iner der wichtigsten angeborenen Triebe ist der natürliche Aggressionstrieb. Eine Auseinandersetzung mit diesem Trieb beim Menschen ist naturgemäß ein heikles Unterfangen, da man rasch mit ethischen Fragen konfrontiert wird.
Methodisch ist es sehr schwierig, mit dem Instrument der Forschung einen angeborenen Trieb abschließend zu bewerten. Da die Beweisführung nur auf deduktive Methoden zurückgreifen kann, muß sie umstritten bleiben. Es ist somit naheliegend, daß sich irrationale, kulturelle, teilweise wertende Ansichten in die Diskussion einschleichen, die nicht den Kriterien des kritischen Rationalismus genügen. Zudem kommen bei der menschlichen Aggression neben dem reinen Trieb auch noch andere unbewußte, der rationalen Erfassung entzogene Faktoren zum Tragen. Es ist schwierig, diesen Trieb von den anderen Kräften zu trennen.
Wegen dieser Schwierigkeiten a priori die Existenz eines angeborenen Aggressionstriebes mit seinem instinktiven Zyklus in Frage zu stellen, ist jedoch nicht fundiert. Die Annahme eines solchen angeborenen Triebes beim Menschen — als durch schlüssige Beobachtung erhärtete Arbeitshypothese im Sinne Karl Poppers — hat bis zu seiner Falsifizierung somit ihre Berechtigung.
Als Erklärung für die Aggression führen die Gegner der Triebtheorie die Frustrations-Aggressionstheorie sowie die Lerntheorie an — keine dieser Theorien steht jedoch im Gegensatz zur Triebtheorie oder schließt sie aus. Die Frustration kann sehr wohl als Auslösereiz bei vorhandener instinktiver Spontanbereitschaft zur Aggression führen und dem Gesetz der doppelten Quantifizierung folgen. Dies scheint sich durch die Feststellung zu bestätigen, daß nicht jeder Zustand der Frustration zu aggressiven Handlungen führen muß.
Die Gefahr, die Aggression nur auf diese Theorie zu reduzieren liegt in der ideologischen Illusion, man könne präventiv durch Vermeidung der Frustrationen aggressiven Handlungen zuvorkommen. Ganz abgesehen davon, daß es realistischerweise kaum möglich sein dürfte, alle Menschen vor jeglichen Frustrationsgefühlen zu bewahren, hätte man damit sicher nicht das Aggressionsproblem gelöst. Doch Gefahren einer Unterschätzung der Triebtheorie lauern auch bei der Lerntheorie.
Der Mensch als lernfähiges Lebewesen kann durch Vorbilder von Aggression und Gewalt dazu animiert werden, diese nachzuahmen. Das kann sowohl durch reale menschliche Vorbilder geschehen (in der Familie, in der Schule oder in der Gesellschaft), als auch, leider immer häufiger, durch virtuelle Darstellungen über die modernen Medien wie Kino, Fernsehen und Internet. Gerade seine rationalen Fähigkeiten können den Menschen Mittel liefern, um seine spontanen Aggressionen besonders grausam auszuleben.
Ohne die Bedeutung und Notwendigkeit einer Prävention gegen diese Gefahren abstreiten zu wollen, verkennen diese Theorien die wesentliche Eigenschaft der Triebe und Instinkte, nämlich daß sie spontane Aktionspotentiale aufbauen, die jedes Lebewesen abbauen sollte. Die Beseitigung möglicher Reize allein schafft noch nicht das Aggressionspotential ab. Es gilt hier wiederum festzuhalten, daß die Aggression als angeborener Trieb in der Natur nicht Selbstzweck ist, sondern daß sie in ihrer Urform dem Zweck der Erhaltung der Art dient, einem höheren, übergeordneten, die Vernunft transzendierenden Zweck.
Man kann mit Konrad Lorenz einer Meinung sein, daß es in der Natur nicht das sogenannte Böse gibt. Alles in der Natur hat seinen tieferen Sinn, auch dann, wenn es uns nicht immer leicht fällt, ihn rational zu verstehen und zu erfassen. Man unterscheidet vorerst in der Natur eine extraspezifische und eine intraspezifische Aggression. Von Bedeutung für unser Thema ist nur die intraspezifische oder artspezifische Aggression.
Klarheit in den Begriffen ist auch Klarheit in den Ideen.
Das lateinische Wort aggredi bedeutet an eine Sache herangehen, eine Sache anpacken. Es fällt den meisten Menschen schwer zu verstehen, daß Aggression nicht notgedrungen einen destruktiven Zug haben muß, sondern auch einen rein agonalen (griechisch: agon = Wettstreit; Kampf im Leben) haben kann, der der Natur und dem Menschen dienlich ist.
Eibl-Eibesfeldt verweist darauf, daß dabei durchaus agonale Tugenden wie Mut, Ritterlichkeit und Treue geschätzt werden. Daß man seinen Freund nicht im Stich läßt, beschreibt die Kampfpartnerschaft, auf die sich diese Redewendung bezieht. Und wenn wir uns in Aufgaben verbissen, dann ist das sicher nicht schlecht.
Eibl-Eibesfeldt weist auch darauf hin, daß der Wettstreit in der Natur sehr oft ritualisiert wird, was bedeutet, daß es im artspezifischen Wettstreit zu einem Sieger und einem Verlierer kommen kann, ohne daß letzterer zu Schaden kommen muß, und daß trotzdem das von der Natur angestrebte Ziel, wie die Erstellung einer Rangordnung und der überlebensnotwendigen Organisation der Gruppe, erreicht werden kann.
Ein Beispiel einer ritualisierten agonalen Aggression unter Menschen ist der Wahlkampf in einer Demokratie: Es gibt Sieger und Verlierer, ohne daß die Verlierer physisch zu Schaden kommen.
Es soll an dieser Stelle wiederholt werden, daß der agonale Aggressionstrieb dem eingangs beschriebenen Ablauf von Triebbereitschaft, Appetenzverhalten, Triebhandlung und Endhandlung folgt — mit dem Übergang von einem Unlust- zu einem Lustgefühl.
Viele Kritiker unterstellen der Verhaltensforschung, mit der Triebhaftigkeit der Aggression, Krieg, Folter und jegliche Grausamkeit, zu denen Menschen fähig sind, ethisch zu rechtfertigen. Hierzu gibt es keine Grundlage.
Kritiker der Verhaltensforschung haben sich in die Behauptung verstiegen, Lorenz wolle mit seiner Theorie der natürlichen Aggression die Naziverbrechen rechtfertigen — was jeder Grundlage entbehrt. Denn auch hier gilt, daß der Mensch dank seiner kulturellen Evolution durchaus in der Lage ist, zu lernen und seine Aggressivität zu beherrschen oder zumindest in vernünftige Bahnen zu lenken.
In seinem Buche „Das sogenannte Böse“ schreibt Lorenz [11]:
„Wir haben guten Grund, die intraspezifische Aggression in der gegenwärtigen kulturhistorischen und technologischen Situation der Menschheit für die schwerste aller Gefahren zu halten. Aber wir werden unsere Aussichten, ihr zu begegnen, gewiß nicht dadurch verbessern, daß wir sie als etwas Metaphysisches und Unabwendbares hinnehmen, vielleicht aber dadurch, daß wir die Kette ihrer natürlichen Verursachung verfolgen. Mit anderen Worten müssen wir der Tatsache des natürlichen Aggressionstriebes ins Auge schauen und versuchen seine destruktiven Folgen zu verhindern. Mit der ethisch verbrämten Vogel-Strauß-Einstellung, daß der stammesgeschichtlich angeborene Aggressionstrieb nicht sein darf und unterdrückt werden soll, weil er böse ist, sind die mit ihr verbundenen Probleme nicht zu lösen.“
Bevor wir auf einige spezifische, uns besonders interessierende Formen der Aggression eingehen, die für den Menschen gesellschaftsrelevant sind, soll versucht werden, den Begriff der Aggression etwas genauer zu analysieren.
Wenn man das Wort Aggression im erwähnten etymologischen Sinn des aggredi — an die Sache herangehen, die Sache anpacken — versteht, dann liegt es nahe, diesen Trieb der natürlichen Energie der Urkraft gleichzusetzen, die den Menschen in seiner Evolution nach vorne treibt.
Evolution bedeutet gemäß der Definition Hayeks einen Lernprozeß, der zwischen Instinkt und Vernunft stattfindet. Die destruktive Aggression kann, im moralischen Sinn, als die schädliche Offenbarung einer evolutionären Urkraft verstanden werden, die auch positive Ziele anstreben kann.
Wenn wir nun annehmen, daß die Evolution des Menschen einem angeborenem Aktionspotential, einem stammesgeschichtlich verankerten Trieb zuzuschreiben ist, liegt es nahe, diesem dieselbe Gesetzmäßigkeit wie die anderer instinktiver Zyklen zuzuordnen: spontanes Anwachsen eines Aktionspotentials, Anstrengung, Erreichen des Zieles und von Lust begleitetes Erfolgserlebnis, gefolgt von der Entspannung.
Das Leben des Menschen besteht so aus einer Reihe von Abfolgen des spontanen Energiezyklus, deren spontane energetische Dynamik sich der Vernunft entzieht.
Nach der durch einen Erfolg erreichten Entspannung baut sich spontan ein neues Aktionspotential auf, ein Drang, neue Ziele anzustreben und die Lust des Erfolgserlebnisses zu suchen. Im Menschen sind, mit anderen Worten, angeborene, spontane Energien am Werk, die ihn zu einem aktiven, schöpferischen Wesen machen können.
Wie im Kapitel über die Verwöhnung bereits erwähnt, entsteht hier für den Menschen eine unlösbare Spannung zwischen unbewußten, angeborenem Verhaltensmustern und seiner Vernunft. Die Vernunft strebt nach einem idealen Zustand — des Glücks, des Wohlstandes, der Sicherheit —, ist jedoch dieser Zustand erreicht, stellt sich nach kurzer Zeit unweigerlich und spontan erneut ein Unlustgefühl ein, das ihn wieder antreibt neue Ziele anzustreben.
Zufrieden ist der Mensch nicht, wenn er einen angestrebten Zustand des Glücks erreicht hat, sondern wenn es ihm die Umstände ermöglichen, immer wieder dieses angeborene Verhaltensmuster auszuleben. Wie dies schon Goethe so trefflich ausgedrückt hat: „Streben ist alles, nichts der Ruhm!“
Wie relevant der Konflikt zwischen angeborenem Verhaltensmuster und seiner Vernunft für den einzelnen, aber auch für Gesellschaft und Politik ist, wird uns noch weiter beschäftigen.
Eine in der Natur wichtige Form der Aggression, die eine Notwendigkeit der Arterhaltung darstellt, ist die sogenannte explorative Aggression, wie sie von Eibl-Eibesfeldt beschrieben wurde: Jedes Lebewesen in seiner Entwicklung tastet sich mit kleinen, provokativen „Angriffen“ in seiner Umwelt bis an die Grenzen heran, wo es auf Widerstand stößt Dieses Vorgehen gilt der Erkennung der Grenzen der eigenen Behauptungsmöglichkeiten, ein exploratives Vorgehen, das den Überlebenschancen dient.
Ein Lebewesen, das seine Grenzen nicht kennt, setzt sich unweigerlich Gefahren aus, die sein Leben bedrohen. Die explorative Aggression ist sehr gut bei Kindern zu beobachten, die die Erwachsenen provozieren. Auch das Kind verspürt die Notwendigkeit zu wissen, bis wohin es gehen darf und welche Stellung in der Familiengemeinschaft es einnimmt.
Wenn man die Folgen der antiautoritären Erziehung betrachtet, liegt der enorme Schaden im besonderen darin, daß das Kind das Verhalten der explorativen Aggression in der Familie nicht üben kann und mangels eines Widerstandes seitens der Eltern oder der Erwachsenen nicht in die Lage versetzt wird, seine Grenzen zu erkennen und sich in die Rangordnung eines sozialen Gefüges einzuordnen. Es schwebt ohne Bezugspunkte im luftleeren Raum, es hat keinen festen Boden. Daß dieser Mangel an Übung und Gewohnheit des sich Einordnens und des Erkennens der eigenen Grenzen in der Gesellschaft zu großen Problemen führen muß, liegt auf der Hand.
Gewalt, Vandalismus, Wandsprayereien und Drogen sind ein verzweifelter Versuch der Jugend, endlich Grenzen zu spüren, auf Widerstand zu stoßen Schuldig sind dabei nicht die Jugendlichen, sondern die Erwachsenen.
Da die Erfahrung der eigenen Grenzen bereits in frühester Kindheit gemacht und gelernt werden muß, ist eine spätere Erziehung nur sehr schwer möglich. Nur so erklären sich der geringe erzieherische Erfolg der Strafmaßnahmen gegen straffällige Jugendliche und die hohe Rezidivquote. Der grobe Denkfehler der antiautoritären Ideologen war der, daß sie bei der Aggression nur die Frustrations-Aggressionstheorie und die Lerntheorie und nicht aber die Triebtheorie in Betracht gezogen haben.
Der Trieb der explorativen Aggression — das Erforschen der eigenen Grenzen — dürfte zusammen mit der agonalen Aggression in der Suche des Menschen nach risikoreichen Aktivitäten mit im Spiel sein, wie sie zum Beispiel bei Abenteurern oder Extremsportlern zu beobachten sind.
Nahe verwandt mit der explorativen Aggression ist die Neugier, die Intellectual curiosity, ein spontanes Aktionspotential, das die Lebewesen zu Erforschungen und Entdeckungen antreibt, ein Trieb der auch bei Tieren beobachtet werden kann. Auch diese stammesgeschichtlich, genetisch verankerte Form des Instinktes trägt der Arterhaltung bei. Den Tieren dient er zur Erschließung ihrer Reviere und neuer Nahrungsquellen, beim Menschen äußert er sich im Drang nach Wissen. Da es sich um ein Aktionspotential handelt, muß es abgebaut werden, der Übergang von der Neugier zur Aggression kann somit ein fließender sein.
Die bereits erwähnte agonale Aggression, der artspezifische Wettbewerb, hat in der Natur den primären Zweck, den genetisch betrachtet stärkeren, überlebensfähigeren Individuen einer Population die größeren Chancen der Fortpflanzung einzuräumen. Die agonale Aggression ist ein Beispiel dafür, daß der Aggressionstrieb in der Gesamtwirtschaft der Natur zu einem positiven Zweck eingesetzt wird. Dadurch, daß der Mensch durch die Reflexion imstande ist Spielregeln für sein Handeln festzusetzen, kann er diesen Trieb zu seinem Wohl einsetzen. Der Wettbewerb im Kampf zur Selbstbehauptung kann ihn dazu befähigen, Höchstleistungen zu erbringen.
Nicht nur, aber vor allem im ökonomischen Bereich ist dies bedeutungsvoll. Es ist kaum zu bestreiten, daß der Wettbewerb in der Marktwirtschaft den Menschen ein besseres Dasein ermöglicht hat; er hat ihn nicht nur von der Nahrungsknappheit befreit, sondern ihm auch sonst unendlich viele Güter verfügbar gemacht. Der Wettbewerb ist denn auch nichts anderes als ein aggressives Verhalten im ökonomischen Bereich.
Doch der agonale Aggressionstrieb, der Drang den anderen zu übertreffen, war auch immer die Kraft der geistigen und künstlerischen Schöpfung.
Wenn dieses aggressive Verhalten, dieses aggredi, die ethischen Spielregeln der Freiheit einhält, Regeln die besagen, wie Karl Popper dies ausdrückte, daß die Bewegungsfreiheit der eigenen Faust bei der Nase des Nächsten aufhört, dann ist der agonale Aggressionstrieb segensreich und der Motor des Fortschritts.
Freilich kann die Marktwirtschaft nur dann funktionieren, wenn die Vernunft Gesetze erfindet, damit alle Kontrahenten gleiche Waffen besitzen und verhindert, daß der Stärkere den Wettbewerb fälschen kann. Der ökonomische Wettbewerb wird nur dann ethisch fragwürdig und gibt zu berechtigter Kritik Anlaß, wenn diese Regeln nicht gegeben sind oder wenn sie nicht respektiert werden.
Gerade hier liegt der Schwachpunkt der Demokratie: In jeder Demokratie können sich Interessengruppen zu Machtfaktoren heranbilden, die den Wettbewerb ausschalten können.
Die gleiche Gefahr liegt in der Möglichkeit, daß einzelne Individuen oder Interessengruppen aus eigenem Interesse mit ihrer Macht oder mit Korruption die vorgesehenen Überwachungsmechanismen zur Einhaltung der Gesetze behindern. Diese Mißbräuche als Fehlleistung des demokratischen Systems im Umgang mit dem menschlichen Aggressionstrieb machen sich ihre Kritiker zunutze, um die Demokratie abschaffen zu wollen.
Sie übersehen dabei, daß die moralisch anfällige, agonale Aggression des Wettbewerbes durch die noch fragwürdigere, zur absoluten Macht entartete Aggression der Diktatoren ersetzt würde. Ohne sich übermäßige Illusionen darüber machen zu können, daß die negativen Seiten des agonalen Aggressionstriebes völlig neutralisiert werden könnten, führt der Weg zu einer Verbesserung des Schicksals der Menschheit nicht über eine hilflose moralische Verurteilung des Wettbewerbs und den Versuch, den Trieb zu überwinden, sondern, im Sinne von Konrad Lorenz, über einen vernünftigen Umgang mit ihr.
Die agonale Aggression birgt auch weitere große Gefahren für den Menschen. Jedes Tier besitzt im Wettstreit mit seinesgleichen zur Arterhaltung nur die von der Natur vorgesehen Kräfte und Kampfmittel, und diese sind so bemessen, daß sie das natürliche Gleichgewicht in der Natur wahren. Kognitive Fähigkeiten haben es dem Menschen erlaubt, Werkzeuge zu schaffen, die ein destruktives Potential bergen, das weit über das von der Natur vorgesehene geht und das natürliche Gleichgewicht bedrohen kann.
Die Umweltzerstörung durch wirtschaftlichen Wettbewerb und überhöhte Ansprüche an Wohlstand sind ein Beispiel dafür — oder zum Beispiel auch die technischen Kampfmittel, die im kriegerischen Kampf angewendet werden können.
Um die Arterhaltung zu sichern, leben viele Tierarten in Gruppen, wie Rudeln, Herden oder Schwärmen. Dies dient der Verteidigung gegenüber Feinden und Konkurrenten oder des nötigen Lebensraums in der Form des Reviers. Damit diese Funktion zur Arterhaltung gewährleistet werden kann, braucht die Gruppe eine innere Ordnung mit einem starken Leittier, das mittels der agonalen Aggression ermittelt wird.
Dieses System trifft auch für den Menschen zu: Der Ursprung der menschlichen Gesellschaft waren die Familie und der Stamm. Wie der Stamm kann die menschliche Gesellschaft nicht ohne Ordnung auskommen. Sie beruht auf einer Machtverteilung, dem „Sieg“ des Stärkeren über den Schwächeren.
Doch ohne Regeln des Zusammenlebens, wie sie der demokratische Rechtsstaat garantiert und die von allen akzeptiert werden, bieten die kognitiv-reflektiven Fähigkeiten einigen Menschen Siegesmöglichkeiten, die jenseits der natürlichen Notwendigkeit einer Ordnung liegen. Machtmenschen (sogenannte „Siegertypen“) neigen dazu, die Lust des Sieges und der Macht immer neu suchen. Bei steigender Machtposition in der Politik oder in der Wirtschaft sind diese Menschen in der Lage, den Sieg als Lust mit immer weniger Anstrengung zu erreichen; die Werkzeuginstinkte der Aggression werden dadurch ungenügend abgebaut, und das Lustgefühl des Erfolges kann zur Sucht werden, die sie abhängig macht.
Dieses durch die Gesetze des instinktiven Zyklus programmierte Verhalten mit dem Mechanismus der doppelten Quantifizierung kann Verhaltensmuster erklären, die mit der reinen Vernunft nicht erklärbar sind — zum Beispiel, daß in der Politik absolute Machthaber und Diktatoren nicht davon lassen können, ihre Macht jenseits jeder Notwendigkeit mit immer grausamer werdenden Methoden bis zum eigenen Untergang und Tod ad absurdum auszubauen versuchen. Ziel des Handelns ist dann nicht mehr die Macht zum Regieren, sondern der Machterhalt an sich. Mit der Vernunft ist auch die Gewohnheit korrupter Machthaber nicht zu erklären, die Milliarden auf ausländischen Konten horten, die sie zum eigenen Gebrauch gar nicht benötigen. Geld wird dabei nur zu einem weiteren Symbol der Macht.
Das gleiche Verhaltensmuster ist in der westlichen kapitalistischen Marktwirtschaft zu beobachten. Die Triebfeder für die Bildung immer größerer wirtschaftlicher Konzerne ist dabei oft nicht mehr das Leitprinzip einer ökonomischen Optimierung, sondern triebhafter Drang nach Macht der verantwortlichen Manager. Nur so kann das Scheitern vieler Großfusionen erklärt werden. Ein deutliches Beispiel unter vielen war die später gescheiterte Fusion der Automobilfirmen Daimler Benz und Chrysler im Jahre 1998, mit der die verantwortlichen Manager Milliarden von Dollars an Firmen- und Aktionärsvermögen — jedoch nicht an eigenem Einkommen — verloren haben.
Dabei spielte kaum die Vernunft, wohl aber die triebhafte Sucht nach Macht und Größe die wichtigste Rolle. Da Geld auch Macht bedeutet, erklärt diese Sucht die unvernünftig hohen Abgeltungen der heutigen Wirtschaftskapitäne, die in keinem Verhältnis zu ihrem persönlichen unternehmerischen Risiko und Einsazt stehen. Ein ähnlicher, vom Instinkt gesteuerter Ablauf dürfte auch das Fehlverhalten und Scheitern einiger großer Finanzfachleute erklären, die in ihrem wirtschaftlichen Machtrausch große, rational nicht erklärbare, und fatale Fehler machen können.
Die Machtsucht der Siegertypen erzeugt gleichzeitig unweigerlich Verlierer, die sich gegenüber den Machthabern machtlos und unterbelohnt fühlen. Der Verlierertyp ist nicht in der Lage, die Lust des Sieges zu erreichen, womit sein spontanes Aggressionspotential unterdrückt wird. In diesen Fällen kann die Frustration des unterdrückten Instinktes beim Verlierer tatsächlich zur Auslösung von irrationalen Aggressionen führen, zum Beispiel Mobbing.
Alle Revolutionen werden von den Verlierertypen mit ihren Mitläufern ausgelöst. Kommen die Verlierer an die Macht, verfallen allerdings die meisten Revolutionäre dem gleichen Rausch der Macht wie die gestürzten Machthaber. So kommt es dazu, daß die neuen Machthaber gefährliche Konkurrenten für ihre Machtausübung beseitigen: Die Revolution frißt ihre Kinder.
Nur in Kenntnis und im Bewußtsein dieser Gefahren des angeborenen Aggressionstriebes und des Prinzips der doppelten Quantifizierung hat der Mensch gelernt, mit der konsequenten Durchsetzung des Prinzips der Machtteilung die Möglichkeit solchen Fehlverhaltens vorzubeugen. Obschon die Gefahren der Macht schon lange bekannt sind, wird leider das Prinzip der Machtteilung auch in den offenen Gesellschaften nicht überall konsequent genug durchgesetzt. Wahlen ohne Machtteilung und Regierungen ohne Opposition sind nicht demokratisch.
Die Neugier ist mit der explorativen Aggression nahe verwandt. Jedoch führt die verhaltensbiologische Verwöhnung in unserer Gesellschaft zum Beispiel durch das Überangebot an Informationen zu einem fehlenden Abrufen des Aktionspotentials der Neugier, was mit einem Gefühl der Langweile verbunden ist. Dieser Langeweile wird oft mit bis zur Sucht ansteigendem Konsum von Fernsehen, Spielkonsolen und Internet begegnet.
Inwieweit die Vorbilder der Massenmedien speziell für die Jugend direkte Ursache von Gewalt sein können, wird viel diskutiert und ist nicht genau zu erfassen; eine eindeutige Antwort auf diese Frage ist schwierig. Sicher ist jedoch, daß Gewalt am Bildschirm als virtuelles Geschehen nicht in der Lage sein kann, reelles, aufgestautes Aktionspotential abzubauen. Nicht abgerufenes, spontanes Aktionspotential kann sich somit leicht zu einer Bereitschaft zu sinnloser Gewalttätigkeit entwickeln.
In der Gruppe, besonders bei Jugendlichen, kann dies zudem als Mitursache für Erscheinungen der Gewalt in der Gesellschaft führen, auf die noch eingegangen wird. Daß man diese Art der Gewalt als sinnlos empfindet, heißt nichts anderes, als daß man sie mit der Vernunft nicht erklären kann und sie als instinktives Verhalten gedeutet werden muß. Als Beispiel einer aggressiven Langeweile kann in diesem Zusammenhang auch das verbrecherische Verhalten bei Sportanlässen oder im Straßenverkehr erwähnt werden.
11. Lorenz, Konrad. Das sogenannte Böse. Wien: Dr. G. Borotha-Schoeler Verlag. Erstausgabe 1963.
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Alexander von Wyttenbach: Die Vernunft als Untertan des Unbewussten.
Betrachtungen, herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Peter A. Rinck.
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