba­re Spannung zwischen unbe­wußten, angeborenem Verhaltensmus­tern und seiner Vernunft. Die Vernunft strebt nach einem idealen Zu­stand — des Glücks, des Wohl­standes, der Sicherheit —, ist jedoch die­ser Zustand erreicht, stellt sich nach kurzer Zeit unweigerlich und spontan erneut ein Unlust­gefühl ein, das ihn wieder antreibt neue Ziele anzustreben.

Zufrieden ist der Mensch nicht, wenn er einen angestrebten Zu­stand des Glücks erreicht hat, sondern wenn es ihm die Umstände ermöglichen, immer wieder dieses angeborene Verhaltensmuster auszuleben. Wie dies schon Goethe so trefflich ausgedrückt hat: „Streben ist alles, nichts der Ruhm!“

Wie relevant der Konflikt zwischen angeborenem Verhaltens­muster und seiner Vernunft für den einzelnen, aber auch für Gesell­schaft und Politik ist, wird uns noch weiter beschäftigen.

Explorative Aggression und Neugier

Eine in der Natur wichtige Form der Aggression, die eine Notwen­digkeit der Arterhaltung darstellt, ist die sogenannte explorati­ve Aggression, wie sie von Eibl-Eibesfeldt beschrieben wurde: Je­des Lebewesen in seiner Entwicklung tastet sich mit kleinen, provoka­tiven „Angriffen“ in seiner Umwelt bis an die Grenzen her­an, wo es auf Widerstand stößt Dieses Vorgehen gilt der Erken­nung der Grenzen der eigenen Behauptungsmöglichkeiten, ein explorativ­es Vorgehen, das den Überlebenschancen dient.

Ein Lebewesen, das seine Grenzen nicht kennt, setzt sich un­weigerlich Gefahren aus, die sein Leben bedrohen. Die explorative Aggression ist sehr gut bei Kindern zu beobachten, die die Erwach­senen provozieren. Auch das Kind verspürt die Notwendigkeit zu wissen, bis wohin es gehen darf und welche Stel­lung in der Famili­engemeinschaft es einnimmt.

Wenn man die Fol­gen der antiautoritären Erziehung betrachtet, liegt der enorme Schaden im besonderen darin, daß das Kind das Verhalten der ex­plorativen Aggression in der Familie nicht üben kann und mangels eines Widerstandes seitens der Eltern oder der Erwachsenen nicht in die Lage versetzt wird, seine Grenzen zu er­kennen und sich in die Rangordnung eines sozialen Gefüges einzu­ordnen. Es schwebt ohne Bezugspunkte im luftleeren Raum, es hat keinen festen Bo­den. Daß dieser Mangel an Übung und Gewohn­heit des sich Ein­ordnens und des Erkennens der eigenen Grenzen in der Gesell­schaft zu großen Problemen führen muß, liegt auf der Hand.

Gewalt, Vandalismus, Wandsprayerei­en und Drogen sind ein verzweifelter Versuch der Jugend, endlich Grenzen zu spüren, auf Widerstand zu stoßen Schuldig sind dabei nicht die Jugendlichen, sondern die Erwachsenen.

Da die Erfah­rung der eigenen Grenzen bereits in frühester Kindheit gemacht und gelernt werden muß, ist eine spätere Erzie­hung nur sehr schwer möglich. Nur so erklären sich der geringe er­zieherische Er­folg der Strafmaßnahmen gegen straffällige Jugend­liche und die hohe Rezidivquote. Der grobe Denkfehler der antiau­toritären Ideo­logen war der, daß sie bei der Aggression nur die Fru­strations-Aggressionstheorie und die Lerntheorie und nicht aber die Triebtheo­rie in Betracht gezogen haben.

Der Trieb der explorativen Aggression — das Erforschen der ei­genen Grenzen — dürfte zusammen mit der agonalen Aggression in der Suche des Menschen nach risikoreichen Aktivitäten mit im Spiel sein, wie sie zum Beispiel bei Abenteurern oder Extremsport­lern zu beobachten sind.

Nahe verwandt mit der explorativen Aggression ist die Neugier, die Intellectual curiosity, ein spontanes Aktionspotential, das die Lebewesen zu Erforschungen und Entdeckungen antreibt, ein Trieb der auch bei Tieren beobachtet werden kann. Auch diese stammes­geschichtlich, genetisch verankerte Form des Instinktes trägt der Arterhaltung bei. Den Tieren dient er zur Erschließung ihrer Revie­re und neuer Nahrungsquellen, beim Menschen äußert er sich im Drang nach Wissen. Da es sich um ein Aktionspotential handelt, muß es abgebaut werden, der Übergang von der Neugier zur Ag­gression kann somit ein fließender sein.

Der Wettbewerb oder die agonale Aggression

Die bereits erwähnte agonale Aggression, der artspezifische Wett­bewerb, hat in der Natur den primären Zweck, den genetisch be­trachtet stärkeren, überlebensfähigeren Individuen einer Popula­tion die größeren Chancen der Fortpflanzung einzuräumen. Die agona­le Aggression ist ein Beispiel dafür, daß der Aggressions­trieb in der Gesamtwirtschaft der Natur zu einem positiven Zweck einge­setzt wird. Dadurch, daß der Mensch durch die Reflexion imstand­e ist Spielregeln für sein Handeln festzusetzen, kann er diesen Trieb zu seinem Wohl einsetzen. Der Wettbewerb im Kampf zur Selbstbe­hauptung kann ihn dazu befähigen, Höchstleistungen zu er­bringen.

Nicht nur, aber vor allem im ökonomischen Bereich ist dies be­deutungsvoll. Es ist kaum zu bestreiten, daß der Wettbe­werb in der Marktwirtschaft den Menschen ein besseres Da­sein er­möglicht hat; er hat ihn nicht nur von der Nahrungsknapp­heit be­freit, sondern ihm auch sonst unendlich viele Güter ver­fügbar ge­macht. Der Wettbewerb ist denn auch nichts anderes als ein aggres­sives Verhalten im ökonomischen Bereich.

Doch der agonale Aggressionstrieb, der Drang den anderen zu übertreffen, war auch immer die Kraft der geistigen und künstleri­schen Schöp­fung.

Wenn dieses aggressive Verhalten, dieses aggre­di, die ethi­schen Spielregeln der Freiheit einhält, Regeln die besa­gen, wie Karl Pop­per dies ausdrückte, daß die Bewegungsfreiheit der eigenen Faust bei der Nase des Nächsten aufhört, dann ist der agonale Aggressi­onstrieb segensreich und der Motor des Fort­schritts.

Freilich kann die Marktwirtschaft nur dann funktionieren, wenn die Ver­nunft Gesetze erfindet, damit alle Kontrahenten gleiche Waffen besitzen und verhindert, daß der Stärkere den Wettbe­werb fäl­schen kann. Der ökonomische Wettbewerb wird nur dann ethisch fragwürdig und gibt zu berechtigter Kritik Anlaß, wenn die­se Re­geln nicht gegeben sind oder wenn sie nicht respektiert wer­den.

Gerade hier liegt der Schwachpunkt der Demokratie: In je­der De­mokratie können sich Interessengruppen zu Machtfaktoren her­anbilden, die den Wettbewerb aus­schalten können.

Die gleiche Gefahr liegt in der Möglichkeit, daß einzelne Indi­viduen oder Interessengruppen aus eigenem Interesse mit ih­rer Macht oder mit Korruption die vorgesehenen Überwachungsme­chanismen zur Einhaltung der Gesetze behindern. Diese Mißbräu­che als Fehlleistung des demokratischen Systems im Umgang mit dem menschlichen Aggressionstrieb machen sich ihre Kritiker zu­nutze, um die Demokratie abschaffen zu wollen.

Sie übersehen dabei, daß die moralisch anfällige, agonale Ag­gression des Wett­bewerbes durch die noch fragwürdigere, zur ab­soluten Macht ent­artete Aggression der Diktatoren ersetzt würde. Ohne sich übermäßige Illusionen darüber machen zu können, daß die negativen Seiten des agonalen Aggressionstriebes völlig neutra­lisiert werden könnten, führt der Weg zu einer Verbesserung des Schicksals der Menschheit nicht über eine hilflose moralische Ver­urteilung des Wettbewerbs und den Versuch, den Trieb zu überwin­den, sondern, im Sinne von Konrad Lorenz, über einen vernünfti­gen Umgang mit ihr.

Die agonale Aggression birgt auch weitere große Ge­fahren für den Menschen. Jedes Tier besitzt im Wettstreit mit sei­nesgleichen zur Arterhaltung nur die von der Natur vorgesehen Kräfte und Kampfmittel, und diese sind so bemessen, daß sie das natürliche Gleichgewicht in der Natur wahren. Kognitive Fähigkei­ten haben es dem Menschen erlaubt, Werkzeuge zu schaffen, die ein destruk­tives Potential bergen, das weit über das von der Natur vorgesehe­ne geht und das natürliche Gleichgewicht bedrohen kann.

Die Umweltzerstörung durch wirtschaftlichen Wettbewerb und überhöhte Ansprüche an Wohlstand sind ein Beispiel dafür — oder zum Beispiel auch die technischen Kampfmittel, die im kriegeri­schen Kampf angewendet werden können.

Aggressionstrieb und Macht

Um die Arterhaltung zu sichern, leben viele Tierarten in Grup­pen, wie Rudeln, Herden oder Schwärmen. Dies dient der Verteidi­gung gegenüber Feinden und Konkurrenten oder des nötigen Lebens­raums in der Form des Reviers. Damit diese Funktion zur Arterhal­tung gewährleistet werden kann, braucht die Gruppe eine in­nere Ordnung mit einem starken Leittier, das mittels der agonalen Ag­gression ermittelt wird.

Dieses System trifft auch für den Menschen zu: Der Ursprung der menschlichen Gesellschaft waren die Familie und der Stamm. Wie der Stamm kann die menschliche Gesellschaft nicht ohne Ord­nung auskom­men. Sie beruht auf einer Machtverteilung, dem „Sieg“ des Stärkeren über den Schwächeren.

Doch ohne Regeln des Zusam­menlebens, wie sie der demokrati­sche Rechtsstaat garantiert und die von allen akzeptiert werden, bieten die kognitiv-reflektiven Fähig­keiten einigen Menschen Sie­gesmöglichkeiten, die jenseits der na­türlichen Notwendigkeit einer Ordnung liegen. Machtmenschen (sogenannte „Siegertypen“) nei­gen dazu, die Lust des Sieges und der Macht immer neu suchen. Bei steigender Machtposition in der Politik oder in der Wirt­schaft sind diese Menschen in der Lage, den Sieg als Lust mit im­mer we­niger Anstrengung zu erreichen; die Werkzeuginstinkte der Aggres­sion werden dadurch ungenügend abgebaut, und das Lust­gefühl des Erfolges kann zur Sucht werden, die sie abhängig macht.

Die­ses durch die Gesetze des instinktiven Zyklus programmier­te Ver­halten mit dem Mechanismus der doppelten Quantifizierung kann Verhaltensmuster erklären, die mit der reinen Vernunft nicht erklär­bar sind — zum Beispiel, daß in der Politik absolute Machtha­ber und Diktato­ren nicht davon lassen können, ihre Macht jen­seits jeder Notwen­digkeit mit immer grausamer werdenden Metho­den bis zum eige­nen Untergang und Tod ad absurdum auszubauen ver­suchen. Ziel des Handelns ist dann nicht mehr die Macht zum Re­gieren, son­dern der Machterhalt an sich. Mit der Vernunft ist auch die Ge­wohnheit korrupter Machthaber nicht zu erklären, die Milli­arden auf ausländi­schen Konten horten, die sie zum eigenen Ge­brauch gar nicht benötigen. Geld wird dabei nur zu einem weiteren Symbol der Macht.

Das gleiche Verhaltensmuster ist in der westlichen kapitalisti­schen Marktwirtschaft zu beobachten. Die Triebfeder für die Bil­dung immer größerer wirtschaftlicher Konzerne ist dabei oft nicht mehr das Leitprinzip einer ökonomischen Optimierung, sondern triebhafter Drang nach Macht der verantwortlichen Manager. Nur so kann das Scheitern vieler Großfusionen erklärt werden. Ein deutliches Beispiel unter vielen war die später gescheiterte Fusion der Automobilfirmen Daimler Benz und Chrysler im Jahre 1998, mit der die verantwortlichen Manager Milliarden von Dollars an Firmen- und Aktionärsvermögen — jedoch nicht an eigenem Ein­kommen — verloren haben.

Dabei spielte kaum die Vernunft, wohl aber die triebhafte Sucht nach Macht und Größe die wichtigste Rolle. Da Geld auch Macht bedeutet, erklärt diese Sucht die unver­nünftig hohen Abgeltungen der heutigen Wirtschaftskapitäne, die in keinem Verhältnis zu ih­rem persönlichen unternehmerischen Ri­siko und Einsazt stehen. Ein ähnlicher, vom Instinkt gesteuerter Ablauf dürfte auch das Fehlverhalten und Scheitern einiger großer Finanzfach­leute erklä­ren, die in ihrem wirtschaftlichen Machtrausch große, ra­tional nicht erklärbare, und fatal­e Fehler machen können.

Die Machtsucht der Siegertypen erzeugt gleichzeitig unweiger­lich Verlierer, die sich gegenüber den Machthabern machtlos und unterbelohnt fühlen. Der Verlierertyp ist nicht in der Lage, die Lust des Sieges zu erreichen, womit sein spontanes Aggressionspotenti­al unterdrückt wird. In diesen Fällen kann die Frustration des un­terdrückten Instinktes beim Verlierer tatsächlich zur Auslösung von irrationalen Aggressionen führen, zum Beispiel Mobbing.

Alle Revolutionen werden von den Verlierertypen mit ihren Mitläufern ausgelöst. Kommen die Verlierer an die Macht, verfal­len al­lerdings die meisten Revolutionäre dem gleichen Rausch der Macht wie die gestürzten Machthaber. So kommt es dazu, daß die neuen Machthaber gefährliche Konkurrenten für ihre Machtaus­übung beseitigen: Die Revolution frißt ihre Kinder.

Nur in Kennt­nis und im Bewußtsein dieser Gefahren des ange­borenen Aggres­sionstriebes und des Prinzips der doppelten Quanti­fizierung hat der Mensch gelernt, mit der konsequenten Durchset­zung des Prin­zips der Machtteilung die Möglichkeit solchen Fehl­verhaltens vor­zubeugen. Obschon die Gefahren der Macht schon lange bekannt sind, wird leider das Prinzip der Machtteilung auch in den offenen Gesellschaften nicht überall konsequent genug durchgesetzt. Wahlen ohne Machtteilung und Regierungen ohne Opposition sind nicht demokra­tisch.

Aggressive Langeweile

Die Neugier ist mit der explorativen Ag­gression nahe verwandt. Je­doch führt die verhaltensbiologische Verwöhnung in unserer Ge­sellschaft zum Beispiel durch das Überangebot an In­formationen zu einem fehlenden Abrufen des Ak­tionspotentials der Neugier, was mit ei­nem Gefühl der Langweile verbunden ist. Dieser Lange­weile wird oft mit bis zur Sucht ansteigendem Konsum von Fernse­hen, Spielkonsolen und Internet be­gegnet.

Inwieweit die Vorbilder der Massenmedien speziell für die Ju­gend direkte Ursache von Ge­walt sein können, wird viel dis­kutiert und ist nicht genau zu erfas­sen; eine eindeutige Antwort auf diese Frage ist schwierig. Sicher ist jedoch, daß Gewalt am Bildschirm als virtuelles Geschehen nicht in der Lage sein kann, reelles, aufge­stautes Aktionspotential abzubauen. Nicht abgerufenes, spon­tanes Aktionspotential kann sich so­mit leicht zu einer Bereitschaft zu sinnloser Gewalt­tätigkeit entwickeln.

In der Gruppe, besonders bei Jugendlichen, kann dies zudem als Mitursache für Erscheinungen der Gewalt in der Gesellschaft füh­ren, auf die noch eingegangen wird. Daß man diese Art der Ge­walt als sinnlos empfindet, heißt nichts anderes, als daß man sie mit der Vernunft nicht erklären kann und sie als instinktives Verhalten ge­deutet werden muß. Als Beispiel einer aggressiven Langeweile kann in diesem Zusammenhang auch das verbrecherische Verhalten bei Sportanlässen oder im Straßenverkehr erwähnt werden.


Fußnote

11. Lorenz, Konrad. Das sogenannte Böse. Wien: Dr. G. Borotha-Scho­eler Ver­lag. Erstausgabe 1963.


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Alexander von Wytten­bach: Die Ver­nunft als Unter­tan des Un­bewuss­ten. Be­trach­tungen, her­aus­gegeben und mit einem Ge­leit­wort ver­sehen von Peter A. Rinck.
135 Seiten; €14,90 [DE]
BoD Norderstedt.
ISBN 978-3-7357-4122-6


Inhalt

Vorstellung

Geleitwort
Vorwort

Aphorismen

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14

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